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Zweites Kapitel – Die Wirkung einer kakophonischen Sonate

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Im Fins­tern und zu Fuß auf un­be­kann­ter Stra­ße hin­zu­zie­hen, oben­drein in­mit­ten ei­ner fast öden Ge­gend, wo Übel­tä­ter im All­ge­mei­nen we­ni­ger sel­ten sind als Rei­sen­de, hat im­mer et­was Beun­ru­hi­gen­des an sich. In die­ser Lage be­fand sich nun un­ser Quar­tett. Fran­zo­sen sind ja am Ende mu­tig, und die hier sind es in be­son­de­rem Maße. Doch zwi­schen dem Mute und der Furcht­sam­keit ver­läuft noch eine Schei­de­li­nie, die von der ge­sun­den Ver­nunft nicht über­se­hen wer­den darf. Wäre die Ei­sen­bahn nicht durch eine von plötz­li­chem Hoch­was­ser über­flu­te­te Ge­gend ver­lau­fen und wäre die Kut­sche fünf Mei­len vor Fre­schal nicht um­ge­stürzt, so hät­te sich un­se­re klei­ne Künst­ler­schar nicht in die Zwangs­la­ge ver­setzt ge­se­hen, des Nachts auf die­ser ver­däch­ti­gen Stra­ße hin­zu­wan­dern. Hof­fen wir in­des, dass ih­nen da­bei kein Un­heil zu­stößt.

Es ist etwa um acht Uhr, als Sé­bas­ti­en Zorn und sei­ne Ka­me­ra­den, den Wei­sun­gen des Wa­gen­füh­rers ent­spre­chend, die Rich­tung nach der Küs­te zu ein­schla­gen. Da die Vio­li­nen nur in leich­ten, we­nig um­fäng­li­chen Le­de­re­tu­is ste­cken, ha­ben die Gei­ger kei­ne be­son­de­re Ur­sa­che, sich zu be­kla­gen. Sie tun das auch nicht, we­der der wei­se Fras­co­lin, noch der lus­ti­ge Pin­chi­nat oder der idea­lis­tisch an­ge­hauch­te Yver­nes. Der Vio­lon­cel­list aber mit sei­nem um­fäng­li­chen In­stru­men­ten­kas­ten, der hat et­was wie einen Schrank auf dem Rücken. Bei sei­nem uns be­kann­ten Cha­rak­ter ist es nicht zu ver­wun­dern, dass er dar­über weid­lich wet­tert und schimpft. Da­ne­ben ächzt und stöhnt der Mann, was sich un­ter der ono­ma­to­poe­ti­schen Form von Ahs! Ohs! und Uffs! hör­bar macht.

Schon herrscht eine tie­fe Fins­ter­nis. Di­cke Wol­ken ja­gen über das Him­mels­ge­wöl­be, die manch­mal da und dort et­was zer­rei­ßen und dann eine spöt­ti­sche Mond­si­chel kaum im ers­ten Vier­tel hin­durch­schei­nen las­sen. Man weiß nicht, warum – wenn nicht des­we­gen, weil er ein­mal in bis­si­ger, reiz­ba­rer Stim­mung ist – die blon­de Phö­be nicht das Glück hat, un­se­rem Sé­bas­ti­en Zorn zu ge­fal­len. Er streckt ihr aber die ge­ball­te Faust ent­ge­gen und ruft:

»Na, was hast denn du mit dei­nem ein­fäl­ti­gen Ge­sich­te vor?… Nein, wirk­lich, ich ken­ne nichts Al­ber­ne­res, als die­se Schnit­te ei­ner un­rei­fen Me­lo­ne, die da oben hin­spa­ziert!«

»Es wäre frei­lich bes­ser, wenn der Mond uns das vol­le Ge­sicht zu­kehr­te«, mein­te Fras­co­lin.

»Und warum das?« frag­te Pin­chi­nat.

»Weil wir da bes­ser se­hen könn­ten.«

»O, du keu­sche Dia­na, du fried­li­che Nacht­wand­le­rin, du blei­cher Sa­tel­lit der Erde, o du an­ge­be­te­tes Ide­al des an­be­tungs­wür­di­gen En­dy­mi­on1 …«

»Bist du fer­tig mit dei­ner Ver­him­me­lung?« ruft der Vio­lon­cel­list. »Wenn die­se ers­ten Gei­gen erst an­fan­gen, weit auf der Quin­te her­un­ter­zu­rut­schen …«

»Et­was schnel­ler vor­wärts«, fiel Fras­co­lin ein, »sonst ha­ben wir das Ver­gnü­gen, noch un­ter frei­em Him­mel zu über­nach­ten …«

»Wenn frei­er Him­mel wäre … und dazu noch un­ser Kon­zert in San Die­go zu ver­säu­men!« be­merkt Pin­chi­nat.

»Wahr­haf­tig, ein hüb­scher Ge­dan­ke!« ruft Sé­bas­ti­en Zorn, der sei­nen Kas­ten schüt­telt, dass er einen kläg­li­chen Ton von sich gibt.

»Doch die­ser Ge­dan­ke, mein al­ter Ka­me­rad«, sagt Pin­chi­nat, »rührt ur­sprüng­lich von dir her …«

»Von mir …?«

»Ge­wiss! Wa­rum sind wir nicht in San Fran­zis­ko ge­blie­ben, wo wir Ge­le­gen­heit hat­ten, eine gan­ze Samm­lung ka­li­for­ni­scher Ohren zu er­göt­zen!«

»Nun«, fragt der Vio­lon­cel­list, »warum sind wir dann fort­ge­gan­gen?«

»Weil du es so woll­test.«

»Dann muss ich ge­ste­hen, eine be­kla­gens­wer­te Ein­ge­bung ge­habt zu ha­ben, und wenn …«

»Ah, seht ein­mal da!« fällt Yver­nes ein, der mit der Hand nach ei­nem be­stimm­ten Punk­te des Him­mels weist, wo ein dün­ner Mond­strahl die Rän­der ei­ner Wol­ke mit weiß­li­cher Ein­fas­sung säumt.

»Was gibt es denn, Yver­nes?«

»Zeigt jene Wol­ke nicht ganz die Ge­stalt ei­nes Dra­chens mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln und ei­nem Pfau­en­schwan­ze mit hun­dert Ar­gus­au­gen dar­auf?«

Je­den­falls ist Sé­bas­ti­en Zorn nicht mit der Fä­hig­keit, hun­dert­fäl­tig zu se­hen, aus­ge­rüs­tet, die den Hü­ter der Toch­ter des Inachos aus­zeich­ne­te, denn er be­merkt nicht ein tief aus­ge­fah­re­nes Glei­se, worin er un­glück­li­cher­wei­se mit dem Fuße hän­gen­bleibt. Da­durch fällt er platt auf den Leib, so­dass er mit sei­nem Kas­ten auf dem Rücken ei­ner großen Co­leo­pte­re gleicht, die auf der Erde hin­krö­che.

Na­tür­lich kommt der In­stru­men­ta­list wie­der in Wut – er hat ja auch alle Ur­sa­che dazu – und schimpft auf die ers­te Vio­li­ne we­gen de­ren Be­wun­de­rung ih­res in der Luft schwe­ben­den Un­ge­heu­ers.

»Da ist nur der Yver­nes dran schuld!« fährt Sé­bas­ti­en Zorn auf. »Hät­te ich nicht nach sei­nem ver­wünsch­ten Dra­chen ge­se­hen …«

»Es ist gar kein Dra­che mehr, lie­be Freun­de, son­dern jetzt nur noch eine Am­pho­ra! Mit ei­ni­ger­ma­ßen ent­wi­ckel­ter Fan­ta­sie be­merkt man sie in der Hand der Nek­tar ein­schen­ken­den Hebe …«

»Doch den­ken wir dar­an, dass in je­nem Nek­tar ver­teu­felt viel Was­ser ist«, ruft Pin­chi­nat, »und hü­ten wir uns, dass dei­ne rei­zen­de Göt­tin der Ju­gend nicht ein Sturz­bad über uns aus­gießt!«

Das hät­te die Lage der Wan­de­rer frei­lich noch ver­schlim­mert, und tat­säch­lich fängt das Wet­ter an, mit Re­gen zu dro­hen. Die Vor­sicht treibt also zur Eile, um in Fre­schal recht­zei­tig Schutz zu fin­den.

Man hebt den zorn­schnau­ben­den Vio­lon­cel­lis­ten auf und stellt den Brumm­bär wie­der auf die Füße. Der freund­li­che Fras­co­lin er­bie­tet sich, ihm sei­nen Kas­ten ab­zu­neh­men. Sé­bas­ti­en Zorn will das zu­erst nicht zu­ge­ben … er, sich von sei­nem In­stru­men­te tren­nen … ei­nem Vio­lon­cell von Gaud und Ber­nar­del … das heißt ja, von ei­ner Hälf­te sei­nes Selbst … Er muss sich aber fü­gen, und so­mit geht die­se kost­ba­re Hälf­te auf den Rücken des dienst­wil­li­gen Fras­co­lin über, der da­für sein leich­tes Etui ge­nann­tem Zorn an­ver­traut. Nun geht es wei­ter und ra­schen Schrit­tes zwei Mei­len vor­wärts, ohne dass sich et­was Be­son­de­res er­eig­net. Die mit Re­gen dro­hen­de Nacht wird im­mer fins­te­rer. Schon fal­len ei­ni­ge große Trop­fen, der Be­weis, dass sie aus hoch­zie­hen­den, ge­wit­ter­haf­ten Wol­ken stam­men. Die Am­pho­ra der hüb­schen Hebe un­se­res Yver­nes ent­leert sich je­doch nicht wei­ter, und die vier Nacht­wand­ler dür­fen hof­fen, Fre­schal im Zu­stan­de voll­stän­di­ger Tro­cken­heit zu er­rei­chen.

Im­mer­hin be­darf es noch pein­lichs­ter Auf­merk­sam­keit, um auf die­ser fins­te­ren Stra­ße nicht zu Fall zu kom­men, denn ab­ge­se­hen von den tie­fen Wa­gen­spu­ren ver­läuft sie oft in schar­fen Krüm­mun­gen um vor­sprin­gen­de Fels­mas­sen oder führt ne­ben düs­te­ren Schluch­ten hin, aus de­nen der Trom­pe­ten­ton der Berg­ge­wäs­ser her­auf­schallt. Wenn Yver­nes das bei sei­ner Sin­nes­ver­an­la­gung poe­tisch fin­det, so nennt es Fras­co­lin bei der sei­ni­gen min­des­tens be­un­ru­hi­gend.

Da­ne­ben wa­ren noch un­lieb­sa­me Be­geg­nun­gen zu fürch­ten, die die Si­cher­heit al­ler Rei­sen­den auf den Land­stra­ßen Nie­der­ka­li­for­ni­ens sehr zwei­fel­haft ma­chen. Das Quar­tett be­saß an Waf­fen aber nur die drei Vio­lin- und den einen Vio­lon­cell­bo­gen, die in ei­nem Lan­de, wo der Col­t’­sche Re­vol­ver er­fun­den und da­mals noch er­heb­lich ver­bes­sert wor­den war, doch als et­was un­zu­rei­chend er­schei­nen dürf­ten. Wä­ren Sé­bas­ti­en Zorn und sei­ne Ka­me­ra­den Ame­ri­ka­ner ge­we­sen, so wür­den sie sich je­den­falls mit die­ser hand­li­chen Schutz­waf­fe ver­se­hen ha­ben, die man dort­zu­lan­de im­mer in ei­ner be­son­de­ren klei­nen Ho­sen­ta­sche bei sich trägt. Um auch nur auf der Bahn von San Fran­zis­ko nach San Die­go zu fah­ren, wür­de sich kein wasch­ech­ter Yan­kee ohne die­sen sechs­schüs­si­gen Beglei­ter auf die Rei­se be­ge­ben ha­ben. Un­se­re Fran­zo­sen hat­ten das frei­lich nicht für nö­tig er­ach­tet. Fü­gen wir hin­zu, dass sie dar­an gar nicht ge­dacht und es doch viel­leicht zu be­reu­en ha­ben dürf­ten.

Pin­chi­nat mar­schiert an der Spit­ze und be­hält die Bö­schun­gen der Stra­ße scharf im Auge. Wo die­se von rechts und links her sehr ein­ge­engt er­scheint, ist ein un­er­war­te­ter Über­fall we­ni­ger zu fürch­ten. Als Bru­der Lus­tig wan­delt ihn im­mer ein­mal das Ver­lan­gen an, sei­nen Ka­me­ra­den »einen ge­lin­den Schre­cken ein­zu­ja­gen«, z.B. da­durch, dass er plötz­lich ste­hen­bleibt und mit vor Schreck be­ben­der Stim­me mur­melt:

»Halt! … Da un­ten … was seh ich da?… Hal­ten wir uns fer­tig, Feu­er zu ge­ben!«

Wenn der Weg sich aber durch einen dich­ten Wald hin­zieht, in­mit­ten der Mam­mut­bäu­me, der hun­dert­fünf­zig Fuß ho­hen Se­quo­i­as, je­ner Pflan­zen­rie­sen des ka­li­for­ni­schen Lan­des … dann ver­geht ihm selbst die Lust zum Scher­zen. Hin­ter je­dem die­ser un­ge­heu­ren Stäm­me kön­nen sich be­quem zehn Mann ver­ber­gen. Soll­ten sie hier nicht das Auf­blit­zen ei­nes hel­len Schei­nes, dem ein trock­ner Knall folgt, zu se­hen, nicht das schnel­le Pfei­fen ei­ner Ku­gel zu hö­ren be­kom­men? An sol­chen, für einen nächt­li­chen Über­fall wie ge­schaf­fe­nen Stel­len heißt es die Au­gen of­fen hal­ten. Und wenn man zum Glück nicht mit Ban­di­ten zu­sam­men­stößt, so rührt das da­her, dass die­se ehr­sa­me Zunft aus dem Wes­ten Ame­ri­kas ganz ver­schwun­den ist oder sich jetzt nur noch Finan­z­ope­ra­tio­nen an den Märk­ten der Al­ten und der Neu­en Welt wid­met. Wel­ches Ende für die Nach­kom­men ei­nes Karl Moor,2 ei­nes Jo­hann Sbo­gar! Und wem soll­ten der­lei Ge­dan­ken kom­men, wenn nicht un­se­rem Yver­nes? Ent­schie­den – meint er – ist das Stück der De­ko­ra­ti­on nicht wert!

Plötz­lich bleibt Pin­chi­nat wie an­ge­wur­zelt ste­hen.

Fras­co­lin tut des­glei­chen.

Sé­bas­ti­en Zorn und Yver­nes ge­sel­len sich so­fort zu bei­den.

»Was gibt es?« fragt die zwei­te Vio­li­ne.

»Ich glaub­te, et­was zu se­hen …«, ant­wor­te­te die Brat­sche.

Dies­mal han­delt es sich nicht um einen Scherz sei­ner­seits. Of­fen­bar be­wegt sich eine Ge­stalt zwi­schen den Bäu­men hin.

»Eine mensch­li­che oder tie­ri­sche?« er­kun­digt sich Fras­co­lin.

»Das weiß ich selbst nicht.«

Was jetzt am bes­ten zu tun sei, das un­ter­fing sich nie­mand zu sa­gen. Dicht an­ein­an­der­ge­drängt star­ren alle laut- und be­we­gungs­los vor sich hin.

Dicht aneinandergedrängt

Durch einen Wol­ken­spalt flie­ßen die Strah­len des Mon­des auf den Dom des dun­keln Wal­des her­ab, drin­gen durch die Äste der Se­quo­i­as und er­rei­chen noch den Erd­bo­den. Im Um­kreis von hun­dert Schrit­ten ist die­ser et­was sicht­bar.

Pin­chi­nat hat sich nicht ge­täuscht. Zu groß für einen Men­schen, kann die­se Mas­se nur ei­nem ge­wal­ti­gen Vier­füß­ler an­ge­hö­ren. Doch wel­chem Vier­füß­ler?… Ei­nem Raub­tie­re?… Je­den­falls ei­nem sol­chen … doch wel­chem Raub­tie­re?

»Ein Plan­ti­gra­de!«3 sagt Yver­nes.

»Zum Teu­fel mit dem Vieh«, mur­melt Sé­bas­ti­en Zorn mit ver­hal­te­ner, aber grim­mi­ger Stim­me, »und mit dem Vieh mei­ne ich mehr dich, Yver­nes! … Kannst du nicht wie an­de­re ver­nünf­ti­ge Men­schen re­den! Was ist denn das, ein Plan­ti­gra­de?«

»Ein Tier, das auf vier Tat­zen, und zwar auf den gan­zen Soh­len läuft«, er­klärt Pin­chi­nat.

»Ein Bär!« setzt Fras­co­lin hin­zu.

Es war in der Tat ein Bär, und zwar ein ganz mäch­ti­ges Exem­plar. Lö­wen, Ti­gern oder Pan­thern be­geg­net man in den Wäl­dern Nie­der-Ka­li­for­ni­ens nicht. De­ren ge­wöhn­li­che Be­woh­ner sind nur die Bä­ren, mit de­nen, wie man zu sa­gen pflegt, nicht gut Kir­schen es­sen ist.

Man wird sich nicht ver­wun­dern, dass un­se­re Pa­ri­ser in vol­ler Über­ein­stim­mung den Ge­dan­ken hat­ten, die­sem Plan­ti­gra­den den Platz zu über­las­sen, der ja ei­gent­lich »bei sich zu Hau­se« war. So drängt sich un­se­re Grup­pe denn noch dich­ter zu­sam­men und mar­schiert lang­sam, doch in stram­mer Hal­tung und das Aus­se­hen von Flie­hen­den ver­mei­dend, mit dem Ge­sicht nach dem Raub­tie­re ge­wen­det rück­wärts.

Der Bär trot­tet kur­z­en Schrit­tes den Män­nern nach, wo­bei er die Vor­der­tat­zen gleich Te­le­gra­fen­ar­men be­wegt und in den Pran­ken schwer­fäl­lig hin- und her­schwankt. All­mäh­lich kommt er nä­her her­an und sein Ver­hal­ten wird et­was feind­se­li­ger … sein hei­se­res Brum­men und das Klap­pen der Kinn­la­den sind ziem­lich be­un­ru­hi­gend.

»Wenn wir nun alle nach ver­schie­de­nen Sei­ten Fer­sen­geld gä­ben?« schlägt Sei­ne Ho­heit vor.

»Nein, das las­sen wir blei­ben«, ant­wor­tet Fras­co­lin. »Ei­ner von uns wür­de doch von dem Bur­schen ge­hascht und müss­te al­lein für die an­de­ren zah­len.«

Die­se Unklug­heit wur­de nicht be­gan­gen, und es liegt auch auf der Hand, dass sie hät­te schlim­me Fol­gen ha­ben kön­nen.

Das Quar­tett ge­langt so als »Bün­del« an die Gren­ze ei­ner min­der dun­keln Wald­par­zel­le. Der Bär hat sich jetzt bis auf zehn Schrit­te ge­nä­hert. Soll­te er den Ort für güns­tig zu ei­nem An­griff hal­ten?… Fast scheint es so, denn er ver­dop­pelt sein Brum­men und be­schleu­nigt sei­nen Schritt noch mehr.

Die klei­ne Grup­pe weicht des­halb noch schnel­ler zu­rück, und die zwei­te Vio­li­ne mahnt drin­gend:

»Kal­tes Blut!… Den Kopf nicht ver­lie­ren!«

Die Lich­tung ist über­schrit­ten und der Schutz der Bäu­me wie­der er­reicht. Ver­min­dert ist die Ge­fahr hier­durch doch ei­gent­lich nicht. Von ei­nem Stam­me zum an­de­ren schlei­chend, kann das Tier die Ver­folg­ten plötz­lich an­sprin­gen, ohne dass die­se sei­nem An­grif­fe zu­vor­zu­kom­men ver­mö­gen, und das moch­te der Bär wohl auch vor­ha­ben, als er sein Brum­men ein­stell­te und sich et­was zu­sam­menkrüm­mend fast still hielt …

Da er­tönt eine lau­te Mu­sik in der di­cken Fins­ter­nis, ein aus­drucks­vol­les Lar­go, in dem die gan­ze See­le des Künst­lers auf­zu­ge­hen scheint.

Yver­nes ist es, der die Vio­li­ne aus dem Etui ge­zo­gen hat und sie un­ter mäch­ti­gem Bo­gen­stri­che er­klin­gen lässt. Wahr­lich, ein Ge­nie­streich! Wa­rum soll­ten auch Mu­si­ker ihr Heil nicht bei der Mu­sik ge­sucht ha­ben? Sam­mel­ten sich die von den Ak­kor­den Am­phi­ons be­weg­ten Stei­ne nicht frei­wil­lig um The­ben an? Leg­ten sich nicht die mit ly­ri­schem Sin­ne be­gab­ten wil­den Tie­re be­sänf­tigt zu Or­pheus Fü­ßen nie­der? Nun, hier kam man zu dem Glau­ben, dass die­ser ka­li­for­ni­sche Bär un­ter ata­vis­ti­scher Be­ein­flus­sung eben­so künst­le­risch ver­an­lagt ge­we­sen sei, wie sei­ne Ka­me­ra­den aus der Sage, denn sei­ne Wild­heit er­lischt un­ter der her­vor­tre­ten­den Nei­gung für Me­lo­di­en, und ganz ent­spre­chend dem Zu­rück­wei­chen des Quar­tetts folgt er die­sem in glei­chem Tem­po nach und lässt wie­der­holt ein lei­ses Zei­chen di­let­tan­ti­scher Be­frie­di­gung hö­ren. Es fehl­te gar nicht viel, dass er »Bra­vo!« ge­ru­fen hät­te.

Eine Vier­tel­stun­de spä­ter be­fin­det sich Sé­bas­ti­en Zorn mit sei­nen Ge­fähr­ten am Sau­me der Wal­dung. Sie über­schrei­ten ihn, wäh­rend Yver­nes im­mer flott drauf­los­geigt.

Das Tier hat halt­ge­macht. Es scheint kei­ne Lust zu ha­ben, noch wei­ter mit­zu­trot­ten; da­ge­gen schlägt es die plum­pen Vor­der­tat­zen an­ein­an­der.

Da er­greift auch Pin­chi­nat sein In­stru­ment und ruft:

»Den Bä­ren­tanz! Und in flot­tem Tem­po!«

Wäh­rend nun die ers­te Vio­li­ne die weit­be­kann­te Me­lo­die in Dur mit vol­len Bo­gen­stri­chen her­un­ter­geigt, be­glei­tet sie die Brat­sche scharf und falsch in Moll …

Da fängt das Tier zu tan­zen an, hebt ein­mal die rech­te, ein­mal die lin­ke Tat­ze hoch auf, dreht und schwenkt sich hin und her und lässt die klei­ne Ge­sell­schaft un­be­hel­ligt sich wei­ter auf der Stra­ße ent­fer­nen.

»Bah!« stößt Pin­chi­nat her­vor, »das war nur ein Zir­kus­bär!«

»Tut nichts«, ant­wor­tet Fras­co­lin, »der Teu­fels­kerl, der Yver­nes, hat doch eine fa­mo­se Idee ge­habt.«

»Nun trabt aber da­von … al­le­gret­to«, mahnt der Vio­lon­cel­list, »und ohne euch um­zu­se­hen.«

Es ist ge­gen neun Uhr abends, als die vier Jün­ger Apolls heil und ge­sund in Fre­schal ein­tref­fen. Sie ha­ben die letz­te Weg­stre­cke in stark be­schleu­nig­tem Schrit­te zu­rück­ge­legt, ob­gleich der Bär ih­nen nicht mehr folg­te.

Etwa vier­zig Häu­schen oder rich­ti­ger Hüt­ten aus Holz rund um einen mit Bu­chen be­stan­de­nem Platz … das ist Fre­schal, ein ver­ein­sam­tes Dorf, das ge­gen zwei Mei­len von der Küs­te liegt.

Un­se­re Künst­ler schlüp­fen zwi­schen zwei von großen Bäu­men be­schat­te­ten Wohn­stät­ten hin­durch, ge­lan­gen da­mit nach ei­nem frei­en Plat­ze, in des­sen Hin­ter­grun­de sich der be­schei­de­ne Glock­en­turm ei­nes Kirch­leins er­hebt, sie tre­ten zu­sam­men, als woll­ten sie ein Mu­sik­stück aus dem Steg­reif vor­tra­gen, und blei­ben an der Stel­le ste­hen, um zu be­rat­schla­gen.

»Das … das soll ein Dorf sein?« frag­te Pin­chi­nat.

»Na, du hast doch nicht er­war­tet, hier eine Stadt von der Art New Yorks oder Phil­adel­phi­as zu fin­den!« er­wi­dert Fras­co­lin.

»Un­ser Dorf liegt aber be­reits im Bett!« be­merkt Sé­bas­ti­en Zorn weg­wer­fend.

»O, wir wol­len ein schlum­mern­des Dorf ja nicht er­we­cken!« seufzt Yver­nes me­lo­disch.

»Im Ge­gen­teil, lasst es uns mun­ter ma­chen!« ruft Pin­chi­nat.

Frei­lich, wenn sie die Nacht nicht un­ter frei­em Him­mel zu­brin­gen woll­ten, blieb ih­nen am Ende nichts an­de­res üb­rig.

Im Üb­ri­gen ist der Ort völ­lig ver­las­sen und to­ten­still – kein La­den ge­öff­net, kein Licht hin­ter ei­nem Fens­ter. Für das Schloss Dorn­rös­chens wä­ren hier alle Vor­be­din­gun­gen un­ge­stör­tes­ter Ruhe ge­ge­ben ge­we­sen.

»Wo ist denn nun das Gast­haus?« fragt Fras­co­lin.

Ja, das Gast­haus, von dem der Kut­scher sprach, wo sei­ne ver­un­glück­ten Fahr­gäs­te freund­li­che Auf­nah­me und gu­tes Nacht­la­ger fin­den soll­ten?…

Und der Gast­wirt, der sich be­ei­len wür­de, dem noch schlim­mer ver­un­glück­ten Kut­scher Hil­fe zu sen­den?… Soll­te der arme Kerl das al­les nur ge­träumt ha­ben?… Oder – eine an­de­re Hy­po­the­se – soll­ten sich Sé­bas­ti­en Zorn und sei­ne Ge­sell­schaft ver­irrt ha­ben?… Wäre das gar nicht die Dorf­schaft Fre­schal?…

Die­se ver­schie­de­nen Fra­gen ver­lan­gen schleu­ni­ge Beant­wor­tung. Es er­gibt sich also die Not­wen­dig­keit, einen der Lan­des­be­woh­ner zu be­fra­gen und, um das zu kön­nen, an die Tür ei­nes der klei­nen Häu­ser zu klop­fen … wo­mög­lich an die des Gast­hofs, wenn ein glück­li­cher Zu­fall die­sen ent­de­cken lässt.

Die vier Mu­si­ker be­gin­nen also eine Un­ter­su­chung der fins­tern Ort­schaft und strei­fen an den Häu­ser­fron­ten hin, um viel­leicht ir­gend­wo ein her­aus­hän­gen­des Schank­zei­chen zu er­spä­hen. Von ei­nem Gast­ho­fe fin­det sich aber kei­ne Spur.

Gibt es auch kei­ne Her­ber­ge, so ist doch gar nicht an­zu­neh­men, dass sich nicht we­nigs­tens eine gast­freund­li­che Hüt­te fän­de, und da man hier nicht in Schott­land ist, kann man auf ame­ri­ka­ni­sche Wei­se vor­ge­hen. Wel­cher Ein­ge­bo­re­ne von Fre­schal wür­de es wohl ab­schla­gen, ein oder auch zwei Dol­lar für die Per­son für ein Abendes­sen und ein Nacht­la­ger an­zu­neh­men?

»Also vor­wärts, wir klop­fen«, sag­te Fras­co­lin.

»Doch im Tak­te«, setz­te Pin­chi­nat hin­zu, »und zwar im Sechs­ach­tel­tak­te!«

Hät­ten sie auch im Drei- oder Vier­vier­tel­tak­te ge­pocht, der Er­folg wäre doch der­sel­be ge­we­sen. Kei­ne Tür, kein Fens­ter öff­net sich, und das Kon­zert-Quar­tett hat­te schon ein Dut­zend Häu­ser in glei­cher Wei­se um Ant­wort er­sucht.

»Wir ha­ben uns ge­täuscht«, er­klärt Yver­nes. »Das ist gar kein Dorf, son­dern ein Fried­hof, und was man hier schläft, ist der ewi­ge Schlaf … Vox cla­man­tis in de­ser­to4

»Amen!« ant­wor­te­te Sei­ne Ho­heit mit der tie­fen Stim­me ei­nes Kir­chen­kan­tors.

Was war nun zu tun, da die­ses Gra­bes­schwei­gen be­harr­lich fort­dau­ert? Etwa nach San Die­go zu wei­terzu­mar­schie­ren? Die Mu­si­ker kom­men vor Hun­ger und Er­schöp­fung bald um. Und dann, wel­chen Weg soll­ten sie, ohne Füh­rer und in stock­fin­st­rer Nacht, ein­schla­gen?… Soll­ten sie viel­leicht ver­su­chen, ein an­de­res Dorf zu er­rei­chen?… Ja, wel­ches denn? Nach Aus­sa­ge des Kut­schers lag kein wei­te­res an der Küs­te. Voraus­sicht­lich ver­irr­ten sie sich da­bei nur noch mehr. Am rat­sams­ten er­schi­en es, den Tag ab­zu­war­ten. Und doch, ein hal­b­es Dut­zend Stun­den ohne Ob­dach hin­zu­brin­gen, un­ter ei­nem Him­mel, der sich mit di­cken Wol­ken über­zieht, die frü­her oder spä­ter mit ei­ner Sünd­flut dro­hen, das kann man doch nie­man­dem, auch nicht Künst­lern, zu­mu­ten.

Da kam Pin­chi­nat auf einen Ge­dan­ken. Sei­ne Ge­dan­ken sind zwar nicht im­mer die bes­ten, spru­deln aber mas­sen­haft in sei­nem Ge­hirn auf. Der jet­zi­ge hat­te sich üb­ri­gens der Zu­stim­mung des wei­sen Fras­co­lin zu er­freu­en.

»Ka­me­ra­den«, sag­te er, »warum soll­te das Mit­tel, das ge­gen einen wil­den Bä­ren von Er­folg war, nicht auch ge­gen­über ei­nem ka­li­for­ni­schen Dor­fe er­folg­reich sein? Wir ha­ben je­nen Plan­ti­gra­den durch ein biss­chen Mu­sik ge­zähmt … er­we­cken wir nun das Land­volk hier durch ein lär­men­des Kon­zert, wo­bei wir’s an ei­nem For­te und ei­nem Al­le­gro nicht feh­len las­sen …«

»Das wäre des Ver­suchs wert«, mein­te Fras­co­lin.

Sé­bas­ti­en Zorn hat Pin­chi­nat nicht ein­mal sei­ne Wor­te vollen­den las­sen, son­dern be­reits das Vio­lon­cell aus dem Kas­ten ge­holt, es auf der ei­ser­nen Spit­ze auf­ge­rich­tet vor sich hin­ge­stellt, und steht, da er kei­nen Sitz zur Ver­fü­gung hat, mit dem Bo­gen in der Hand schon be­reit, des­sen klin­gen­dem Bau­che alle dar­in auf­ge­spei­cher­ten Töne zu ent­lo­cken.

Fast gleich­zei­tig sind sei­ne Ka­me­ra­den fer­tig, sei­nem Bei­spie­le, wo­hin es sei, zu fol­gen.

»Das H-moll-Quar­tett von Onslow«, ruft er. »An­fan­gen! Ein paar Tak­te um­sonst!«

Die­ses Quar­tett von Onslow kann­ten sie aus­wen­dig, und ge­üb­te Streich­mu­si­kan­ten brauch­ten ge­wiss auch kei­ne Be­leuch­tung dazu, ihre ge­schick­ten Fin­ger über das Griff­brett ei­nes Vio­lon­cells, zwei­er Vio­li­nen und ei­ner Brat­sche glei­ten zu las­sen.

So fol­gen sie denn alle ih­rer künst­le­ri­schen Ein­ge­bung. Noch nie ha­ben sie wohl in den Ka­si­nos oder auf den Büh­nen des ame­ri­ka­ni­schen Bun­des­staa­tes mit mehr Ta­lent und In­nig­keit ge­spielt. Da er­tönt eine wahr­haft himm­li­sche Har­mo­nie, der mensch­li­che We­sen, wenn sie nicht ge­ra­de mit Taub­heit ge­schla­gen sind, un­mög­lich wi­der­ste­hen kön­nen. Ja, be­fan­den sie sich auch, wie Yver­nes ver­mu­te­te, auf ei­nem Kirch­hof, so hät­ten sich die Grä­ber öff­nen, die To­ten auf­rich­ten müs­sen, und die Ske­let­te hät­ten ge­wiss die Hän­de zu­sam­men­ge­schla­gen …

Und den­noch blei­ben die Häu­ser ge­schlos­sen, die Schlä­fer er­wa­chen auch jetzt nicht. Das Mu­sik­stück en­digt mit den Pracht­sät­zen sei­nes mäch­ti­gen Fina­le, ohne dass Fre­schal ein Le­bens­zei­chen von sich gibt.

»Da sitzt doch der Teu­fel drin!« pol­ter­te Sé­bas­ti­en Zorn auf dem Gip­fel der Wut her­vor. »Be­darf es denn für die Ohren die­ser Wil­den ei­nes Cha­ri­va­ri, wie für den Bä­ren?… Auch gut, wir fan­gen noch ein­mal von vor­ne an, doch du, Yver­nes spielst in D-, du, Fras­co­lin in E- und Pin­chi­nat in G-dur. Ich selbst blei­be in H-moll, und nun aus Lei­bes­kräf­ten los!«

Das gab aber einen Miss­klang zum Trom­mel­fell­zer­spren­gen! Es er­in­ner­te an das im­pro­vi­sier­te Or­che­s­ter, das der Prinz von Join­ville der­einst in ei­nem un­be­kann­ten Dor­fe des bra­si­lia­ni­schen Ge­bie­tes di­ri­gier­te. Es klang, als ob man auf »Es­sig­kan­nen« eine ent­setz­li­che Sym­pho­nie mit ver­kehr­tem Bo­gen­strich exe­ku­tiert hät­te.

Pin­chi­nats Ge­dan­ke er­wies sich üb­ri­gens als vor­treff­lich. Was ein ganz aus­ge­zeich­ne­ter mu­si­ka­li­scher Vor­trag nicht er­ziel­te, das er­zielt die­ses gräu­li­che Durchein­an­der. Fre­schal fängt an auf­zu­wa­chen. Da und dort er­hel­len sich die Fens­ter. Die Be­woh­ner des Dor­fes sind also nicht tot, da sie jetzt Le­bens­zei­chen ver­ra­ten. Sie sind auch nicht taub, da sie hö­ren und lau­schen.

»Die Leu­te wer­den uns mit Äp­feln bom­bar­die­ren«, sagt Pin­chi­nat wäh­rend ei­ner Pau­se, denn trotz man­geln­dem Ein­klang des Ton­stücks ist des­sen Takt doch ein­ge­hal­ten wor­den.

»O, de­sto bes­ser; dann es­sen wir sie«, ant­wor­tet der prak­ti­sche Fras­co­lin.

Und auf Kom­man­do Sé­bas­ti­en Zorns be­ginnt das ka­ko­pho­ni­sche Kon­zert von Neu­em. Nach Been­di­gung des­sel­ben mit ei­nem mäch­ten »Dis«-Ak­kord in vier ver­schie­de­nen Ton­la­gen hal­ten die Mu­si­ker ein.

Das kakophonische Konzert

Nein, mit Äp­feln wirft hier kei­ner aus den zwan­zig oder drei­ßig ge­öff­ne­ten Fens­tern, son­dern lau­te Bei­falls­be­zeu­gun­gen, kräf­ti­ge Hur­ras und scharf­tö­nen­de Hips schal­len dar­aus her­vor. Die fre­scha­li­schen Ohren ha­ben sich je­den­falls noch nie­mals ei­nes sol­chen mu­si­ka­li­schen Hoch­ge­nus­ses er­freut, und es un­ter­liegt kei­nem Zwei­fel, dass jetzt je­des Haus wil­lig ist, so un­ver­gleich­li­che Vir­tuo­sen gast­lich auf­zu­neh­men.

Doch wäh­rend die­se sich ih­rer mu­si­ka­li­schen Ver­zückung völ­lig hin­ga­ben, ist ein Zuschau­er und Zu­hö­rer, ohne dass sie sei­ne An­nä­he­rung be­merk­ten, bis auf we­ni­ge Schrit­te her­an­ge­tre­ten. Die­se aus ei­ner Art elek­tri­schen Krem­sers aus­ge­stie­ge­ne Per­sön­lich­keit war­tet an ei­ner Ecke des Plat­zes. Es ist ein hoch­ge­wach­se­ner wohl­be­leib­ter Mann, so­weit das bei der Dun­kel­heit zu er­ken­nen war.

Wäh­rend sich dann un­se­re Pa­ri­ser Kin­der noch fra­gen, ob sich nach den Fens­tern auch die Tü­ren der Häu­ser öff­nen wer­den, um sie auf­zu­neh­men – was min­des­tens noch un­ge­wiss ist –, nä­hert sich der neue An­kömm­ling noch wei­ter und spricht in lie­bens­wür­digs­tem Tone und im reins­ten Fran­zö­sisch:

»Ich bin Kunst­lieb­ha­ber, mei­ne Her­ren, und eben jetzt so glück­lich ge­we­sen, Ih­nen Bei­fall zol­len zu dür­fen.«

»Wäh­rend un­se­res letz­ten Mu­sik­stücks?« er­wi­dert Pin­chi­nat iro­nisch.

»Nein, mei­ne Her­ren, wäh­rend des ers­ten; ich habe das Quar­tett von Onslow sel­ten in so vollen­de­ter Wei­se spie­len hö­ren.«

Der Mann ist of­fen­bar ein Ken­ner.

»Mein Herr«, ant­wor­tet ihm Pin­chi­nat im Na­men sei­ner Ge­fähr­ten, »wir sind Ih­nen für Ihre Aner­ken­nung sehr ver­bun­den. Hat un­se­re zwei­te Num­mer Ihre Ohren zer­ris­sen, so kommt das da­her …«

»Mein Herr«, fällt ihm der Un­be­kann­te ins Wort und schnei­det da­mit einen Satz ab, der je­den­falls sehr lang ge­wor­den wäre, »ich habe nie­mals mit glei­cher Vollen­dung so falsch spie­len hö­ren. Ich durch­schaue es aber, wes­halb Sie zu die­sem Aus­we­ge grif­fen: Sie woll­ten die wa­cke­ren Be­woh­ner von Fre­schal, die schon im tiefs­ten Schla­fe lie­gen, auf­we­cken. Nun, mei­ne Her­ren, ge­stat­ten Sie mir, Ih­nen das an­zu­bie­ten, was Sie mit je­nem selt­sa­men Mit­tel er­streb­ten …«

»Gast­li­che Auf­nah­me?« fragt Fras­co­lin.

»Ge­wiss, eine ul­tra­schot­ti­sche Gast­freund­schaft. Irre ich mich nicht, so steht vor mir das Kon­zert-Quar­tett, das in un­se­rem herr­li­chen Ame­ri­ka über­all be­rühmt ist, und ge­gen das letz­te­res mit sei­nem En­thu­si­as­mus nicht ge­geizt hat …«

»Ver­ehr­ter Herr«, glaubt Fras­co­lin hier ein­flech­ten zu müs­sen, »wir füh­len uns aufs höchs­te ge­schmei­chelt. Doch … die gast­li­che Auf­nah­me … wo könn­ten wir die durch Ihre Güte fin­den?«

»Zwei Mei­len von hier.«

»In ei­nem an­de­ren Dor­fe?«

»Nein … Nein, in ei­ner Stadt.«

»Ei­ner be­deu­ten­de­ren Stadt?…«

»Ge­wiss.«

»Er­lau­ben Sie, man hat uns ge­sagt, dass hier und vor San Die­go kei­ne Stadt lie­ge …«

»Ein Irr­tum … wirk­lich ein Irr­tum, den ich nicht zu er­klä­ren ver­mag.«

»Ein Irr­tum?…« wie­der­holt Fras­co­lin.

»Ja, mei­ne Her­ren, und wenn Sie mir nur fol­gen wol­len, ver­spre­che ich Ih­nen einen Empfang, wie er sich für solch her­vor­ra­gen­de Künst­ler ge­bührt.«

»Ich den­ke, das er­schie­ne an­nehm­bar«, ließ sich Yver­nes ver­neh­men.

»Ganz mei­ne An­sicht«, be­stä­tigt Pin­chi­nat.

»Halt, halt … noch einen Au­gen­blick«, ruft Pin­chi­nat; »nie­mals schnel­ler als der Lei­ter des Or­che­s­ters.«

»Das be­deu­tet?«… fragt der Ame­ri­ka­ner.

»Dass wir in San Die­go er­war­tet wer­den«, ant­wor­tet Fras­co­lin.

»In San Die­go«, fügt der Vio­lon­cel­list hin­zu, »wo die Stadt uns zu ei­ner Rei­he von mu­si­ka­li­schen Ma­tinées en­ga­giert hat, de­ren ers­te be­reits über­mor­gen Sonn­tag statt­fin­den soll.«

»Ah so!« ver­setzt der Frem­de mit dem Aus­druck der Ent­täu­schung.

Gleich dar­auf er­greift er je­doch wie­der das Wort:

»Nun, das tut nichts, mei­ne Her­ren«, setzt er hin­zu. »Bin­nen ei­nes Ta­ges wer­den Sie Zeit ge­nug ha­ben, eine Stadt zu se­hen, die des Be­su­ches wert ist, und ich ver­pflich­te mich, Sie bis zur nächs­ten Sta­ti­on zu­rück­zu­be­för­dern, so­dass Sie am Sonn­tag in San Die­go sein kön­nen.«

In der Tat, das Aner­bie­ten ist eben­so ver­füh­re­risch, wie un­ter den ge­ge­be­nen Um­stän­den will­kom­men. Das Quar­tett kann si­cher sein, in ei­nem gu­ten Ho­tel ein treff­li­ches Zim­mer zu fin­den, ohne von den wei­te­ren Vor­tei­len zu re­den, die sie von und durch die­sen zu­vor­kom­men­den Herrn er­war­ten dür­fen.

»Neh­men Sie mei­nen Vor­schlag an, mei­ne Her­ren?«

»Mit Ver­gnü­gen«, ver­si­chert jetzt Sé­bas­ti­en Zorn, den der Hun­ger und die Er­mü­dung be­stim­men, eine der­ar­ti­ge Ein­la­dung nicht ab­zu­wei­sen.

»Also ab­ge­macht!« er­wi­dert der Ame­ri­ka­ner. »Wir bre­chen so­fort auf, sind bin­nen zwan­zig Mi­nu­ten am Zie­le, und ich weiß, dass Sie mir da­für Dank wis­sen wer­den.«

Selbst­ver­ständ­lich hat­ten sich nach den Hur­ras, die der exe­ku­tier­ten Kat­zen­mu­sik folg­ten, die Fens­ter der Häu­ser so­gleich wie­der ge­schlos­sen. Die Lich­ter er­lo­schen und Fre­schal ver­fiel aufs neue in tie­fen Schlaf.

Von dem Ame­ri­ka­ner ge­führt, be­ge­ben sich die Mu­si­ker nach dem Krem­ser, brin­gen dar­auf ihre In­stru­men­te un­ter und neh­men im hin­te­ren Tei­le des Ge­fähr­tes Platz, wäh­rend sich ihr freund­li­che Füh­rer ganz vorn­hin ne­ben den Mecha­ni­ker setzt. Dann wird ein He­bel um­ge­legt, die elek­tri­schen Ak­ku­mu­la­to­ren tre­ten in Wir­kung, der Wa­gen rückt von der Stel­le und kommt sehr bald in ra­sche Be­we­gung nach Wes­ten hin­aus.

Nach ei­ner Vier­tel­stun­de leuch­tet ein aus­ge­brei­te­ter weiß­li­cher Schein auf, ein die Au­gen blen­den­des Durchein­an­der von leuch­ten­den Strah­len. Da liegt also eine Stadt, von de­ren Vor­han­den­sein un­se­re Pa­ri­ser gar kei­ne Ah­nung hat­ten.

Der Krem­ser hält an und Fras­co­lin sagt:

»Aha, da wä­ren wir ja an der Küs­te.«

»An der Küs­te … nein«, ent­geg­net der Ame­ri­ka­ner. »Das ist ein Strom, den wir zu über­schrei­ten ha­ben.«

»Doch auf wel­che Wei­se?« fragt Pin­chi­nat.

»Mit­tels der Fäh­re hier, die gleich un­se­ren Wa­gen auf­nimmt.«

In der Tat liegt vor ih­nen ei­nes der in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten so häu­fi­gen Fer­ry-boats, auf das der Wa­gen samt In­sas­sen hin­über­rollt. Ohne Zwei­fel wird die­ses Fer­ry-boat durch Elek­tri­zi­tät an­ge­trie­ben, denn es stößt kei­nen Dampf aus, und schon zwei Mi­nu­ten spä­ter legt es nach Über­schrei­tung des Was­sers an der Kai­mau­er ei­nes Bass­ins im Hin­ter­grun­de ei­nes Ha­fens an.

Der Krem­ser rollt nun durch über Land füh­ren­de Al­leen wei­ter und dringt in eine Park­an­la­ge ein, über die hoch oben an­ge­brach­te elek­tri­sche Lam­pen hel­les Licht aus­gie­ßen.

Am Git­ter die­ses Parks öff­net sich ein Tor, der Zu­gang zu ei­ner brei­ten und lan­gen, mit tö­nen­den Plat­ten be­leg­ten Stra­ße. Fünf Mi­nu­ten spä­ter stei­gen un­se­re Künst­ler am Vor­bau ei­nes ele­gan­ten Ho­tels aus, wo sie auf ein Wort des Ame­ri­ka­ners hin mit viel­ver­spre­chen­der Zu­vor­kom­men­heit emp­fan­gen wer­den. Man ge­lei­tet sie so­fort nach ei­ner lu­xu­ri­ös aus­ge­stat­te­ten Ta­fel, und sie neh­men – wie sich wohl vor­aus­set­zen lässt, mit bes­tem Ap­pe­tit – ein reich­li­ches Abendes­sen ein.

Nach Been­di­gung des­sel­ben führt sie der Ober­kell­ner nach ei­nem sehr ge­räu­mi­gen Zim­mer mit meh­re­ren Glühlam­pen, die durch nie­der­zu­las­sen­de Schir­me in mild leuch­ten­de Nacht­lam­pen ver­wan­delt wer­den kön­nen. Die Er­klä­rung al­ler die­ser Wun­der von dem kom­men­den Mor­gen er­war­tend, schlum­mern sie end­lich in den die vier Zim­me­r­e­cken ein­neh­men­den be­que­men Bet­ten ein und schnar­chen mit der au­ßer­ge­wöhn­li­chen Über­ein­stim­mung, der das Kon­zert-Quar­tett sei­nen künst­le­ri­schen Ruhm ver­dankt.

1 Fi­gur in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie, der schö­ne und ewig ju­gend­li­che Lieb­ha­ber der Mond­göt­tin Se­le­ne <<<

2 Ge­stalt aus Schil­lers „Räu­bern“ <<<

3 Soh­len­gän­ger, Land­wir­bel­tie­re, die bei der Fort­be­we­gung die ge­sam­te Fuß­soh­le auf­set­zen, Bsp: Bä­ren oder Men­schen­af­fen <<<

4 Das Mot­to des Dart­mouth Col­le­ge ist „Vox Cla­man­tis in De­ser­to" („Ei­ne Stim­me ruft in der Wüs­te") Sinn­ge­mäß: Ein (ein­sa­mer) Ru­fer in der Wüs­te. <<<

Die Propeller-Insel

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