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Viertes Kapitel – Das verblüffte Konzert-Quartett
ОглавлениеUm elf Uhr und nach einem so langen Spaziergange ist es gestattet, Hunger zu haben. Unsere Künstler machen von dieser Erlaubnis auch überreichlich Gebrauch. Ihre Mägen knurren im Ensemble und sie selbst harmonieren alle darin, um jeden Preis frühstücken zu müssen.
Das ist auch die Ansicht Calistus Munbars, der ebenso wie seine Gäste der täglichen Nahrungszufuhr bedarf. Da fragten sich die Künstler, ob sie bis nach dem Exzelsior-Hotel zurückkehren sollten.
Ja, denn in der Stadt scheint es nicht viele Restaurants zu geben, und offenbar zieht es jedermann vor, sich auf sein Home zu beschränken. Der Verkehr von Touristen aus beiden Welten ist allem Anscheine nach auch sehr gering.
Binnen wenigen Minuten befördert ein Tramwagen die Hungernden nach ihrem Hotel, wo sie an einer vollbedeckten Tafel Platz nehmen. Hier zeigt sich ein erstaunlicher Gegensatz zu den gewöhnlichen amerikanischen Mahlzeiten, bei denen die Vielheit der Gerichte über deren mangelnde Güte hinwegtäuschen muss. Das Rind- und Hammelfleisch ist vorzüglich; das Geflügel zart und duftend; der Fisch von verlockender Frische. Dazu gibt es, statt des Eiswassers in den Restaurants der Union, verschiedene treffliche Biere und Weine, die unter den Sonnenstrahlen der Rebenhügel von Médoc und Burgund gereift waren.
Pinchinat und Frascolin tun diesem Frühstück alle Ehre an, mindestens ebenso viel wie Sébastien Zorn und Yvernes. Es versteht sich, dass Calistus Munbar nicht unterließ, es ihnen anzubieten, und es wäre doch unhöflich von ihnen gewesen, das nicht anzunehmen.
Der Yankee, dessen Mühle es nie an Wasser fehlt, entwickelt übrigens einen bestrickenden Humor. Er spricht von allem, was die Stadt betrifft, nur nicht von dem, was seine Gäste gern erfahren hätten, d.h. welche die unabhängige Stadt ist, deren Namen er zu nennen zögert. Etwas Geduld, er wird ihn schon verraten, wenn die Besichtigung des Ganzen zu Ende ist. Sollte er gar darauf ausgehen, das Quartett etwas berauscht zu machen, damit es den Abgang des Zuges nach San-Diego versäumte? Nein, doch nach der tüchtigen Mahlzeit trinken alle wacker drauflos, und ebenso sollte das Dessert noch mit einer Tasse Tee begossen werden, da erzittern die Fensterscheiben des Hotels von einer gewaltigen Detonation.
»Was war das?« fragte Yvernes emporschnellend.
»Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren«, antwortet Calistus Munbar, »das war die Kanone des Observatoriums.«
»Wenn sie nur die Mittagsstunde bezeichnen soll«, erwidert Frascolin nach seiner Uhr sehend, »so behaupte ich, dass der Schuss zu spät fiel …«
»Nein, Herr Bratschist, nein! Die Sonne geht hier ebensowenig wie anderswo vor oder nach!«
Dabei umspielt ein eigentümliches Lächeln die Lippen des Amerikaners, seine Augen funkeln unter dem Binokel, und er reibt sich recht sonderbar die Hände. Man möchte glauben, er beglückwünschte sich, einen guten Schelmenstreich ausgeführt zu haben.
Frascolin, der sich von der trefflichen Bewirtung weniger als seine Kameraden gefangennehmen lässt, sieht ihn misstrauischen Blickes an, ohne sich deshalb mehr klarzuwerden.
»Nun, liebe Freunde – Sie gestatten doch, dass ich mich dieser vertraulichen Anrede bediene –«, setzt er in liebenswürdigster Weise hinzu, »wollen wir wieder aufbrechen, um noch den anderen Teil der Stadt zu besuchen; ich käme in Verzweiflung, wenn Ihnen die geringste Einzelheit entginge. Wir haben keine Zeit zu verlieren …«
»Um wie viel Uhr geht denn der Zug nach San Diego ab?« fragt Sébastien Zorn, immer besorgt, seine Engagements nicht durch verspätetes Eintreffen zu verfehlen.
»Ja, welche Zeit?« wiederholt Frascolin dringender.
»O … erst am Abend«, antwortet Calistus Munbar mit dem linken Auge zwinkernd. »Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie! Sie werden es nicht bereuen, mich als Führer gehabt zu haben.«
Wie hätte man einer so zuvorkommenden Persönlichkeit nicht folgen sollen? Die vier Künstler verlassen den Saal des Exzelsior-Hotels und schlendern die Straße hinauf. Der Wein muss doch in etwas zu vollem Strome geflossen sein, denn in den Beinen verspüren sie jetzt eine Art Zittern. Der Erdboden scheint eine Neigung zu haben, ihnen unter den Füßen zu entfliehen, obwohl sie sich nicht auf einem der seitwärts weitergleitenden Trottoirs befinden.
»He! He! Halte mich ein – bisschen, Chatillon!« ruft taumelnd Seine Hoheit der Bratschist.
»Ich glaube, wir haben etwas zu viel getrunken«, stammelt Yvernes, indem er sich die Stirn abtrocknet.
»Lassen Sie’s gut sein, meine Herren Pariser, einmal ist ja nicht immer! … Wir mussten doch Ihre Ankunft begießen …«
»Und haben dabei die Gießkanne bis auf den Grund entleert!« fällt Pinchinat ein, der sich dabei nach Kräften beteiligt hat und noch niemals so guter Laune war wie heute.
Unter Leitung Calistus Munbars gelangen sie nun nach einem der Quartiere der zweiten Städthälfte. Hier herrscht weit mehr Leben von minder puritanischem Anstrich, so als wenn man urplötzlich aus den Nordstaaten nach den Südstaaten der Union, aus Chicago nach New Orleans, aus Illinois nach Louisiana versetzt worden wäre. Die Läden hier sind glänzender ausgestattet, die größeren Wohnhäuser sind eleganter, die Villen komfortabler, die Paläste und Hotels ebenso großartig wie in dem protestantischen Stadtteile, und dazu noch von bestrickenderem Aussehen. Auch die Bevölkerung unterscheidet sich durch ihre Haltung, wie ihr Auftreten und Benehmen. Man möchte glauben, hier in einer Doppelstadt, ähnlich den bekannten Doppelsternen zu sein, bis auf den Unterschied, dass sich die beiden Hälften nicht umeinander drehen.
So ziemlich im Herzen der zweiten Hälfte angelangt, bleibt die Gruppe etwa in der Mitte der Fünfzehnten Avenue stehen, und Yvernes ruft:
»Meiner Treu, das ist ein wirklicher Palast!«
»Das Palais der Familie Coverley«, antwortet Calistus Munbar. »Nat Coverley, der Nebenbuhler Jem Tankerdons …«
»Und reicher als dieser?« fragt Pinchinat.
»Das nicht, aber ebenso vermögend«, erklärt der Amerikaner. »Ein Ex-Bankier aus New Orleans, der mehr Hunderte von Millionen als Finger an den Händen besitzt.«
»Ein hübsches Paar Handschuhe, lieber Herr Munbar!«
»Wie Sie das nehmen wollen.«
»Und die beiden Notabeln,1 Jem Tankerdon und Nat Coverley, sind natürlich Feinde …«
»Mindestens Rivalen, die beide in städtischen Angelegenheiten ihr Übergewicht geltend zu machen streben und aufeinander eifersüchtig sind …«
»Und sich schließlich auffressen werden?« fragt Sébastien Zorn.
»Vielleicht, und wenn einer den anderen verschlingt …«
»Das wird einem einen ordentlich verdorbnen Magen geben!« meint die Bratsche.
Calistus Munbar schüttelt sich vor Lachen über den Scherz.
Die katholische Kirche erhebt sich auf einem großen Platze, der ihre glücklich getroffenen Verhältnisse zu bewundern gestattet. In gotischem Stil erbaut, braucht man nicht zu weit zurückzuweichen, um sie betrachten zu können, denn die lotrechten Linien, denen jener Stil seine Schönheit verdankt, verlieren von weither gesehen ihren Charakter. Saint-Mary-Church verdient Bewunderung wegen der Schlankheit ihrer Pinakeln, der Leichtigkeit ihrer Rosetten, wegen der Eleganz ihrer gerippten Wölbungen und der Schönheit ihrer Fenster mit verschlungenem Rankenwerk.
»Ein schönes Beispiel angelsächsischer Gotik!« lässt sich Yvernes vernehmen, der ein begeisterter Liebhaber der Architektonik ist. »Sie hatten recht, Herr Munbar, die beiden Stadthälften gleichen einander ebensowenig, wie der Tempel der einen der Kathedrale der anderen!«
»Und doch, Herr Yvernes, sind die beiden Hälften von einundderselben Mutter geboren …«
»So?… Aber nicht von demselben Vater?« bemerkt Pinchinat dazwischen.
»Gewiss … auch von demselben Vater, meine vortrefflichen Freunde! Sie sind nur in verschiedener Weise hergestellt, indem sie den Bedürfnissen und Wünschen derer angepasst wurden, die hier ein ruhiges, glückliches, sorgenloses Leben suchten – ein Leben, wie es keine andere Stadt, weder in der Alten, noch in der Neuen Welt zu bieten vermag.«
»Beim großen Apoll, Herr Munbar«, antwortet Yvernes, »hüten Sie sich, unsere Neugier allzu sehr zu reizen! Es erscheint, als ob Sie eine musikalische Phrase sängen, die die Tonica zu lange vermissen lässt …«
»Und damit schließlich das Ohr ermüdet«, setzt Sébastien Zorn hinzu. »Ich dächte, der Zeitpunkt wäre gekommen, wo Sie sich entschließen, uns den Namen dieser außergewöhnlichen Stadt nicht länger zu verschweigen.«
»Noch nicht, werte Herren«, erwiderte der Amerikaner, während er das Binokel auf dem Nasenrücken zurechtschiebt. »Gedulden Sie sich bis zum Ende unseres Spaziergangs und lassen Sie uns jetzt weitergehen …«
»Ehe wir das tun«, meldet sich Frascolin, dessen Gefühlen von Neugier sich eine unbestimmte Unruhe beimischt, »hätte ich einen Vorschlag …«
»Und der wäre?…«
»Warum sollten wir nicht den Turm der Saint-Mary-Church ersteigen? Von da aus hätten wir einen vollen Überblick …«
»Nein, das nicht!« wehrt Calistus Munbar ab und schüttelt dazu das buschige Haupt, »jetzt nicht … später einmal …«
»Doch wann?« fragt der Violoncellist, der ob dieser geheimnisvollen Ausflüchte langsam in die Wolle kommt.
»Nach Beendigung unseres kleinen Ausflugs, Herr Zorn.«
»Wir kehren demnach zu dieser Kirche zurück?«
»Nein, liebe Freunde. Wir beschließen unseren Spaziergang durch einen Besuch des Observatoriums, dessen Turm den der Saint-Mary-Church um ein Drittel an Höhe überragt.«
»Ich sehe aber nicht ein«, fährt Frascolin dringender fort, »warum wir die sich hier bietende Gelegenheit nicht benützen sollten …«
»Weil … weil mir damit der Schlusseffekt verdorben würde.«
Eine andere Antwort ist dem rätselhaften Mann nicht zu entlocken.
Da es das beste erscheint, sich ins Unvermeidliche zu fügen, werden die verschiedenen Avenues der zweiten Hälfte gewissenhaft durchwandert. Dem folgt ein Besuch der Handelsviertel, der der Schneider, Schuhmacher, Hutmacher, Fleischer, Gewürzkrämer, Bäcker, Fruchthändler usw. Calistus Munbar, der von den meisten ihm begegnenden Personen gegrüßt wird, erwidert diese Grüße mit eitler Selbstgefälligkeit. Er ermüdet nicht in seinen Standreden, zeigt auf alles Bemerkenswerte hin, und seine Zunge schwingt im Munde ebenso eifrig, wie der Klöppel einer Kirchenglocke am Feiertage.
Gegen zwei Uhr ist das Quartett an dieser Seite zur Grenze der Stadt gelangt, die von einem herrlichen, mit Blumen und Schlingpflanzen verzierten Gitter gebildet wird. Weiter draußen liegt offenes Land, dessen Kreislinie mit dem Horizonte zusammenfällt.
Weiter draußen liegt offenes Land.
Hier macht Frascolin für sich eine Beobachtung, die er seinen Genossen noch nicht mitteilen zu sollen glaubt. Alles wird sich ja auf der Höhe des Turmes vom Observatorium erklären. Diese Beobachtung geht dahin, dass die Sonne, statt sich in Südwest zu befinden, wo sie doch nach zwei Uhr nachmittags sein sollte, jetzt mehr im Südosten steht.
Ein so überlegender Geist wie Frascolin musste darüber notwendigerweise erstaunen, und er fing schon an, sich »das Gehirn zu zermartern«, wie Rabelais2 sagt, als Calistus Munbar seinen Gedanken eine andere Richtung gab, indem er plötzlich ausrief:
»Meine Herren, die Trambahn wird in wenigen Minuten abgehen. Wir wollen nach dem Hafen aufbrechen …«
»Nach dem Hafen?« wiederholt Sébastien Zorn erstaunt.
»Ja, es handelt sich nur um eine Fahrt von höchstens einer Meile (1609 Meter), wobei Sie auch Gelegenheit finden, unseren Park zu bewundern.«
Wenn es hier einen Hafen gibt, so muss er etwas ober- oder unterhalb der Stadt, an der Küste Nieder-Kaliforniens liegen. Wo sollte man ihn sonst suchen, wenn nicht an irgendeinem Punkte dieses Küstenstrichs?
Ein wenig betroffen nehmen die Künstler auf den Bänken eines eleganten Tramwagens Platz, in dem schon mehrere andere Fahrgäste sitzen.
Diese drücken Calistus Munbar die Hand – der Sapperment ist doch aller Welt bekannt – und die Dynamos des Wagens arbeiten mit gewohntem Eifer.
Calistus Munbar hatte recht, die nächste Umgebung der Stadt als »Park« zu bezeichnen. Hier zeigen sich unendlich lange Alleen, saftig grüner Rasen, farbige, grade oder zickzackförmige Umschließungen, Fences genannt; rund um die abgegrenzten Flächen stehen Baumgruppen mit Eichen, Ahorn, Buchen, Kastanien- und Zirbelbäumen, Ulmen und Zedern, alle noch jung und von den verschiedensten Vögeln belebt. Das Ganze ist eine richtige englische Anlage mit plätschernden Springbrunnen und Blumenarrangements, die jetzt in frischester Frühlingspracht prangen, mit Strauchwerk der verschiedensten Arten, wie riesige, denen in Monte Carlo gleichenden Geranien, mit Orangen-, Zitronen- und Olivengebüsch, mit Lorbeerrosen, Mastix, Aloes, Kamelie, Dahlien, weißen Alexandrinerrosen, Hortensien, weißen und rosenroten Lotosblumen, mit südamerikanischen Passionsblumen, reichen Sammlungen von Fuchsien, Salbei, Begonien, Hyazinthen, Tulpen, Krokus, Narzissen, persischen Ranunkeln, bärtiger Iris, Zyklamens, Orchideen, Pantoffelblumen, baumartigem Farn, und ferner mit Vertretern der Tropenzone, wie indischem Blumenrohr, Palmen, Datteln, Feigen, Eukalypten, Mimosen, Bananen, Goyaven (indischen Birnen), Flaschenkürbissen, Kokosbäumen – kurz, mit allem, was der Pflanzenfreund in den reichsten botanischen Gärten nur suchen kann.
Bei seiner Vorliebe für die alte Poesie muss sich Yvernes in die bukolischen Gefilde aus der Geschichte der Asträa versetzt wähnen. Wenn freilich auch die Lämmer den frischen Grasflächen nicht fehlen, rötliche Kühe zwischen den Umgrenzungen weiden und Damwild, Hirschkühe und andere graziöse Vierfüßler zwischen den Bäumen sich tummeln, so wird er doch die Schäfer D’Urfés und dessen reizende Schäferinnen vermissen. Was den Lignon angeht, so wird dieser durch einen geschlängelten Flusslauf ersetzt, dessen murmelndes Wasser durch die leichthügelige Landschaft hingleitet.
Das Ganze erscheint nur wie künstlich geschaffen.
Das Ganze erscheint nur wie künstlich geschaffen.
Der ironische Pinchinat sieht sich deshalb zu der Bemerkung veranlasst:
»Ah, das ist wohl alles, was Sie an Flüssen angelegt haben?«
»An Flüssen?… Wozu sollten sie dienen?« antwortet Calistus Munbar.
»Nun, selbstverständlich, um Wasser zu haben.«
»Wasser … das heißt, eine im Allgemeinen ungesunde, mikrobische und den Typhus gebärende Flüssigkeit?«
»Mag sein, man kann sie aber doch reinigen …«
»Wozu sich erst damit bemühen, wenn man imstande ist, ein hygienisches, von jeder Verunreinigung freies, auf Wunsch auch moussierendes oder eisenhaltiges Wasser zu erzeugen?«
»Sie fabrizieren also Ihr Wasser?« erkundigt sich Frascolin.
»Gewiss, und wir liefern es kalt oder warm in die Wohnungen, ebenso wie wir Licht, Töne, Zeit, Wärme, Kälte, motorische Kraft, Antiseptika und Elektrizität durch Selbstleitung verteilen …«
»Dann darf man wohl auch annehmen«, spöttelt Yvernes, »dass Sie sich den nötigen Regen erzeugen, um Ihre Rasenflächen und Blumen zu erfrischen?«
»Wie Sie sagen, Herr erster Geiger«, versichert der Amerikaner, während er mit den von Juwelen glitzernden Fingern durch den dichten Bart streicht.
»Also Regen auf Befehl!« ruft Sébastien Zorn.
»Jawohl, liebe Freunde, Regen, den ein im Erdboden liegendes Röhrennetz in regelmäßig geordneter, vorteilhafter und praktischer Weise zu spenden und zu verteilen gestattet. Ist das nicht weit besser als zu warten, bis es der Natur zu regnen beliebt, sich den Launen der Klimate zu unterwerfen, auf unpassende Witterung zu schimpfen, die einmal eine zu lange andauernde Nässe und dann wieder eine verzehrende Dürre bietet, ohne Abhilfe schaffen zu können?«
»Halt, hier muss ich Sie festnageln, Herr Munbar!« fällt Frascolin ein. »Zugegeben, dass Sie sich Regen zu verschaffen vermögen, so werden Sie doch nicht imstande sein, ihn zu verhindern, vom Himmel zu fallen.«
»Vom Himmel? Was hat denn der damit zu schaffen?«
»Nun, der Himmel oder, wenn Sie das lieber wollen, die Wolken, die sich entleeren, die atmosphärischen Strömungen mit ihrem Gefolge von Zyklonen, Tornados, Windstößen, Stürmen, Orkanen … Wenn z.B. die schlechte Jahreszeit kommt …«
»Die schlechte Jahreszeit …?« wiederholt Calistus Munbar.
»Ja, der Winter …«
»Der Winter?… Was ist denn das?«
»Ich sagte: der Winter mit Frost, Schnee und Eis!« ruft Sébastien Zorn, den die ironischen Antworten des Yankee in Wut bringen.
»Kennen wir nicht!« versichert Calistus Munbar sehr gelassen.
Die vier Pariser sehen einander an. Haben sie hier einen Narren oder einen Menschen vor sich, der sie nur foppen will? Im ersten Falle müsste er eingesperrt, im zweiten durch eine Tracht Prügel kuriert werden.
Inzwischen rollen die Tramwagen mit mäßiger Schnelligkeit durch die bezaubernden Anlagen dahin. Sébastien Zorn und seine Genossen glauben zu bemerken, dass jenseits der Grenzen dieses großen Parks regelrecht angebaute Landstücke liegen, die mit ihren verschiedenen Farben den Stoffmustern ähneln, wie man solche zuweilen an Schneiderläden ausgestellt findet. Jedenfalls sind das Felder mit Gemüsen, Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Lauch, kurz mit allem, was zur gewöhnlichen Küche gehört.
Gern wären sie schon draußen im freien Lande gewesen, um zu sehen, was dieses eigenartige Gebiet an Korn, Weizen, Hafer, Mais, Gerste, Buchweizen und anderen Körnerfrüchten hervorbrachte.
Dagegen zeigt sich eine große Werksanlage, deren eiserne Schornsteine die niedrigen, mit mattem Glas eingedeckten Dächer daneben überragen. Die von eisernen Stangen gehaltenen Schornsteine gleichen denen eines Dampfers, eines »Great Eastern«, dessen mächtige Schrauben von hunderttausend Pferdekräften bewegt werden, nur mit dem Unterschiede, dass ihnen statt des schwarzen Rauches nur dünne Wölkchen entsteigen, die die Luft nicht im mindesten verunreinigen.
Diese Anlage bedeckt eine Fläche von zehntausend Quadratyards, also fast einen Hektar. Es ist das erste industrielle Etablissement, das dem Quartett, seitdem es unter Führung des Amerikaners seine »Ausflüge macht«, hier vor Augen gekommen ist.
»Ah, was für eine Anlage ist das?« fragt Pinchinat.
»Eine Fabrik mit Petroleum-Verdampfungsapparaten«, antwortet Calistus Munbar, dessen spitziger Blick die Gläser seines Binokels zu durchbohren droht.
»Und was erzeugt man in dieser Fabrik?«
»Elektrische Energie für den Park, das Feld und überhaupt für die ganze Stadt, wo sie in Kraft umgesetzt wird. Diese Werkstätten liefern auch den Strom für unsere Telegrafen, Telautografen, Telefone, Telefote, für die Klingeln und Küchenöfen, die Arbeitsmaschinen, Bogen- und Glühlampen, für unsere Aluminiummonde und unterseeischen Kabel …«
»Ihre unterseeischen Kabel?« fällt Frascolin lebhaft ein.
»Gewiss, für die, die die Stadt mit verschiedenen Stellen der amerikanischen Küste verbinden …«
»Und dazu war es nötig, ein so ungeheures Werk zu errichten?«
»Das will ich meinen, bei unserem großen Verbrauch an elektrischer … und auch an moralischer Energie!« erwidert Calistus Munbar. »Glauben Sie mir, meine Herren, es hat einer unberechenbaren Dosis von letzterer bedurft, um diese unvergleichliche, in der Welt ohne Rivalin dastehende Stadt zu gründen!«
Weithin in der Umgebung hört man das dumpfe Getöse aus dem riesigen Werke, das mächtige Abblasen des Dampfes, das Stoßen der Maschinen, und fühlt man ein Zittern des Erdbodens als Beweis für die ungeheure Kraft, die alles übertrifft, was in der modernen Industrie bisher geleistet worden ist. Wer hätte ahnen können, dass eine solche Kraft zur Bewegung der Dynamos und zur Ladung der Akkumulatoren nötig gewesen wäre?
Der Wagen rollt weiter und hält nach etwa einer Viertelmeile Weges an der Station beim Hafen. Alle steigen aus, und ihr Führer, der wie immer von Lobpreisungen überfließt, geleitet sie nach den Kais, an denen Niederlagen und Docks errichtet sind. Der Hafen bildet ein Oval, geräumig genug, um etwa ein Dutzend Seeschiffe aufzunehmen. Es ist mehr ein Bassin als ein Hafen, das durch zwei auf Eisengerüsten ruhenden Piers gebildet und an jeder Seite mit einem kleinen Leuchtturm ausgestattet ist, um das Einlaufen von Schiffen zu jeder Zeit zu ermöglichen.
Heute liegen in dem Bassin nur ein halbes Dutzend Dampfer, wovon die einen Petroleum zuführen, die anderen Vorräte für den täglichen Bedarf gebracht haben, und außerdem einige mit elektrischen Apparaten versehene größere Boote, die zum Fischfang auf hoher See verwendet werden.
Frascolin beobachtet, dass der Eingang zum Hafen nach Norden zu liegt, und schließt daraus, dass er das nördliche Ende einer jener Landspitzen einnehmen muss, die sich von der Küste Nieder-Kaliforniens in den Stillen Ozean hinaus erstrecken. Er bemerkt auch, dass die Meeresströmung mit ziemlicher Intensität nach Osten hin verläuft, weil sie am Unterbau der Piers wie die an die Planken eines segelnden Fahrzeuges anklatschenden Wellen anschlägt – offenbar eine Wirkung der steigenden Flut, obwohl die Gezeiten an den Westküsten Amerikas nicht eben stark auftreten.
Frascolin beobachtet.
»Wo ist denn nun der Fluss, über den wir gestern mit dem Fährschiffe gekommen sind?« fragt Frascolin.
»Dem wenden wir jetzt den Rücken zu«, begnügt sich der Yankee zu antworten.
Nun gilt es aber, mit der Zeit zu geizen, wenn die Gesellschaft noch zur Stadt zurückkehren will, um den Zug nach San Diego zu benützen.
Sébastien Zorn erinnert Calistus Munbar daran, und dieser erwidert:
»Fürchten Sie nichts, liebe Freunde, wir haben Zeit genug. Die Trambahn befördert uns, nachdem wir am Ufer entlanggegangen sind, zur Stadt zurück. Sie hatten den Wunsch ausgedrückt, einen Überblick über diese Gegend zu haben, und vor Ablauf einer Stunde werden Sie den vom Turme des Observatoriums aus genießen können.«
»Sie stehen also dafür ein …«, begann der Violoncellist noch einmal.
»Ich stehe dafür ein, dass Sie morgen bei Sonnenaufgang nicht mehr da sein werden, wo Sie augenblicklich sind!«
Mit dieser etwas erkünstelten Antwort mussten sie sich wohl oder übel begnügen. Übrigens quält Frascolin die Neugier vielleicht noch mehr als die anderen. Es verlangt ihn, auf jenem Turm zu stehen, von wo aus der Blick nach Aussage des Amerikaners sich über einen Horizont von wenigstens hundert Meilen Umfang erstreckt. Erlangte man dadurch keine Klarheit über die geographische Lage dieser merkwürdigen Stadt, so musste man wohl für immer darauf verzichten.
Am hintern Teile des Hafenbassins mündet eine andere Trambahn, die längs des Meeres hin verläuft. Der abgehende Zug besteht aus sechs Wagen, in denen schon viele Fahrgäste sitzen. Diese Wagen werden von einer elektrischen Lokomotive gezogen, deren Akkumulatoren eine Kapazität von zweihundert Volt-Ampere haben, und ihre Geschwindigkeit erreicht achtzehn Kilometer in der Stunde.
Calistus Munbar nötigt das Quartett einzusteigen, und unsere Pariser konnten glauben, dass der Trambahnzug nur auf sie gewartet hätte.
Was sie von der Landschaft zu sehen bekommen, unterscheidet sich wenig von dem Parke, der sich zwischen Stadt und Hafen ausdehnt. Derselbe ebene und sorgfältig unterhaltene Erdboden. Grüne Wiesen und Felder statt der Rasenflächen, das ist alles; Gemüsepflanzungen, doch keine Getreideäcker. Eben jetzt ergießt sich, aus den unterirdischen Röhren hervorspringend, ein wohltätiger, reichlicher Regen auf die langen, nach Winkel und Richtscheit angelegten Rechtecke.
Der Himmel hätte ihn gar nicht so genau berechnet und zweckentsprechend verteilen können.
Die Gleise folgen dem Ufer, sodass sie das Meer auf der einen, das Land auf der anderen Seite haben. So rollen die Wagen fast vier Meilen – gegen sechs Kilometer – dahin. Dann halten sie vor einer Batterie von zwölf großen Geschützen, zu denen der Eingang die Aufschrift: »Rammsporn-Batterie« trägt.
»Hinterladekanonen, die sich niemals nach der falschen Seite entladen, wie das bei den Geschützen des alten Europa so häufig vorkommt!« bemerkt Calistus Munbar dazu.
An dieser Stelle zeigt die Küste einen sehr scharfen Rand und bildet einen spitz auslaufenden Vorsprung, der dem Vorderteile eines Schiffsrumpfes oder gar dem Sporn eines Panzerschiffes gleicht, an dem sich die Wellen zerteilen, indem sie ihn mit ihrem weißen Schaum benetzen. Offenbar ist das eine Wirkung der Strömung, denn draußen bewegt sich das Wasser nur in langer, flacher Dünung,3 die mit dem Niedergange der Sonne noch weiter abzunehmen verspricht.
Von diesem Punkte geht eine zweite Trambahnlinie nach dem Mittelpunkte der Stadt aus, während die erstere der Uferkrümmung weiter folgt.
Calistus Munbar steigt hier mit seinen Gästen um und meldet ihnen, dass sie nun geradewegs nach der Stadt zurückkehren werden.
Die Promenade ist auch lang genug gewesen. Calistus Munbar zieht seine Uhr hervor, ein Meisterstück von Sivan in Genf … eine sprechende, phonographische Uhr. Er drückt daran auf einen Knopf und man hört sie deutlich sagen: »Vier Uhr dreizehn Minuten.«
»Sie vergessen doch nicht, dass wir den Turm des Observatoriums besteigen wollen?« meldet sich Frascolin.
»Vergessen, meine lieben und schon alten Freunde! … Eher würde ich meinen eigenen Namen vergessen, der sich übrigens einiger Berühmtheit erfreut. Noch vier Meilen, und wir werden vor dem prächtigen Gebäude stehen, das am Ende der Ersten Avenue errichtet ist und die beide Hälften unserer Stadt scheidet.«
Der Wagen ist abgegangen. Jenseits der Felder, auf die noch immer »der Nachmittagsregen« – so sagte der Amerikaner – niederrieselt, zeigt sich wieder der mit Barrieren umschlossene Park mit seinen Baumgruppen, Rasenflächen und Blumenkörben.
Da schlägt es halb fünf Uhr. Zwei Weiser zeigen die Stunde auf einem riesigen Zifferblatte, das, an einem viereckigen Turme angebracht, etwa dem des Londoner Parlamentshauses ähnelt.
Am Fuße des Turmes liegen die für die verschiedenen Dienstzweige des Observatoriums bestimmten Gebäude. Einige derselben, die mit metallenen Kuppeln und verglasten Spalten in letzteren versehen sind, gestatten den Astronomen, den Lauf der Gestirne zu beobachten. Sie umschließen einen geräumigen Hof, in dessen Mitte sich der hundertfünfzig Fuß hohe Turm erhebt. Von seiner oberen Galerie reicht der Blick auf fünfundzwanzig Kilometer weit hinaus, da der Horizont von keinem Hügel, keinem Berg verdeckt wird.
Seinen Gästen vorausgehend, schreitet Calistus Munbar durch eine Tür, die ihm ein Diener in reicher Livrée geöffnet hat. Im Hintergrunde des Hausflurs befindet sich der mittels Elektrizität betriebene Aufzug. Das Quartett nimmt mit seinem Führer in dem Fahrstuhle Platz. Dieser steigt sofort sanft und gleichmäßig in die Höhe. Nach fünfundvierzig Sekunden hält er an der Plattform des Turmes an.
Auf dieser Plattform erhebt sich eine riesige Flaggenstange, an der das Flaggentuch im schwachen Nordwinde flattert.
Welche Nationalität diese Flagge bezeichnet, vermögen unsere Pariser nicht zu ergründen. Auf den ersten Blick scheint es die amerikanische Flagge mit den waagrechten rotweißen Streifen zu sein; die obere innere Ecke enthält aber statt der siebenundsechzig Sterne, die zu jener Zeit am Firmament des Staatenbundes funkeln, nur einen einzigen: einen Stern oder vielmehr eine goldene Sonne, die von dem Himmelblau der Flaggenecke schimmert und mit dem Strahlenglanze des Tagesgestirns rivalisieren zu können scheint.
»Unsere Flagge, meine Herren«, sagt Calistus Munbar, der ehrerbietig das Haupt entblößt.
Sébastien Zorn und seine Kameraden können nicht umhin, es ihm nachzutun. Dann treten sie an die Brustwehr der Plattform heran, beugen sich hinaus …
Da entringt sich ihrer Brust ein lauter Aufschrei – erst der Überraschung und dann des hellen Zorns.
Vor ihren Blicken liegt das ganze Land, und dieses Land zeigt die Form eines regelmäßigen Ovals, das von einem Meereshorizonte eingefasst ist. Soweit der Blick schweifen kann, nirgends ist Land in Sicht.
Und doch sind Sébastien Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat gestern in der Nacht, nachdem sie das Dorf Freschal im Wagen des Amerikaners verlassen hatten, zwei Meilen weit stets dem Wege über Land gefolgt. Darauf haben sie, gleich im Wagen verbleibend, mittels der Fähre nur einen Wasserlauf überschritten und sind dann wieder auf festes Land gekommen. Hätten sie die Küste Kaliforniens auf einem Schiffe verlassen, so müssten sie das doch bemerkt haben …
Frascolin wendet sich voller Erregung an Calistus Munbar.
»Wir sind doch auf einer Insel?« fragt er.
»Wie Sie sagen«, bestätigte der Yankee, dessen Mund sich zum verbindlichsten Lächeln verzieht.
»Und welche Insel ist das?«
»Standard Island.«
»Und diese Stadt heißt …?«
»Milliard City.«
Standard Island
1 Angehörigen der sozialen Oberschicht <<<
2 nach François Rabelais, französischer Schriftsteller der Renaissance (1494–1553) <<<
3 durch den Wind hervorgerufener Seegang mit gleichmäßigen, lang gezogenen Wellen <<<