Читать книгу Ägypten - Juergen Stryjak - Страница 6

Der Nil Die wichtigste Konstante Ägyptens

Оглавление

Ägypten sei ein Geschenk des Nils, so hat es der antike griechische Geschichtsschreiber Herodot formuliert. Der Nil ist tatsächlich die ewige Konstante Ägyptens, an der sich alles andere messen lassen muss. Die allermeisten Ägypter verbringen ihr gesamtes Leben mehr oder weniger in seiner Nähe, und sie haben das verinnerlicht, was vor fast zweieinhalb Jahrtausenden auch schon Herodot aufgefallen war. Im Großstadtmoloch Kairo ist der Nil einer der wenigen Orte, an dem fast alle Ägypter, die ich kenne, ein Gefühl von Ruhe und Frieden verspüren. Wo der breite Strom die dicht bebaute Riesenstadt in ihrer Mitte durchschneidet, da kann man endlich den Blick auch mal in die Ferne schweifen lassen. Junge ägyptische Start-up-Unternehmer haben dieses Sehnsuchtspotenzial und den »Chillfaktor« erkannt und schufen das Nile Taxi. Die zitronengelben Motorboote fahren an der frischen Luft und ohne Staugefahr auf festen Strecken in der Stadt hoch und runter.

Ohne den Nil gäbe es Ägypten in dieser Form nicht. Ohne ihn bestünde die gesamte Landesfläche fast ausnahmslos aus unbarmherziger, lebensfeindlicher Wüste. Auch mit dem Nil sind es zwar immer noch rund 95 Prozent Wüste, aber die restlichen fünf Prozent hat der Nil an seinen Ufern zu Gärten und fruchtbaren Feldern gemacht. Deshalb ist der Fluss eine Art ägyptisches Nationalheiligtum. Wer sich ihm unziemlich nähert, begeht eine unverzeihliche Sünde. Zuletzt musste dies die beliebte ägyptische Sängerin Sherine erfahren. Bei einem Konzert 2017 im Golfstaat Bahrain machte sich der Popstar über die Redensart lustig: »Wer einmal vom Nil getrunken hat, kommt immer wieder hierher zurück.« Ein Fan hatte darum gebeten, dass sie ihr Lied »Hast du nicht aus dem Nil getrunken?« singt, das die Redensart aufgreift. Spöttisch antwortete die Sängerin: »Wenn ich aus dem Nil trinke, bekomme ich Bilharziose.« Also eine in Ägypten verbreitete Wurmkrankheit. »Trink lieber Evian!«, rief Sherine dem Mann noch zu. Bei so manchem patriotischen Ägypter löste das Empörung aus, es verletzte seinen Nationalstolz. Ein Gericht verurteilte daraufhin die Sängerin zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet rund 300 Euro. In der Revision wurde das Urteil aufgehoben. Der Berufsverband der Musiker verhängte allerdings eine zweimonatige Auftrittssperre für Sherine in Ägypten.

Gelegentlich habe ich die Behauptung gelesen, dass der Nil der Grund dafür sei, dass Ägypter das Leben oft mit einem erstaunlichen Gleichmut hinnehmen und dass sie so entspannt und gelassen sind. Diese Gelassenheit und auch der Humor vieler Leute sind etwas, das mich selbst nach 20 Jahren im Land immer noch erstaunt – vor allem angesichts der Lebensbedingungen, die viele Ägypter ertragen müssen. Das soll darin begründet sein, dass der Nil über Jahrtausende das Leben der Ägypter geprägt hat, und zwar mit einer Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, die für die Menschen nur göttlichen Ursprungs gewesen sein konnte. Der breite majestätische Strom stellte nicht nur fast immer ausreichend Wasser bereit. Jedes Jahr im Sommer sorgte er auch für einen ganz besonderen Segen. Jährlich ab Juni stieg bei Assuan der Pegel des Flusses, weil es zuvor im äthiopischen Hochland stark geregnet hatte. Innerhalb von zwei Wochen hatte das Hochwasser erst Kairo, dann das Nildelta erreicht. Der Höhepunkt der Flut war zwischen August und Ende September, danach ging der Pegel innerhalb weniger Wochen wieder auf den normalen Stand zurück. Die überfluteten Flächen waren vom Hochwasser ausgewaschen worden und versalzten deshalb nicht. Zurück blieb fruchtbarer Schlamm als Dünger, um den sich niemand kümmern musste. Komfortabler geht es kaum.

Das dies die Mentalität von Menschen prägte, erscheint mir plausibel. Es kann eigentlich gar nicht anders sein, als dass diese immerwährende und fast in jedem Jahr pünktlich wiederkehrende Erfahrung ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist und zu dem Wunsch führte, dass alles so bleibt, wie es ist. Denn dann ist es in bester Ordnung. Den Göttern sei Dank beziehungsweise Gott sei Dank! Nun weiß ich nicht, wie lange es dauert, bis eine wiederkehrende Erfahrung die Mentalität eines Volkes prägen kann. Aber es ist eine schöne Geschichte.

Und die wiederkehrenden Nilfluten sind tatsächlich nur noch Geschichte. Den Ägyptern von heute ist längst klar, dass der Nil eine sensible und gefährdete Ressource ist. Es begann damit, dass bei Assuan erst Staumauern errichtet wurden, dann ein kleiner Staudamm und schließlich in den 1960er Jahren der große Assuan-Staudamm. Der Bau des wichtigen Prestigeobjekts begann während der Herrschaft des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Der Damm wurde mehrmals erweitert und hat respektable Ausmaße erreicht: knapp einen Kilometer breit, vier Kilometer lang und 111 Meter hoch. Anscheinend wurde hier 17-mal so viel Stein verbaut wie für die Pyramiden von Giza – der Vergleich zeigt, in welche Liga unter den Bauwerken der Damm für viele Ägypter gehört. Vor ihm erstreckt sich der gigantische Nasser-See. An diesem See ließ das ägyptische Regime im Rahmen des Toshka-Projekts ein riesiges Pumpwerk bauen, es soll das größte der Welt sein. Benannt wurde es nach dem durch die Revolution von 2011 gestürzten Präsidenten Mubarak. Es soll das Nilwasser aus dem Stausee in einen langen Kanal pumpen, über den dann eine große Fläche Land in der Wüste urbar gemacht werden soll.

Seit der Errichtung des Assuan-Staudammes erreicht die Nilschwemme Ägypten nicht mehr. Es ist nun zwar sicherer vor Überschwemmungen und Dürren und die Felder können bis zu drei Mal jährlich bestellt werden, aber die Böden versalzen, und weil sich der Nilschlamm im Stausee sammelt, sind die Bauern auf teure chemische Düngemittel angewiesen. Der Eingriff in den Lauf des Nils ist deshalb an sich schon eine heikle Angelegenheit, aber noch riskanter könnte die Tatsache sein, dass mit dem Nil praktisch fast das gesamte Trink- und Nutzwasser Ägyptens aus dem Ausland kommt. Der längste Fluss der Erde erreicht Ägypten als letztes, nachdem er zuvor durch neun andere Länder Afrikas geflossen ist – kein anderer Fluss der Welt ist so wichtig für so viele Menschen. Ägyptens Gedeih und Verderb sind also von dem abhängig, was zuvor in diesen neun Ländern mit dem Nilwasser geschieht. Bereits 1985 hatte Boutros Boutros-Ghali, der ehemalige UN-Generalsekretär, damals Außenminister Ägyptens, erklärt: »Der nächste Krieg in der Region wird um Nilwasser geführt werden.«

1929 hatten Ägypten und Großbritannien, das damals seine ostafrikanischen Kolonien Kenia, Uganda, das jetzige Tansania sowie den Sudan vertrat, ein Dokument unterzeichnet, das jegliche Maßnahmen untersagt, die die Menge des Nilwassers, die bis nach Ägypten gelangt, reduzieren würden. In einem Vertrag von 1959 wird Ägypten die Entnahme von jährlich 55 Milliarden Kubikmetern der schätzungsweise insgesamt 83 Milliarden Kubikmeter Nilwasser zugesprochen.

Das ist eine stattliche Menge, aber die Bevölkerung Ägyptens wächst schnell, das Land braucht immer größere Mengen Wasser. Dabei spielt der Trinkwasserbedarf nur eine geringe Rolle. Das meiste Wasser des Nils wird in Ägypten als Nutzwasser auf Feldern und in der Industrie gebraucht. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten kam es bereits zu Wasserkrisen im Land. Tausende Menschen protestierten gegen Wasserknappheit, im Nildelta zum Beispiel. Sie blockierten Fernverkehrsstraßen und Autobahnen. Das Fernsehen zeigte Bilder von Bäuerinnen eines Dorfes, die schwere Wasserkanister kilometerweit trugen, und sprach von der »Revolution der Durstigen«. Es waren Bilder, wie sie die Welt vor allem aus schwarzafrikanischen Dürregebieten kennt. Dutzende Menschen wurden gezeigt, wie sie sich an einer dreckigen Wasserlache bückten und ihre Kanister füllten.

Vermutlich müsste es solche Szenen derzeit noch nicht geben. Das Problem sei im Moment eher Missmanagement, zum Beispiel bei der Bewässerung der Felder, als Wassermangel, behaupten Experten. Aber das wird sich schnell ändern. Der Klimawandel verursacht noch größere Trockenheit im Land. Gleichzeitig muss der Fluss immer mehr Menschen versorgen. Angesichts des Bevölkerungswachstums, so prognostizieren Fachleute, bräuchte Ägypten Mitte des Jahrhunderts eigentlich einen zweiten Nil. Doch den wird es nicht geben.

Das größte Kopfzerbrechen bereitet den Ägyptern allerdings derzeit Äthiopien, das den Oberlauf des Blauen Nils und damit die Quelle von bis zu 85 Prozent des ägyptischen Nilwassers kontrolliert. Vor neun Jahren hat man dort mit dem Bau des so genannten Renaissance-Staudamms begonnen, für die Äthiopier ein Jahrhundertprojekt. Ende 2020 soll die Stromerzeugung beginnen. Solange sich in Äthiopien das Staubecken füllt, so lange kommt weniger Wasser in Ägypten an, wo man verheerende Folgen befürchtet: ausgetrocknete Felder, eine gefährdete Trinkwasserversorgung, Salzwasser, das aus dem Mittelmeer ins Nildelta eindringt. Während der Arbeit an diesem Buch sind die zähen Verhandlungen – begleitet von gegenseitigen Kriegsandrohungen – zwischen beiden Ländern ins Stocken geraten. Die Unterzeichnung einer von den USA vermittelten Einigung wurde verschoben. Sie sieht unter anderem vor, dass der Stausee nur dann gefüllt wird, wenn in Äthiopien Regenzeit herrscht.

Dabei hat Ägypten schon genug damit zu tun, sich auf ein anderes von Menschen gemachtes Problem einzustellen: auf die Folgen des Klimawandels. Durch den Klimawandel könnte der Nil bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 75 Prozent weniger Wasser führen. Das hängt auch stark mit den Klimaveränderungen in den Quellregionen des Nils zusammen. Doch die größte Gefahr droht der Region des Nildeltas. In der Mittelmeerstadt Alexandria wurden bereits erste Betonwälle zum Schutz vor dem steigenden Meeresspiegel errichtet. Eine Studie prognostiziert, dass im Nildelta bis 2050 eine Fläche unter Wasser stehen könnte, die der von Hamburg entspricht. Bis zum Ende des Jahrhunderts steht womöglich ein Gebiet von der Größe des Saarlands unter Wasser. 5,7 Millionen Ägypter wären davon betroffen, unter anderem in Gebieten um Alexandria. Hinzu kommt, dass durch den Assuan-Staudamm viel weniger Sedimente über den Nil ins Delta gelangen, was die Küste noch anfälliger für Erosion macht.

Die Regierung ist sich der Gefahren durchaus bewusst. Das Wasserministerium Ägyptens erklärte, dass die nationalen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel mindestens zehn Milliarden Euro kosten könnten. Doch das wird kaum reichen. Für den Energiesektor hat Ägypten einige ambitionierte Umweltprojekte angekündigt oder bereits umgesetzt. Bei Assuan ging Ende 2019 eines der größten Solarkraftwerke der Welt in Betrieb. Bis 2035 sollen 42 Prozent des elektrischen Stroms aus erneuerbaren Energien stammen. In Alexandria will man demnächst Elektrobusse im Stadtverkehr einsetzen. In Kooperation mit einem chinesischen Hersteller sollen in Ägypten Elektroautos für den heimischen Markt produziert werden. Doch für Investitionen dieser Art könnte zukünftig das Geld fehlen, wenn das Land eine Wasserkrise von nahezu biblischem Ausmaß bewältigen muss.

Ägypten

Подняться наверх