Читать книгу Die Propeller-Insel - Jules Verne, Jules Verne - Страница 14

Sechstes Kapitel – Eingeladene … Inviti

Оглавление

Wenn man auch an­neh­men darf, dass Sé­bas­ti­en Zorn, Fras­co­lin, Yver­nes und Pin­chi­nat Leu­te wa­ren, die über nichts er­staun­ten, so wur­de es die­sen doch schwer, in ge­wiss be­grün­de­tem Un­wil­len dem Ca­lis­tus Mun­bar nicht an die Keh­le zu sprin­gen. Es soll ei­ner nur in dem Glau­ben le­ben, auf dem Bo­den des west­li­chen Ame­ri­ka um­her­zu­wan­deln, und dann er­ken­nen, dass man ihn aufs hohe Meer hin­aus­be­för­dert! Man soll sich für ei­ni­ge zwan­zig Mei­len von San Die­go ent­fernt hal­ten, wo man am nächs­ten Tage zu ei­nem Kon­zert er­war­tet wird, und dann ganz schlank­weg hö­ren, dass man auf ei­ner schwim­men­den In­sel im­mer wei­ter da­von hin­weg­treibt! Wahr­haf­tig, ein Über­fall wäre zu ver­zei­hen ge­we­sen.

Zu sei­nem Glücke hat­te sich der Ame­ri­ka­ner ei­nem sol­chen ers­ten Wut­aus­bru­che zu ent­zie­hen ge­wusst. Sich die Über­ra­schung oder rich­ti­ger die Ver­blüf­fung des Kon­zert-Quar­tetts zu­nut­ze ma­chend, ver­lässt er die Platt­form des Tur­mes, be­tritt den Fahr­stuhl und ist da­mit vor­läu­fig vor den Vor­wür­fen und et­wai­gen Hand­greif­lich­kei­ten der vier Pa­ri­ser ge­schützt.

»Solch ein Schur­ke!« ruft das Vio­lon­cell.

»Solch ein Un­tier!« fällt die Brat­sche ein.

»Oho … wenn wir’s ihm zu ver­dan­ken ha­ben, ein rei­nes Wun­der ken­nen­zu­ler­nen …«, lässt sich die ers­te Vio­li­ne ver­neh­men.

»Du willst ihn doch nicht gar noch ent­schul­di­gen?« meint die zwei­te Gei­ge.

»Hier gib­t’s kei­ne Ent­schul­di­gung«, ruft Pin­chi­nat, »und wenn sich auf Stan­dard Is­land noch Ge­rech­tig­keit fin­det, las­sen wir ihn ver­don­nern, die­sen Ma­le­fiz­kerl von Yan­kee!«

»Und wenn’s noch einen Hen­ker gibt«, brüllt Sé­bas­ti­en Zorn, »dann las­sen wir ihn auf­knüp­fen!«

Um so schö­ne Vor­sät­ze aus­zu­füh­ren, gilt es frei­lich zu­erst zum Ni­veau der Ein­woh­ner von Mil­li­ard City hin­ab­zu­ge­lan­gen, da hun­dert­fünf­zig Fuß hoch in der Luft na­tür­lich kei­ne Po­li­zei tä­tig ist. Das konn­te ja in we­ni­gen Au­gen­bli­cken ge­sche­hen sein, wenn ein Ab­stieg mög­lich war. Der Fahr­stuhl des Auf­zugs ist aber nicht wie­der her­auf­ge­kom­men, und nir­gends fin­det sich et­was wie eine Trep­pe. Das Quar­tett be­fin­det sich also auf der Höhe des Tur­mes au­ßer Ver­bin­dung mit der üb­ri­gen Mensch­heit.

Nach dem ers­ten Aus­bru­che der Ent­täu­schung und der Wut sind Sé­bas­ti­en Zorn, Pin­chi­nat und Fras­co­lin, die Yver­nes sei­ner Be­wun­de­rung über­las­sen, end­lich völ­lig still ge­wor­den und rüh­ren sich nicht von der Stel­le. Über ih­nen flat­tert die Flag­ge an der lan­gen Fah­nen­stan­ge. Sé­bas­ti­en Zorn wan­delt eine grim­mi­ge Lust an, die Hiss­lei­ne zu durch­schnei­den und die Flag­ge wie die ei­nes sich er­ge­ben­den Kriegs­schif­fes zu sen­ken. Im­mer­hin er­scheint es bes­ser, sich nicht in eine viel­leicht schlimm aus­lau­fen­de Ge­schich­te ein­zu­las­sen, und sei­ne Ka­me­ra­den hal­ten ihn noch zu­rück, als er schon mit ei­nem scharf ge­schlif­fe­nen Bo­wie­mes­ser her­um­fuch­telt.

Seine Kameraden halten ihn zurück.

»Ach­tung, wir wol­len vor al­lem nicht uns ins Un­recht ver­set­zen«, mahnt der klu­ge Fras­co­lin.

»Du er­gibst dich also in un­se­re elen­de, lä­cher­li­che Lage?« fragt Pin­chi­nat.

»Das nicht … doch wir wol­len sie nicht noch mehr kom­pli­zie­ren.«

»Und un­ser Ge­päck, das in­zwi­schen nach San Die­go un­ter­wegs ist!« be­merkt der Brat­schist, die Arme kreu­zend.

»Und un­ser für mor­gen an­ge­setz­tes Kon­zert!« ruft Sé­bas­ti­en Zorn.

»Das ge­ben wir durchs Te­le­fon!« ant­wor­tet der ers­te Gei­ger, des­sen Scherz nicht ge­eig­net ist, die Reiz­bar­keit des ko­chen­den Vio­lon­cel­lis­ten ab­zu­stump­fen.

Das Ob­ser­va­to­ri­um nimmt, wie wir wis­sen, die Mit­te ei­nes großen Vier­ecks ein, an dem die First Ave­nue aus­mün­det. Am an­de­ren Ende die­ser drei Ki­lo­me­ter lan­gen Haupt­ver­kehrs­ader, die die bei­den Hälf­ten von Mil­li­ard City schei­det, er­bli­cken die Künst­ler eine Art mo­nu­men­ta­len Palast, der von ei­nem leich­ten und sehr ele­gan­ten Wart­turm über­ragt wird. Sie sa­gen sich, dass das der Sitz der Re­gie­rung, die Re­si­denz der obers­ten Stadt­be­hör­de sein wer­de, wenn Mil­li­ard City über­haupt einen Bür­ger­meis­ter und an­de­re Be­am­te hat. Sie täu­schen sich hier­in nicht. Eben jetzt be­ginnt die Uhr je­nes Wart­turms ein herr­li­ches Glo­cken­spiel, des­sen Klän­ge auf den Wel­len des Win­des bis zum Tur­me hier her­über­ge­lan­gen.

»Hört! … Das geht aus D-dur«, sagt Yver­nes.

»Und im Zwei­vier­tel­takt«, setzt Pin­chi­nat hin­zu.

Da schlägt der Wart­turm fünf Uhr.

»Und wann es­sen wir«, ruft Sé­bas­ti­en Zorn, »wie wird’s mit dem Schla­fen? Sol­len wir etwa we­gen des Spitz­bu­ben von Mun­bar hier auf der Platt­form des Tur­mes die Nacht in frei­er Luft zu­brin­gen?«

So scheint es al­ler­dings, denn der Fahr­stuhl kommt nicht wie­der her­auf, um die Ge­fan­ge­nen zu er­lö­sen.

In je­nen nied­ri­gen Brei­ten dau­ert die Däm­me­rung nur kur­ze Zeit, und das Strah­len­ge­stirn stürzt wie ein Ge­schoss nach dem Ho­ri­zon­te hin­ab. Blickt das Quar­tett nach den äu­ßers­ten Gren­zen des Him­mels hin­aus, so schim­mert ihm nur das un­be­grenz­te Meer, ohne ein Se­gel, ohne eine Rauch­säu­le ent­ge­gen. Über das Stück Land un­ter ihm rol­len die Tram­wa­gen an der Pe­ri­phe­rie der In­sel oder ei­len von ei­nem Ha­fen zum an­de­ren hin. Zur Stun­de ist der Park noch sehr be­lebt. Oben vom Tur­me aus wür­de man ihn für einen rie­si­gen Blu­men­korb an­se­hen, worin Aza­leen, Kle­ma­tis, Jas­min, Gly­ci­nen, Pas­si­ons­blu­men, Be­go­ni­en, Hya­zin­then, Dah­li­en, Ka­me­li­en und Hun­der­te von Ro­sen­sor­ten blü­hen. Da strö­men Spa­zier­gän­ger hin­zu … ge­mach­te Män­ner und jun­ge Leu­te, nicht sol­che »Zier­ben­gel«, wie sie lei­der in eu­ro­päi­schen Groß­städ­ten so vie­le her­um­lau­fen, son­dern ge­sun­de, kräf­ti­ge Jüng­lin­ge. Frau­en und jun­ge Mäd­chen, meist in stroh­gel­ber Toi­let­te – dem da­für un­ter den Tro­pen be­lieb­tes­ten Far­ben­to­ne – lei­ten schlan­ke, mit Sei­den­de­cken ge­schütz­te Wind­spie­le mit gol­di­gen Hals­bän­dern an wei­cher Schnur. Da und dort folgt die­se Gen­try den fein­san­di­gen Al­leen, die sich durch den Park hin­win­den. Hier sieht man die einen auf die Pols­ter der elek­tri­schen Stra­ßen­bahn­wa­gen hin­ge­streckt, dort ru­hen an­de­re auf den von dich­tem Grün über­dach­ten Bän­ken. Noch wei­ter drau­ßen wid­men sich jun­ge Gent­le­men dem Lawn-ten­nis, dem Krocket, Golf oder dem Fuß­ball­spie­le, wäh­rend an­de­re auf mun­te­ren Po­nies dem Polo ob­lie­gen. Gan­ze Scha­ren von Kin­dern – von je­nen ame­ri­ka­ni­schen Kin­dern, die sich so schnell ent­wi­ckeln und bei de­nen, vor­züg­lich bei den klei­nen Mäd­chen, eine aus­ge­spro­che­ne In­di­vi­dua­li­tät so be­zeich­nend her­vor­tritt – tum­meln sich auf den Ra­sen­plät­zen. Da­zwi­schen trot­ten Rei­ter auf ele­gan­ten Pfer­den oder sieht man hier und da über­mü­tig lus­ti­ge Gar­ten­ge­sell­schaf­ten.

Auch den Han­dels­vier­teln fehlt es zur Stun­de nicht an Be­such.

Die be­weg­li­chen Trot­toirs glei­ten mit ih­rer Last längst der Haupt­stra­ße da­hin. Am Fuße des Tur­mes, in dem Vier­eck des Ob­ser­va­to­ri­ums, ge­hen vie­le Per­so­nen hin und her, de­ren Auf­merk­sam­keit die Ge­fan­ge­nen wohl er­re­gen könn­ten. Pin­chi­nat und Fras­co­lin ru­fen auch wie­der­holt laut hin­un­ter. Dass sie ge­hört wur­den, er­kennt man dar­aus, dass man­che Arme sich em­por­stre­cken, ja auch ein­zel­ne Wor­te drin­gen bis zu ih­nen hin­auf.

Nie­mand zeigt die ge­rings­te Über­ra­schung oder scheint sich über die Grup­pe auf der Platt­form ir­gend­wie zu ver­wun­dern. Die oben ver­ständ­li­chen Wor­te be­ste­hen in ei­nem »Good bye«, ei­nem »How do You do!«, ei­nem »Gu­ten Tag« oder an­de­ren land­läu­fi­gen Höf­lich­keits­aus­drücken. Es scheint, als ob die gan­ze Be­völ­ke­rung von dem Ein­tref­fen der vier Pa­ri­ser, die Ca­lis­tus Mun­bar emp­fan­gen hat­te, völ­lig un­ter­rich­tet sei.

»He … he … die ma­chen sich über uns noch lus­tig!« sagt Pin­chi­nat.

»Das scheint mir auch so!« stimmt ihm Yver­nes bei.

So ver­rinnt eine Stun­de – eine Stun­de, aber alle Rufe nach un­ten blei­ben nutz­los. Die dring­li­chen Bit­ten Fras­co­lins ha­ben eben­so­we­nig Er­folg, wie das Schmä­hen und Schel­ten Sé­bas­ti­en Zorns. Die Zeit zum Es­sen rückt im­mer nä­her, der Park wird von Spa­zier­gän­gern, die Stra­ße von mü­ßi­gen Fla­neu­ren im­mer lee­rer. Es ist zum Toll­wer­den!

»Wir glei­chen ohne Zwei­fel«, sagt Yver­nes, ro­man­ti­schen Erin­ne­run­gen nach­hän­gend, »je­nen pro­fa­nen Gäs­ten, die ein bö­ser Geist an einen ge­hei­lig­ten Ort ver­lockt hat, und die nun den Tod er­lei­den müs­sen, weil sie et­was ge­se­hen hat­ten, was ihre Au­gen nicht se­hen durf­ten …«

»Und hier lässt man uns den Qua­len des Hun­gers er­lie­gen!« seufzt Pin­chi­nat.

»Nicht ohne dass wir al­les mög­li­che ver­sucht ha­ben wer­den, um un­se­re Exis­tenz zu ver­län­gern!« er­klärt Sé­bas­ti­en Zorn.

»Und wenn wir ge­zwun­gen sind, ei­ner den an­de­ren auf­zuz­eh­ren, dann kommt Yver­nes zu­erst an die Rei­he!« sagt Pin­chi­nat.

»Wie es euch be­liebt!« stöhnt die ers­te Gei­ge mit schwa­cher Stim­me und senkt schon den Kopf, um den To­dess­treich zu emp­fan­gen.

Da dringt vom Tur­me un­ten ein Geräusch her­auf. Der Fahr­stuhl glei­tet nach oben und hält im Ni­veau der Platt­form an. Bei dem Ge­dan­ken, Ca­lis­tus Mun­bar wie­der auf­tau­chen zu se­hen, be­rei­ten sich die Ge­fan­ge­nen schon, ihn nach Ge­bühr zu emp­fan­gen …

Der Fahr­stuhl ist leer.

Gut, so ist die Sa­che auf­ge­scho­ben; die Gef­opp­ten wer­den den sau­be­ren Herrn schon fin­den. Jetzt gil­t’s nur, ei­ligst nach der Erde hin­ab­zu­ge­lan­gen, und das ein­zi­ge Mit­tel dazu ist, im Fahr­stuhl Platz zu neh­men.

Das ge­schieht denn auch so­fort. So­bald der Vio­lon­cel­list nebst Ge­nos­sen sich in dem Be­häl­ter be­fin­den, setzt die­ser sich in Be­we­gung und langt bin­nen kaum ei­ner Mi­nu­te un­ten im Tur­me an.

»Und nun«, ruft Pin­chi­nat mit dem Fuße stamp­fend, »be­fin­den wir uns nicht ein­mal auf na­tür­li­chem Bo­den!« (Im Ori­gi­nal ein Wort­spiel, da »sol« eben­so Bo­den, Erd­bo­den heißt, wie es das »G« der Ton­lei­ter be­zeich­net.)

Für der­ar­ti­ge Kalau­er war der Zeit­punkt frei­lich schlecht ge­wählt. Es er­folgt auch kei­ne Ant­wort dar­auf. Die Tür ist of­fen. Alle vier tre­ten hin­aus. Der in­ne­re Hof ist men­schen­leer. Sie schrei­ten dar­über hin und fol­gen ei­ner Ave­nue.

Ein­zel­ne Per­so­nen kom­men an den Fremd­lin­gen vor­über, ohne die­sen ir­gend­wel­che Be­ach­tung zu schen­ken. Auf eine Be­mer­kung Fras­co­lins, der vor al­lem Klug­heit emp­fahl, muss Sé­bas­ti­en Zorn auf al­les Schimp­fen und Wet­tern ver­zich­ten. Bei den Be­hör­den nur wol­len sie Ge­rech­tig­keit su­chen. Das läuft ih­nen ja nicht da­von. Man be­schließt also, erst nach dem Ex­zel­si­or-Ho­tel zu ge­hen und da den nächs­ten Mor­gen ab­zu­war­ten, um dann in der Ei­gen­schaft als freie Män­ner sei­ne Rech­te gel­tend zu ma­chen. Das Quar­tett wan­dert also die First Ave­nue hin­auf.

Ha­ben un­se­re Pa­ri­ser denn das Pri­vi­le­gi­um, die öf­fent­li­che Auf­merk­sam­keit zu er­we­cken? … Ja und nein. Man sieht sie wohl an, doch nicht in auf­fal­len­der Wei­se, höchs­tens so, als ge­hör­ten sie zu den sel­te­nen Tou­ris­ten, die Mil­li­ard City zu­wei­len be­su­chen. Un­ter dem Dru­cke ganz au­ßer­ge­wöhn­li­cher Ver­hält­nis­se sind sie selbst nicht ge­ra­de bei ro­si­ger Lau­ne und bil­den sich ein, weit mehr an­ge­st­arrt zu wer­den, als es wirk­lich der Fall ist. And­rer­seits wird man es ver­zeih­lich fin­den, dass ih­nen die­se »se­geln­den In­su­la­ner« et­was när­risch er­schei­nen, die­se Leu­te, die sich frei­wil­lig von ih­res­glei­chen trenn­ten und nun auf dem größ­ten Ozean der Erd­ku­gel um­her­ir­ren. Mit ein we­nig Fan­ta­sie könn­te man glau­ben, sie ge­hör­ten ei­nem an­de­ren Pla­ne­ten un­se­res Son­nen­sys­tems an. Das ist we­nigs­tens die An­sicht Yver­nes, den sein über­reiz­tes Hirn leicht nach nur er­dach­ten Wel­ten ver­setzt.

Pin­chi­nat be­gnügt sich da­ge­gen zu sa­gen:

»Alle die­se Leu­te ha­ben mei­ner Treu das rich­ti­ge Mil­lio­näraus­se­hen und schei­nen mir un­ter den Nie­ren, ganz wie ihre In­sel, einen klei­nen Pro­pel­ler mit her­um­zu­tra­gen.«

In­zwi­schen macht sich der Hun­ger im­mer mehr gel­tend. Seit dem Früh­stück ist ge­rau­me Zeit ver­flos­sen und der Ma­gen pocht auf sein Recht. Also schnells­tens nach dem Ex­zel­si­or-Ho­tel! Mor­gen soll­ten die nö­ti­gen Schrit­te er­fol­gen, um mit­tels ei­nes der Stea­mer von Stan­dard Is­land nach San Die­go zu­rück­be­för­dert zu wer­den, nach­dem Ca­lis­tus Mun­bar von Rechts we­gen eine reich­lich be­mes­se­ne Ent­schä­di­gungs­s­um­me er­legt hät­te.

Auf dem Wege durch die First Ave­nue bleibt Fras­co­lin aber vor ei­nem präch­ti­gen Ge­bäu­de ste­hen, des­sen Front in gol­de­nen Let­tern die Auf­schrift »Ca­si­no« trägt. Rechts von der stol­zen Säu­len­rei­he, die den Haup­tein­gang schmückt, er­blickt man durch die mit Ara­bes­ken ver­zier­ten Spie­gel­schei­ben ei­nes Re­stau­rants eine Men­ge Ti­sche, von de­nen an ver­schie­de­nen ge­speist wird, wäh­rend ein zahl­rei­ches Per­so­nal dienst­eif­rig hin und her eilt.

»Hier gib­t’s et­was zu es­sen!« ruft die zwei­te Vio­li­ne mit ei­nem Bli­cke auf die hung­ri­gen Ka­me­ra­den.

Da­rauf er­folgt von Pin­chi­nat nur die la­ko­ni­sche Ant­wort:

»Hin­ein­tre­ten!«

Ei­ner nach dem an­de­ren be­tre­ten sie das Re­stau­rant. Man scheint ihre Ge­gen­wart in dem lu­xu­ri­ösen, von den Frem­den meist auf­ge­such­ten Eta­blis­se­ment nicht be­son­ders zu be­mer­ken. Fünf Mi­nu­ten spä­ter ver­til­gen die Halb­ver­hun­ger­ten schon mit Be­gier­de die ers­ten Schüs­seln ei­ner vor­treff­li­chen Mahl­zeit, wozu Pin­chi­nat – und der ver­steht sich dar­auf – die Spei­sen­fol­ge auf­ge­stellt hat. Glück­li­cher­wei­se ist der Geld­beu­tel des Quar­tetts gut ge­spickt, und wenn er auf Stan­dard Is­land auch ab­ma­gert, so wer­den die Ein­nah­men in San Die­go ihn schon bald wie­der auf­schwel­len las­sen.

Die Kü­che ist ganz aus­ge­zeich­net und der in den Ho­tels von New York und San Fran­zis­ko weit über­le­gen, und die Spei­sen wer­den hier in und auf elek­tri­schen Öfen be­rei­tet, die eine sehr ge­naue Re­ge­lung der Hit­ze er­mög­li­chen. Auf die Sup­pe mit kon­ser­vier­ten Aus­tern, die Fri­cassés, den Sel­le­rie und den hier stets auf­ge­tisch­ten Rha­bar­ber­ku­chen fol­gen ganz fri­sche Fi­sche, Rumps­teaks von un­ver­gleich­li­cher Zart­heit, Wild, das je­den­falls den Prä­ri­en und Wäl­dern Ka­li­for­ni­ens ent­stammt, und Ge­mü­se, die aus den in­ten­si­ven Kul­tu­ren der In­sel selbst her­rüh­ren. Als Ge­tränk gibt es nicht das in Ame­ri­ka all­ge­mein ge­bräuch­li­che Eis­was­ser, son­dern ver­schie­de­ne Bie­re und Wei­ne, die für die Kel­le­rei­en von Mil­li­ard City aus den Ge­län­den von Bur­gund, Bor­deaux und des Rheins, na­tür­lich mit ho­hen Kos­ten, be­zo­gen wa­ren.

Die­ses Menü bringt un­se­re Pa­ri­ser auf an­de­re Ge­dan­ken. Vi­el­leicht be­trach­ten sie das Aben­teu­er, in das sie ge­ra­ten sind, schon un­ter güns­ti­ge­rem Lich­te. Be­kannt­lich ha­ben ja alle Or­che­s­ter­mu­si­ker einen gu­ten Zug. Was aber bei de­nen na­tür­lich er­scheint, die bei der Hand­ha­bung von Blas­in­stru­men­ten ihre Lun­ge tüch­tig an­stren­gen, ist we­ni­ger zu ent­schul­di­gen bei de­nen, die Streich­in­stru­men­te spie­len. Doch gleich­viel: Yver­nes, Pin­chi­nat, selbst Fras­co­lin fan­gen an, das Le­ben ro­sen­rot und in die­ser Stadt der Mil­li­ar­däre selbst gold­far­big zu se­hen. Nur Sé­bas­ti­en Zorn al­lein wi­der­steht der Ver­su­chung und lässt sei­nen In­grimm nicht durch die feu­ri­gen Ge­wäch­se Frank­reichs er­trän­ken.

Kurz, das Quar­tett ist be­merk­bar »an­ge­haucht«, wie man im al­ten Gal­li­en sagt, als die Stun­de kommt, die Rech­nung zu ver­lan­gen. Von dem Ober­kell­ner des Ho­tels, der in schwar­zer Klei­dung er­scheint, wird sie Fras­co­lin, als dem Kas­sie­rer, ein­ge­hän­digt.

Die zwei­te Vio­li­ne wirft einen Blick dar­auf, er­hebt sich, sinkt zu­rück, er­hebt sich wie­der, reibt sich die Au­gen und starrt nach der De­cke.

»Was fehlt dir denn?« fragt Yver­nes ver­wun­dert.

»Es läuft mir ein Frost­schau­er durch Mark und Bein«, ant­wor­tet Fras­co­lin.

»Es ist wohl teu­er hier?«

»Mehr als teu­er. Der Spaß kos­tet zwei­hun­dert Fran­cs …«

»Für alle vier?«

»Nein, für je­den!«

In der Tat: Hun­dert­sech­zig Dol­lar, nicht mehr und nicht we­ni­ger, und im ein­zel­nen be­läuft sich die Nota für die Vor­spei­se auf fünf­zehn Dol­lar, für den Fisch auf zwan­zig, für die Rumps­teaks auf fünf­und­zwan­zig Dol­lar, für den Me­doc und den Bur­gun­der auf drei­ßig Dol­lar für die Fla­sche, und für das üb­ri­ge im Ver­hält­nis hier­zu.

»Don­ner­wet­ter!« platzt die Brat­sche her­aus.

»Die­se Räu­ber!« schimpft Sé­bas­ti­en Zorn.

Die fran­zö­sisch her­vor­ge­sto­ße­nen Wor­te ver­steht der Ober­kell­ner zwar nicht, er be­merkt aber doch, dass hier et­was Be­sondres vor­ge­hen müs­se. Wenn sich in­des ein Lä­cheln auf sei­ne Lip­pen schleicht, so ist es nur das der Ver­wun­de­rung, nicht das der Ge­ring­schät­zung. Er fin­det es ganz na­tür­lich, dass ein Di­ner für vier Per­so­nen hun­dert­sech­zig Dol­lar kos­tet. Das ist ein­mal der Preis auf Stan­dard Is­land.

»Diese Räuber!«

»Kein Auf­he­bens ma­chen!« sagt Pin­chi­nat, »Frank­reich blickt auf uns! Be­zah­len …«

»Und sei es, wie es sei«, fällt Fras­co­lin ein, »schnell fort nach San Die­go. Über­mor­gen be­sä­ßen wir nicht ein­mal so viel, um ein But­ter­brot be­zah­len zu kön­nen.«

Da­rauf zieht er die Brief­ta­sche, ent­nimmt die­ser eine statt­li­che An­zahl Pa­pier­dol­lar, die zum Glück auch in Mil­li­ard City gel­ten, und will sie eben dem Ober­kell­ner ein­hän­di­gen, als eine Stim­me ruft:

»Die­se Her­ren sind gar nichts schul­dig!«

Es war die Stim­me Ca­lis­tus Mun­bars.

Der Yan­kee war eben ru­hig lä­chelnd, in ge­wohn­ter gu­ter Lau­ne, in den Saal ge­tre­ten.

»Er!« fuhr Sé­bas­ti­en Zorn auf, den die Lust an­wan­del­te, je­nem an die Keh­le zu sprin­gen und die­se zu drücken, wie er den Hals sei­nes Vio­lon­cells beim For­te drückt.

»Be­ru­hi­gen Sie sich, lie­ber Zorn«, be­gann der Ame­ri­ka­ner. »Woll­ten Sie mir freund­lichst alle in den Sa­lon fol­gen, wo der Kaf­fee auf­ge­tra­gen ist? Dort kön­nen wir in Ruhe plau­dern, und nach Schluss un­se­res Ge­sprächs …«

»Er­wür­ge ich Sie!« fiel ihm Sé­bas­ti­en Zorn ins Wort.

»Nein … Sie wer­den mir die Hän­de küs­sen …«

»Ich wer­de Ih­nen gar nichts küs­sen!« pol­ter­te der Vio­lon­cel­list, der vor Wut ein­mal blass und ein­mal blau­rot wur­de.

Kur­ze Zeit dar­auf ha­ben sich’s die Gäs­te Ca­lis­tus Mun­bars auf wei­chen So­fas be­quem ge­macht, wäh­rend sich der Yan­kee auf ei­nem Schau­kel­stuh­le wiegt.

Hier stellt er sich nun sei­nen Gäs­ten form­ge­recht in fol­gen­der Wei­se vor:

»Ca­lis­tus Mun­bar, aus New York, fünf­zig Jah­re alt, Uren­kel des be­rühm­ten Bar­num,1 zur­zeit Ober­in­ten­dant der Küns­te auf Stan­dard Is­land, ver­ant­wort­lich für al­les, was Ma­le­rei, Skulp­tur, Mu­sik und im All­ge­mei­nen alle Un­ter­hal­tun­gen in Mil­li­ard City an­geht. Da Sie mich nun ken­nen, mei­ne Her­ren …«

»Sind Sie«, fragt Sé­bas­ti­en Zorn, »nicht zu­fäl­lig auch Po­li­zei­spit­zel mit der Ver­pflich­tung, frem­de Leu­te in Fal­len zu lo­cken und sie dar­in wi­der ih­ren Wil­len zu­rück­zu­hal­ten?«

»Übe­rei­len Sie sich mit mei­ner Be­ur­tei­lung nicht, Sie reiz­ba­res Vio­lon­cell, und war­ten Sie erst das Ende ab.«

»Wir wol­len war­ten«, er­wi­dert Fras­co­lin erns­ten To­nes, »war­ten und Sie an­hö­ren.«

»Mei­ne Her­ren«, nimmt Ca­lis­tus Mun­bar, sich eine gra­zi­öse Hal­tung ge­bend, wie­der das Wort, »ich wün­sche mit Ih­nen bei dem jet­zi­gen Ge­spräch nur die mu­si­ka­li­sche Fra­ge zu er­ör­tern, so wie die­se zur­zeit auf un­se­rer Schrau­ben­in­sel liegt. Thea­ter be­sitzt Mil­li­ard City al­ler­dings noch nicht, doch wenn es das woll­te, wür­den sol­che wie durch Zau­ber­schlag aus ih­rem Bo­den auf­wach­sen. Bis­her ha­ben un­se­re Mit­bür­ger ihre mu­si­ka­li­schen Be­dürf­nis­se durch ver­voll­komm­ne­te Ap­pa­ra­te be­frie­digt, wo­durch sie über dra­ma­ti­sche und ly­ri­sche Meis­ter­schöp­fun­gen auf dem lau­fen­den er­hal­ten wur­den. Wir hö­ren die al­ten und neu­en Kom­po­nis­ten, die Ta­ges­grö­ßen der Schau­spiel­kunst, die be­lieb­tes­ten Künst­ler mit­tels der Pho­no­gra­phen, wann und so oft es uns ge­fällt …«

»Eine Dreh­or­gel, Ihr Pho­no­graph!« warf Yver­nes ver­ächt­lich ein.

»Doch nicht in der Wei­se, wie Sie das glau­ben mö­gen, mein Herr ers­ter Vio­li­nist«, ant­wor­tet der Ober­in­ten­dant. »Wir be­sit­zen Ap­pa­ra­te, die mehr als ein­mal die In­dis­kre­ti­on be­gan­gen ha­ben, Ih­nen zu lau­schen, wenn Sie sich in Bo­ston oder Phil­adel­phia hö­ren lie­ßen. Wenn es Ih­nen Spaß macht, kön­nen Sie sich hier mit ei­ge­nen Hän­den ap­plau­die­ren.«

Je­ner Zeit ha­ben die Er­fin­dun­gen des be­rühm­ten Edi­son2 näm­lich den höchs­ten Grad der Vollen­dung er­reicht. Der Pho­no­graph ist kei­nes­wegs mehr der Mu­sik­kas­ten oder die Spiel­do­se, dem und der er ur­sprüng­lich gar zu sehr glich. Dank sei­nem geist­vol­len Er­fin­der be­wahrt er jetzt das eph­eme­re Ta­lent der Schau­spie­ler, In­stru­men­tis­ten oder Sän­ger für die Be­wun­de­rung kom­men­der Ge­schlech­ter mit der glei­chen Treue auf, wie die Wer­ke der Bild­hau­er und Ma­ler auf­be­wahrt blei­ben. Ein Echo etwa ist der Ap­pa­rat ge­wor­den, doch ein Echo, treu wie eine Fo­to­gra­fie, das alle Nuan­cen, alle Fein­hei­ten des Ge­san­ges oder Spiels in un­ver­än­der­ter Rein­heit wie­der­gibt.

Ca­lis­tus Mun­bar er­geht sich hier­über mit sol­cher Wär­me, dass es auf sei­ne Zu­hö­rer einen tie­fen Ein­druck macht.

Er spricht von Saint-Saëns, von Rey­er, Am­broi­se Tho­mas, von Gou­nod, Mas­se­net und Ver­di, von den un­ver­gäng­li­chen Meis­ter­wer­ken ei­nes Ber­lioz, Meyer­beer, Halévy, Ros­si­ni, Beetho­ven und Mo­zart wie ein Mann, der alle aus dem Grun­de kennt, sie zu schät­zen weiß und der sich schon lan­ge Zeit be­müht hat, ih­ren Ruhm noch zu ver­brei­ten, so­dass man ihm mit Ver­gnü­gen zu­hört. Von der schon et­was ab­lau­fen­den Wa­gne­r­epi­de­mie scheint er je­doch nicht be­son­ders ge­lit­ten zu ha­ben.

Als er ein­mal aus­setzt, um Atem zu schöp­fen, macht sich Pin­chi­nat die Pau­se gleich zu­nut­ze.

»Das ist ja al­les ganz schön und gut«, sagt er; »Ihr Mil­li­ard City hat aber nie et­was an­de­res ge­hört als Schach­tel­mu­sik, als kon­ser­vier­te Me­lo­di­en, die man ihr wie kon­ser­vier­te Sar­di­nen oder Salt-beef zu­sen­det …«

»Ver­zei­hen Sie, Herr Brat­schist …«

»Ja, ja, ich ver­zei­he Ih­nen, blei­be aber doch da­bei, dass Ihre Pho­no­gra­phen im­mer nur Da­ge­we­se­nes ent­hal­ten, dass in Mil­li­ard City nie­mals ein Künst­ler in dem Au­gen­blick der Aus­übung sei­ner Kunst ge­hört wer­den kann …«

»Da möch­te ich noch ein­mal um Ver­zei­hung bit­ten.«

»Un­ser Freund Pin­chi­nat ver­zeiht Ih­nen ge­wiss so oft, wie Sie es wün­schen«, be­merkt Fras­co­lin. »Sein Ein­wurf ist aber den­noch rich­tig. Ja, wenn Sie sich mit den Thea­tern Ame­ri­kas und Eu­ro­pas in un­mit­tel­ba­re Ver­bin­dung set­zen kön­nen …«

»Hal­ten Sie das für un­mög­lich, lie­ber Fras­co­lin?« ruft der Ober­in­ten­dant, der die Be­we­gun­gen sei­nes Schau­kel­stuh­les hemmt.

»Sie be­haup­ten das wirk­lich?«

»Ich sage nur, dass das aus­schließ­lich eine Geld­fra­ge ist, und un­se­re Stadt ist reich ge­nug, um sich alle Lieb­ha­be­rei­en, je­des Ver­lan­gen be­züg­lich der ly­ri­schen Kunst ge­wäh­ren zu kön­nen. Das ist auch be­reits ge­sche­hen …«

»Aber wie?«

»Mit­tels der Thea­tro­pho­ne, die im Kon­zert­saa­le des Ka­si­nos auf­ge­stellt sind. Die Ge­sell­schaft be­sitzt ja zahl­rei­che un­ter­see­i­sche Ka­bel, die den Gro­ßen Ozean durch­zie­hen und von de­nen das eine Ende an der Ma­de­lei­ne­bai aus­läuft und das an­de­re durch un­se­re großen Bo­jen schwim­mend er­hal­ten wird. Wünscht nun ei­ner un­se­rer Mit­bür­ger einen Sän­ger der Al­ten oder Neu­en Welt zu hö­ren, so fischt man ei­nes je­ner Ka­bel auf und be­nach­rich­tigt te­le­fo­nisch die Be­am­ten an der Ma­de­lei­ne­bai. Die­se stel­len dann die Ver­bin­dung mit Eu­ro­pa oder Ame­ri­ka her. Man ver­bin­det die Dräh­te oder Ka­bel mit dem oder je­nem Thea­ter, dem oder je­nem Kon­zert­saa­le, und un­se­re, hier im Ka­si­no wei­len­den Di­let­tan­ten woh­nen den ent­fern­tes­ten Auf­füh­run­gen bei und ap­plau­die­ren …«

»Ja, da drau­ßen hört man ihre Bei­falls­be­zeu­gun­gen aber gar nicht!« ruft Yver­nes.

»Da muss ich um Ver­zei­hung bit­ten, lie­ber Herr Yver­nes, ge­wiss hört man sie mit­tels ei­ner vor­han­de­nen Rück­lei­tung.«

Hier­auf ver­liert sich Ca­lis­tus Mun­bar in tran­szen­den­ta­le Er­ör­te­run­gen über die Mu­sik nicht al­lein als Kunst, son­dern auch als the­ra­peu­ti­sches Agens. Nach dem Sys­te­me J. Har­fords, von der West­mins­ter-Ab­tei, ha­ben die hie­si­gen Mil­li­ar­däre mit der Aus­nüt­zung der ly­ri­schen Küns­te schon ganz er­staun­li­che Er­fol­ge er­zielt. Die­ses Sys­tem ge­währ­leis­tet ih­nen einen Zu­stand voll­kom­me­ner Ge­sund­heit. Die Mu­sik übt eine Re­flex­wir­kung auf die Ner­ven­zen­tren aus, die har­mo­ni­schen Vi­bra­tio­nen hel­fen zur Er­wei­te­rung der ar­te­ri­el­len Ge­fäße und be­ein­flus­sen den Blu­t­um­lauf, den sie nach Be­darf be­schleu­ni­gen oder ver­lang­sa­men. Sie be­wirkt eine An­re­gung der Herz­tä­tig­keit und der Atem­be­we­gun­gen je nach Klang­far­be und In­ten­si­tät des To­nes, wo­bei sie gleich­zei­tig die Er­näh­rung der Ge­we­be un­ter­stützt. Des­halb hat man in Mil­lard-City auch Ein­rich­tun­gen ge­trof­fen, durch die be­lie­bi­ge Men­gen mu­si­ka­li­scher Ener­gie auf te­le­fo­ni­schem Wege in die Ein­zel­woh­nun­gen ge­lei­tet wer­den kön­nen.

Das Quar­tett hört ihm mit of­fe­nem Mun­de zu. Noch nie hat es über sei­ne Kunst von me­di­zi­ni­schem Stand­punk­te aus re­den ge­hört, und wahr­schein­lich ist es dar­über nicht ge­ra­de ent­zückt. Nichts­de­sto­we­ni­ger geht der fan­tas­ti­sche Yver­nes so­fort auf die­se Theo­ri­en ein, die üb­ri­gens – man den­ke an den be­rühm­ten Har­fe­nis­ten Da­vid – bis zur­zeit des Kö­nigs Saul zu­rück­rei­chen.

»Ja­wohl, ja­wohl! …« ruft er nach der letz­ten Ti­ra­de des Ober­in­ten­dan­ten, »das ist ganz rich­tig. Es ge­hört nur eine gute Dia­gno­se dazu! Wa­gner und Ber­lioz z.B. sind in­di­ziert für an­ämi­sche Kon­sti­tu­tio­nen …«

»Ge­wiss, und Men­dels­sohn oder Mo­zart für san­gui­ni­sche Tem­pe­ra­men­te, bei de­nen sie das Stron­ti­um­bro­mür vor­teil­haft er­set­zen!« fügt Ca­lis­tus Mun­bar hin­zu.

Da mischt sich Sé­bas­ti­en Zorn ein und schleu­dert einen rau­en Miss­klang in die­se hoch­flie­gen­de Plau­de­rei.

»Um al­les das han­delt es sich gar nicht«, ruft er barsch. »Wa­rum ha­ben Sie uns über­haupt hier­her­ge­führt?«

»Weil die Sai­ten­in­stru­men­te es sind, die gra­de die mäch­tigs­te Wir­kung aus­üben.«

»Wirk­lich? Also um Ihre männ­li­chen und weib­li­chen Ner­ven­kran­ken zu be­ru­hi­gen, ha­ben Sie un­se­re Rei­se un­ter­bro­chen, uns ver­hin­dert, in San Die­go ein­zu­tref­fen, wo wir mor­gen ein Kon­zert ge­ben sol­len …«

»Ja, ja, des­halb, mei­ne vor­treff­li­chen Freun­de!«

»Und Sie er­blick­ten in uns nichts an­de­res, als mu­si­ka­li­sche Ka­ra­bi­ner, als ly­ri­sche Apo­the­ker?« ruft Pin­chi­nat.

»O nein, mei­ne Her­ren«, ver­si­chert Ca­lis­tus Mun­bar sich er­he­bend. »Ich be­trach­te­te Sie nur als Künst­ler von großem Ta­lent und weit­rei­chen­dem Re­nom­mee. Die Hur­ras, die dem Kon­zert-Quar­tett bei sei­nen Rei­sen durch Ame­ri­ka ent­ge­gen­dröhn­ten, sind auch bis zu un­se­rer In­sel ge­drun­gen. Da glaub­te die Stan­dard Is­land Com­pa­ny den Zeit­punkt ge­kom­men, die Pho­no­gra­phen und Thea­tro­pho­ne ein­mal durch wirk­li­che Vir­tuo­sen mit Fleisch und Bein er­set­zen und den Mil­li­ar­de­sern den un­be­schreib­li­chen Ge­nuss ei­ner un­mit­tel­ba­ren Vor­füh­rung der Meis­ter­wer­ke der Kunst ver­schaf­fen zu sol­len. Sie woll­te da­bei und vor der Er­rich­tung ei­nes Oper­nor­che­s­ters mit der Kam­mer­mu­sik den An­fang ma­chen. Da­bei dach­te sie an Sie, die her­vor­ra­gends­ten Ver­tre­ter die­ser Mu­sik­gat­tung, und mir gab sie den Auf­trag, Sie um je­den Preis hier­her­zu­schaf­fen, im Not­fal­le, Sie zu ent­füh­ren. Sie sind also die ers­ten Künst­ler, die in Stan­dard Is­land auf­tre­ten wer­den, und ich über­las­se es Ih­nen, sich aus­zu­den­ken, wel­cher Empfang Ih­nen be­vor­steht!«

Yver­nes und Pin­chi­nat füh­len sich von den en­thu­sias­ti­schen Wor­ten des Ober­in­ten­dan­ten tief er­grif­fen. Dass die Ge­schich­te auf eine My­sti­fi­ka­ti­on3 hin­aus­lau­fen könn­te, kommt ih­nen gar nicht in den Sinn. Der mehr über­le­gen­de Fras­co­lin fragt sich, ob die­ses Aben­teu­er wirk­lich ernst zu neh­men sei. Doch warum soll­te auf die­ser ganz au­ßer­ge­wöhn­li­chen In­sel nicht auch al­les an­de­re ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Aus­se­hen ha­ben? Nur Sé­bas­ti­en Zorn be­harrt da­bei, sich nicht zu er­ge­ben.

»Nein, mein Herr«, ruft er, »man be­mäch­tigt sich frem­der Leu­te nicht in die­ser Wei­se ohne de­ren Ein­wil­li­gung! … Wir wer­den ge­gen Sie Kla­ge er­he­ben …«

»Kla­ge … wo Sie, Un­dank­ba­re, mir tau­send­mal dan­ken soll­ten?« er­wi­dert der Ober­in­ten­dant.

»Und es wird uns eine Ent­schä­di­gung zu­ge­spro­chen wer­den, mein Herr …«

»Eine Ent­schä­di­gung … wo ich Ih­nen hun­dert­mal mehr zu bie­ten habe, als Sie er­hof­fen könn­ten …«

»Um was han­delt es sich?« fragt der prak­ti­sche Fras­co­lin.

Ca­lis­tus Mun­bar zieht sein Por­te­feuil­le her­vor und ent­nimmt ihm ein Blatt Pa­pier mit dem Stem­pel von Stan­dard Is­land, das er den vier Künst­lern vor Au­gen hält.

»Ihre vier Un­ter­schrif­ten un­ter die­sen Kon­trakt«, sagt er, »und die gan­ze An­ge­le­gen­heit ist ge­re­gelt.«

»Et­was un­ter­schrei­ben, ohne es ge­le­sen zu ha­ben?« ant­wor­tet die zwei­te Vio­li­ne. »Das ge­schieht nie und nir­gends!«

»Sie dürf­ten aber kei­ne Ur­sa­che ha­ben, es zu be­reu­en«, fährt Ca­lis­tus Mun­bar fort, der jetzt so hei­ter wird, dass er von oben bis un­ten wa­ckelt. »Doch mei­net­we­gen, ge­hen wir ord­nungs­mä­ßig zu­we­ge. Hier habe ich einen En­ga­ge­ments­ver­trag, den die Kom­pa­nie Ih­nen an­bie­tet, ein En­ga­ge­ment für ein Jahr von heu­te ab, das Sie ver­pflich­tet zur Auf­füh­rung der­sel­ben Kam­mer­mu­sik­stücke, die Ihre Pro­gram­me in Ame­ri­ka ent­hiel­ten. Nach zwölf Mo­na­ten wird Stan­dard Is­land an der Ma­de­lei­ne­bai zu­rück­sein, und Sie wer­den da zei­tig ge­nug ein­tref­fen …«

»Für un­ser Kon­zert in San Die­go, nicht wahr?« ruft Sé­bas­ti­en Zorn, »für San Die­go, wo man uns mit Pfei­fen emp­fan­gen wird …«

»Nein, mei­ne Her­ren, mit Hips und Hur­ras! Künst­ler wie Sie zu hö­ren, füh­len sich alle Leu­te gar zu ge­ehrt und sind glück­lich, wenn sich sol­che hö­ren las­sen … selbst mit ei­nem Jah­re Ver­spä­tung!«

Mit ei­nem sol­chen Mann soll ei­ner nun et­was an­fan­gen!

Fras­co­lin er­greift das Blatt und durch­liest es auf­merk­sam.

»Ja, wel­che Ga­ran­tie wird uns ge­bo­ten?« frag­te er.

»Die Ga­ran­tie der Stan­dard Is­land Com­pa­ny, be­stä­tigt durch die Un­ter­schrift un­se­res Gou­ver­neurs, des Herrn Cy­rus Bi­ker­staff.«

»Und die Be­din­gun­gen sind ge­nau so, wie sie hier ste­hen?«

»Ganz ge­nau, also eine Mil­li­on Fran­cs …«

»Für uns vier!« fällt Pin­chi­nat ein.

»Für je­den ein­zel­nen«, ant­wor­tet Ca­lis­tus Mun­bar lä­chelnd, »und die­se Sum­me steht noch au­ßer Ver­hält­nis zu Ihren Ver­diens­ten, die doch nie­mand voll zu be­zah­len ver­möch­te!«

Lie­bens­wür­di­ger kann ei­ner doch nicht wohl sein. Den­noch er­hebt Sé­bas­ti­en Zorn Wi­der­spruch. Er will um kei­nen Preis an­neh­men, son­dern un­be­dingt nach San Die­go ab­rei­sen, so­dass Fras­co­lin große Mühe hat, sei­ne Ent­rüs­tung zu dämp­fen.

Er will um keinen Preis annehmen.

Ge­gen­über dem An­ge­bo­te des Ober­in­ten­dan­ten er­scheint in­des et­was Miss­trau­en am Plat­ze. Ein En­ga­ge­ment auf ein Jahr mit dem Ho­no­rar von ei­ner Mil­li­on Fran­cs für je­den der Künst­ler … durf­ten sie das ernst neh­men? Ja, ganz ernst, wie Fras­co­lin ver­si­chern konn­te, als er frag­te: »Und das Ho­no­rar ist zahl­bar? …«

»Vier­tel­jähr­lich, und hier brin­ge ich es für die ers­ten drei Mo­na­te.«

Aus gan­zen Stö­ßen von Bank­schei­nen, die sein Por­te­feuil­le zum Plat­zen fül­len, formt Ca­lis­tus Mun­bar vier Pa­ke­te mit je fünf­zig­tau­send Dol­lar oder zwei­hun­dert­fünf­zig­tau­send Fran­cs, die er Fras­co­lin und des­sen Ka­me­ra­den ein­hän­digt.

Das ist so ein ame­ri­ka­ni­sches Ge­schäfts­ver­fah­ren.

Nun geht die Sa­che dem Sé­bas­ti­en Zorn doch et­was nä­her. Da die schlech­te Lau­ne bei ihm aber nie­mals ihre Rech­te auf­gibt, be­merkt er wei­ter:

»Ganz schön; doch bei dem Prei­se, in dem auf Ih­rer In­sel al­les steht und wo man fünf­und­zwan­zig Fran­cs für ein Reb­huhn be­zahlt, da wird man je­den­falls hun­dert Fran­cs für ein Paar Hand­schu­he und fünf­hun­dert Fran­cs für ein Paar Stie­fel an­le­gen müs­sen?«

»O, Herr Zorn, die Kom­pa­nie legt auf sol­che Klei­nig­kei­ten kein Ge­wicht«, er­klärt Ca­lis­tus Mun­bar, »und sie wünscht, dass die Künst­ler des Kon­zert-Quar­tetts wäh­rend ih­res hie­si­gen Auf­ent­halts von al­len Ne­ben­kos­ten frei blei­ben.«

Wo­mit konn­te man auf ein so groß­mü­ti­ges An­ge­bot an­ders ant­wor­ten, als mit der Na­mens­un­ter­schrift un­ter den Kon­trakt?

Fras­co­lin, Pin­chi­nat und Yver­nes be­que­men sich dazu ohne Zö­gern. Nur Sé­bas­ti­en Zorn brummt, dass das Gan­ze ein Un­sinn sei, sich auf ei­ner be­weg­li­chen In­sel ein­zu­schif­fen, das habe kei­nen Ver­stand … man wer­de schon se­hen, wie die Ge­schich­te en­di­gen wür­de usw. – Schließ­lich ließ er sich aber doch her­bei, mit zu un­ter­zeich­nen.

Wenn Fras­co­lin, Pin­chi­nat und Yver­nes nach Er­fül­lung die­ser For­ma­li­tät dem Ca­lis­tus Mun­bar auch nicht die Hän­de küss­ten, so drück­ten sie sie ihm we­nigs­tens herz­lichst. Vier Hän­de­drücke, je­der zu ei­ner Mil­li­on!

So ließ sich das Kon­zert-Quar­tett also auf ein Aben­teu­er son­der­glei­chen ein, und un­ter ge­nann­ten Um­stän­den wur­den die vier Künst­ler die Gäs­te – in­vi­ti – Stan­dard Is­lands.

1 Phi­ne­as Tay­lor Bar­num (1810 – 1891) war ein US-ame­ri­ka­ni­scher Zir­ku­spio­nier und Po­li­ti­ker. <<<

2 Nach Jo­seph Swan und Tho­mas Edi­son, die zu­nächst die Glüh­bir­ne un­ab­hän­gig von­ein­an­der ent­wi­ckelt und dann ab 1883 ge­mein­schaft­lich ar­bei­te­ten. <<<

3 Ver­schleie­rung, Ver­dun­ke­lung <<<

Die Propeller-Insel

Подняться наверх