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Fünftes Kapitel – Standard Island und Milliard City
ОглавлениеZu jener Zeit erwartete man noch einen unternehmenden Statistiker und gleichzeitigen Geographen, der die wirkliche Zahl der auf der Erdkugel verstreuten Inseln angegeben hätte. Es wird nicht übertrieben sein, wenn man diese Zahl zu mehreren Tausenden veranschlagt. Und unter diesen Inseln hätte sich keine einzige befunden, die den Wünschen der Gründer von Standard Island und den Bedürfnissen seiner späteren Bewohner entsprochen hätte? Nein, keine einzige! Daher der »amerikamechanisch« praktische Gedanke, eine nach allen Seiten neue, künstliche Insel herzustellen, die die vollkommenste Leistung der modernen Metallurgie bilden sollte.
Standard Island – was man etwa mit »Muster-Insel« übersetzen könnte – ist eine Schrauben- oder Propeller-Insel und Milliard City ihre Hauptstadt. Woher dieser Name stammt?… Offenbar daher, dass die Stadt die der Milliardäre, der Goulds, der Vanderbilts und der Rothschilds ist. Man wird hier einwenden, dass das Wort »Milliarde« in der englischen Sprache nicht vorkommt. Die Angelsachsen der Alten und der Neuen Welt sagen noch immer: a thousand millions, tausend Millionen. Milliarde ist ein französisches Wort. Dennoch ist es seit einigen Jahren in die Volkssprache Großbritanniens und der Vereinigten Staaten übergegangen und auf die Hauptstadt Standard Islands mit voller Berechtigung angewendet worden.
Eine künstliche Insel ist ja eine Idee, die an und für sich keine außergewöhnliche zu nennen ist. Mit hinreichender Menge von Material, das in einem Strome, einem See oder einem Meer versenkt wird, liegt es für Menschen nicht außer der Möglichkeit, eine solche herzustellen. Das hätte hier aber nicht genügt. Mit Rücksicht auf ihre Bestimmung, auf die Anforderungen, denen sie entsprechen sollte, musste diese Insel ihre Lage verändern können, also schwimmfähig sein. Hierin lag eine Schwierigkeit, die jedoch nicht über die Leistungsfähigkeit der Werkstätten für Eisenbearbeitung hinausging, denen Maschinen von sozusagen unbegrenzter Kraft zu Gebote standen.
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Amerikaner bei ihrer Vorliebe für das Große, ihrer Bewunderung für das »Enorme«, den Plan entworfen, mehrere hundert Kilometer vom Festlande in offener See ein riesenhaftes, durch Anker festgehaltenes Floß zu bauen. Das wäre, wenn auch keine Stadt, so doch im Atlantischen Meere eine Station geworden, mit Restaurants, Hotels, Theatern, Klublokalen usw., wo die Touristen alle Annehmlichkeiten der beliebtesten Badeorte gefunden hätten. Eben dieses Projekt war nun hier, nur in mehr vollkommener Weise, zur Ausführung gebracht … statt des festliegenden Floßes hatte man eine bewegliche Insel geschaffen.
Sechs Jahre vor der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, war eine amerikanische Gesellschaft unter der Firma Standard Island Company limited mit einem Kapitale von fünfhundert Millionen Dollar (zwei Milliarden Mark), geteilt in fünfhundert Anteilscheine, gegründet worden, um die künstliche Insel herzustellen, die den Nabobs der Vereinigten Staaten alle die Vorteile bieten sollte, welche den an die Stelle gebundenen Gebieten der Erdkugel fehlen. Die Anteilscheine wurden schnell untergebracht, so zahlreich sind in Amerika die ungeheuern Vermögen, die der Ausbeutung der Eisenbahnen oder Bankoperationen, dem Ertrage von Petroleumquellen oder dem Handel mit gepökeltem Schweinefleisch entsprangen.
Die Herstellung der Insel nahm vier Jahre in Anspruch. Es dürfte hier angebracht sein, die wichtigsten Größenverhältnisse, die innere Einrichtung und die Apparate zur Fortbewegung anzugeben, die ihr gestatten, immer die angenehmsten Teile der ungeheuern Fläche des Stillen Weltmeeres aufzusuchen.
Schwimmende Dörfer gibt es in China auf dem Yang-Tse-Kiang, in Brasilien auf dem Amazonasstrome, in Europa auf der Donau und wenn man will, in kleinerem Maßstabe auf vielen schiffbaren Gewässern. Das sind aber nur für kurze Zeit berechnete Konstruktionen mit einigen Häuschen, die auf langen Flößen errichtet wurden. Am Bestimmungsorte angelangt, wird der Holzbau auseinandergenommen, die Häusergruppe abgebrochen und das Dörfchen hat ausgelebt.
Mit der Insel, von der wir hier reden, liegt die Sache ganz anders; sie sollte auf dem Meere schwimmen … für immer, soweit das Werk der Menschenhand eben Bestand hat.
Wer weiß denn, ob die Erde nicht eines Tages zu klein werden wird für ihre Bewohner, deren Anzahl im Jahre 2072 der Rechnung nach auf sechstausend Millionen steigen dürfte, wie es Ravenstein und andere Gelehrte mit erstaunlicher Sicherheit behaupten? Wenn das Festland dann überfüllt ist, muss man sich doch entschließen, als Wohnstätte das Meer zu Hilfe zu nehmen.
Aus Einzelbehältern zusammengesetzt.
Standard Island ist eine Insel aus Stahlplatten, und die Tragfähigkeit und Widerstandskraft ihres Rumpfes wurden unter Berücksichtigung des ungeheuern Gewichtes, das darauf lasten sollte, berechnet. Sie ist aus zweihundertsiebzigtausend Einzelbehältern zusammengesetzt, von denen jeder sechzehn Meter siebzig Zentimeter hoch und je zehn Meter lang und breit ist. Die Oberfläche jedes Behälters misst also zehn Meter an jeder Seite oder umfasst ein Ar, gleich hundert Quadratmeter. Alle durch Bolzen und Nieten miteinander verbundene Behälter bilden die etwa siebenundzwanzig Millionen Quadratmeter oder siebenundzwanzig Quadratkilometer große Insel. Bei der ihr gegebenen ovalen Gestalt misst sie sieben Kilometer in der Länge und fünf Kilometer in der größten Breite und hat in runder Zahl einen Umfang von achtzehn Kilometern. Zur Vergleichung diene, dass die Befestigungslinie von Paris neununddreißig, die alte Mauer um die Stadt dreiundzwanzig Kilometer lang ist. Der eingetauchte Teil des Rumpfes hat bei voller Belastung etwa zehn Meter, der über Wasser stehende gegen sieben Meter Höhe. Daraus ergibt sich, dass das Volumen von Standard Island vierhundertzweiunddreißig Millionen Kubikmeter misst und sein Deplacement (Wasserverdrängung), gegen drei Fünftel des Volumens, zweihundertneunundfünfzig Millionen Kubikmeter erreicht.
Der ganze untertauchende Teil der Behälter ist mit einem lange Zeit vergeblich gesuchten Präparate – der Erfinder desselben wurde dadurch Milliardär – bestrichen, das jedes Anlegen von Muscheln und Seetieren verschiedener Art an die vom Wasser bespülten Teile unbedingt verhindert.
Der »Untergrund« der neuen Insel ist gegen Formveränderung und Bruch vollständig gesichert, denn der stählerne Rumpf wird durch mächtige Querriegel versteift, und auf das Vernieten und Verbolzen aller Teile wurde die denkbarste Sorgfalt verwendet.
Natürlich mussten zur Herstellung dieses riesenhaften Bauwerkes erst besondere Werften geschaffen werden. Das übernahm die »Standard Island Company«, nachdem sie die Magdalenenbucht nebst deren Uferland am Ausläufer der langen Halbinsel Nieder-Kalifornien, ganz nahe dem Wendekreise des Krebses, zu diesem Zwecke erworben hatte. In dieser Bucht wurde die Arbeit ausgeführt, und zwar unter Leitung der Ingenieure der Standard Island Company und unter der Oberleitung des berühmten William Terson, der wenige Monate nach Vollendung seines Riesenwerkes ebenso mit Tod abging, wie Brunnel, nachdem er seinen, leider ziemlich nutzlosen »Great-Eastern« vom Stapel gelassen hatte. Standard Island ist ja auch kaum etwas anderes als ein modernisierter Great-Eastern, nur nach einem tausendfach vergrößerten Modell geschaffen.
Selbstverständlich konnte von einem wirklichen Stapellauf der Insel keine Rede sein. Sie wurde vielmehr stückweise hergestellt, indem man die einzelnen Stahlbehälter auf dem Wasser der Bucht selbst miteinander verband. Diese Stelle der amerikanischen Küste wurde auch der Nothafen der beweglichen Insel, nach dem sie sich zur Vornahme etwaiger Reparaturen allemal begibt.
Der Unterbau der Insel, ihr Rumpf, wie man sagen könnte, der, wie erwähnt, aus zweihundertsiebzigtausend Einzelbehältern besteht, wurde, mit Ausnahme des für die Stadt in der Mitte bestimmten und deshalb besonders verstärkten Teiles, mit einer dicken Schicht guter Erde überschüttet. Diese Humusdecke genügt für die Vegetation, die auf Rasenflächen, Blumenbeete, Gesträuche, einige Baumgruppen, Weideplätze und Gemüsefelder beschränkt ist. Es war nicht ratsam erschienen, auf diesem künstlichen Erdboden auch noch Getreide und Futter für Schlachttiere erbauen zu wollen, und so wird der Bedarf an beiden durch regelmäßige Zufuhr gedeckt. Dagegen hatte man Vorsorge getroffen, wenigstens die nötige Milch, den Bedarf an Eiern und Geflügel von jener Einfuhr unabhängig zu machen.
Drei Viertel des Bodens von Standard Island, d.h. etwa einundzwanzig Quadratkilometer, sind für die Kultur von Nutzpflanzen und für Rasenflächen bestimmt, die in immerwährendem Grün prangen, während die intensiv ausgebeuteten Felder Gemüse und Früchte liefern und künstliche Wiesen einigen Viehherden als Weideplätze dienen. Hier bedient man sich eifrig der Elektrokultur, d.h. der Mitwirkung permanenter elektrischer Ströme, die das Wachstum der Pflanzen überraschend befördern und Gemüse von kaum glaublicher Größe hervorbringen helfen. So züchtet man z.B. hier Radieschen von fünfundvierzig Zentimeter Länge und erntet Mohrrüben von drei Kilo Gewicht. Die Zier- und Küchengärten, sowie die Obstanlangen können mit den schönsten in Virginien und Louisiana wetteifern. Kein Wunder: auf der Insel, die mit Recht das »Juwel des Stillen Ozeans« genannt wird, spart man keine Kosten, um alles in vollendetster Weise durchzuführen.
Ihre Hauptstadt Milliard City nimmt ungefähr ein Fünftel der Oberfläche ein, bedeckt also gegen fünf Quadratkilometer oder fünfhundert Hektar, bei einem Umfange von neun Kilometern. Unsere Leser, die ja Sébastien Zorn und seine Kameraden auf deren Spaziergange begleitet haben, kennen sie schon so weit, dass sie sich darin schwerlich verirren würden. Übrigens verirrt man sich überhaupt nicht in amerikanischen Städten, wenigstens nicht, wenn sie gleichzeitig das Glück und das Unglück haben, neueren Ursprungs zu sein – das Glück, wegen der Vereinfachung des Verkehrs und das Unglück wegen ihres vollständigen Mangels an künstlerischer Bedeutung. Wir wissen, dass Milliard City ein Oval bildet, das durch eine zentrale Verkehrsader, die First Avenue, die etwas über drei Kilometer lang ist, in zwei Hälften geteilt wird. Das an dem einen Ende derselben aufragende Observatorium hat am anderen als Pendant das großartige Stadt- oder Rathaus. In diesem finden sich die Amtsräume für die Behörden, für Wasser- und Wegebau, für Anpflanzungen und Promenaden, für die städtische Polizei, den Zoll, die Markthallen, für Beerdigungswesen, Hospize, die verschiedenen Schulen, sowie für die Kirchensachen und die Künste in bequemster Weise vereinigt.
Und wie stark ist die Bevölkerung auf diesem künstlichen Stückchen Erde von achtzehn Kilometer Umfang?
Die Erde zählt den derzeitigen Angaben nach zwölf Städte – vier davon in China – mit mehr als einer Million Einwohner. Die Schraubeninsel hat deren nur gegen zehntausend – lauter Eingeborene der Vereinigten Staaten. Man wollte es vermeiden, dass jemals internationale Streitigkeiten unter den Bürgern aufloderten, die auf diesem Werke neuester Art Ruhe und Erholung suchten. War es doch schon genug, wenn nicht zu viel, dass sie in religiöser Beziehung nicht zu einem und demselben Banner hielten. Es wäre aber zu schwierig gewesen, nur den Yankees aus dem Norden, den Backbordbewohnern von Standard Island, oder umgekehrt den Amerikanern aus dem Süden, den Steuerbordbewohnern, das Recht vorzubehalten, sich auf dieser Insel häuslich niederzulassen. Darunter hätten die Interessen der Standard Island Company gar zu empfindlich gelitten.
Nach Fertigstellung des metallenen Unterbaues und Herrichtung des für die Stadt reservierten Teiles zur Bebauung, nach der Annahme des Planes für die Straßen und Avenues, beginnen die Baulichkeiten aus dem Boden zu wachsen. Hier erheben sich Prachtgebäude oder einfache Wohnstätten, dort für den Detailhandel bestimmte Häuser, öffentliche Bauwerke, Kirchen und Tempel, nirgends aber jene Wohnhäuser mit siebenundzwanzig Stockwerken, jene hässlichen »Skyscrapers«, d.h. »Wolkenkratzer«, wie man sie in Chicago findet. Das verwendete Baumaterial ist gleichzeitig leicht und widerstandsfähig. Das nicht oxydierbare Metall, das in den Konstruktionen vorherrscht, ist das Aluminium, das fast siebenmal so leicht ist wie Eisen von gleichem Volumen – das Metall der Zukunft, wie es schon Sainte-Claire Deville genannt hat – und das allen Anforderungen an ein solides Bauwerk entspricht. Mit dem Metall verband man künstlichen Stein, Zementwürfel, die sich bequem anpassten. Man verwendete auch gläserne, hohlgeblasene Werkstücke, die also wie Flaschen hergestellt waren, und vereinigte sie durch ganz dünne Mörtelschichten – durchsichtige Bausteine, mit denen das Ideal, ein Haus aus Glas, zu erreichen wäre. In der Hauptsache herrschte aber doch die metallene Armatur vor, wie man sie heutigentags in den Erzeugnissen der Schiffsbaukunst findet. Standard Island ist ja schließlich nichts anderes als ein ungeheuer vergrößerter Schiffskörper.
Das Ganze ist Eigentum der Standard Island Company. Alle Bewohner der künstlichen Insel sind, wie groß auch ihr Vermögen sei, nur Abmieter. Übrigens wurde bezüglich des Komforts und der Zweckmäßigkeit hier alles vorgesehen, was die unglaublich reichen Amerikaner nur erwarten konnten, diese Leute, neben denen die Souveräne Europas und die Nabobs Indiens nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Wenn statistisch nachgewiesen ist, dass der Goldvorrat der Erde achtzehn Milliarden und der Silbervorrat zwanzig Milliarden beträgt, so besitzen die Bewohner dieses Juwels des Stillen Weltmeers davon in der Tat einen recht beträchtlichen Teil.
Von Anfang an hat sich das ganze Unternehmen übrigens finanziell vorzüglich gestaltet. Einzelhäuser und Wohnungen wurden zu gradezu fabelhaften Preisen vermietet, sodass solche zuweilen mehrere Millionen übersteigen, denn nicht so wenige Familien waren in der beneidenswerten Lage, derartige Summen alljährlich nur für ihr Unterkommen anzulegen. Die Company erzielte damit schon aus dieser einen Quelle einen Überschuss. Hiernach wird jedermann zugestehen, dass die Hauptstadt von Standard Island den ihr beigelegten Namen mit Recht verdiente.
Von jenen überreichen Familien abgesehen, gibt es hier mehrere hundert andere, deren Mietzins hundert- bis zweihunderttausend Francs beträgt und die sich mit solchen bescheidenen Verhältnissen begnügen. Die noch übrige Einwohnerschaft umfasst dann Lehrer jedes Faches, Lieferanten, Angestellte, Dienstboten und Fremde, deren Zufluss nur gering ist und denen nicht gestattet wird, sich in Milliard City oder sonstwo auf der Insel anzusiedeln. Von Advokaten gibt es nur wenige, wodurch auch Prozesse nur selten sind; Ärzte noch weniger, wodurch die Sterblichkeit auf eine lächerlich tiefe Stufe herabsinkt. Jeder Bewohner kennt übrigens sehr genau seine Konstitution, seine am Dynamometer gemessene Muskelkraft, seine mittels Spirometer festgestellte Lungenkapazität (Atmungsgröße), die am Sphygmometer beobachtete Zusammenziehungsfähigkeit seines Herzens und endlich seine am Magnetometer ablesbare allgemeine Lebenskraft. In der Stadt gibt es übrigens weder Schankstätten, Cafés oder Restaurationen, überhaupt nichts, was den Alkoholismus befördern könnte. Niemals ist hier ein Fall von Dypsomanie – sagen wir für die des Griechischen nicht kundigen Leser: von Trunksucht – vorgekommen. Vergessen wir nicht anzuführen, dass der Stadt elektrische Energie, Licht, mechanische Kraft, Wärme, verdichtete und verdünnte, sowie kalte Luft, Druckwasser geliefert und ihr pneumatische Telegramme und telefonische Nachrichten durch öffentliche Werke übermittelt werden. Geht jemand mit Tode ab auf dieser Schraubeninsel, die jeder klimatischen Unbill entzogen und gegen jede Beeinflussung durch Mikroben geschützt ist, so geschieht das, weil man, wenn die früher aufgezognen Federn der Lebensmaschinerie nach langer, langer Zeit abgelaufen sind, doch eben einmal sterben muss.
Auch Soldaten gibt es auf Standard Island, nämlich eine Truppe von fünfzig Mann unter dem Befehle des Colonel Stewart, denn man durfte nicht außer acht lassen, dass die weiten Gebiete des Stillen Ozeans nicht immer sicher sind. In der Nachbarschaft gewisser Inselgruppen ist es ein Gebot kluger Vorsicht, sich gegen Überfälle durch mancherlei Seeräuber sicherzustellen. Dass diese Miliz einen sehr hohen Sold bezieht und der gewöhnliche Mann sich besser steht, als ein höherer Offizier im alten Europa, ist ja selbstverständlich. Die Anwerbung dieser Soldaten, die auf öffentliche Kosten untergebracht, ernährt und gekleidet werden, geht ohne Schwierigkeiten vor sich. Der gleich einem Krösus bezahlte Anführer der Truppe hat dabei nur die Qual der Wahl.
Auf Standard Island existiert auch eine Polizei – nur einige schwache Rotten, die aber völlig hinreichen für die Sicherheit einer Stadt, in der keine Ursache vorliegt, diese Sicherheit gestört zu sehen. Es bedarf ja stets besonderer Genehmigung der obersten Verwaltungsbehörde, um sich hier häuslich niederzulassen. Die »Küsten« sind Tag und Nacht durch eine Abteilung Zollbeamter überwacht. Nur in den Häfen ist eine Landung überhaupt möglich. Wie sollten Übeltäter also Eingang finden? Was etwa Leute beträfe, die sich erst hier Ungebührlichkeiten zuschulden kommen ließen, so würden solche kurzerhand verhaftet, abgeurteilt und im Westen oder Osten des Großen Ozeans irgendwo an der Neuen oder Alten Welt ausgesetzt werden, sodass sie nach Standard Island niemals zurückkehren könnten.
Wir bedienten uns des Ausdrucks: die Häfen von Standard Island; deren gibt es in der Tat zwei, und zwar an beiden Enden der kurzen Durchschnittslinie des Ovals, das die Schraubeninsel bildet. Der eine heißt Steuerbord-, der andere Backbordhafen, entsprechend den im Seewesen gebräuchlichen Bezeichnungen.
Auf keinen Fall ist eine Unterbrechung der regelmäßigen Zufuhren zu befürchten. Das kann nicht vorkommen, weil jene Häfen auf einander entgegengesetzten Seiten liegen. Sollte nun der eine infolge schlechter Witterung unzugänglich sein, so steht doch der andere den Schiffen offen, die die Insel also bei jeder Windrichtung anlaufen können. Entweder im Backbord- oder im Steuerbordhafen treffen also die verschiedenen, notwendigen Waren ein, das Petroleum mit Spezialdampfern, Mehl und Feldfrüchte, Wein, Bier und andere beliebte Getränke, ferner Tee, Kaffee, Schokolade, Gewürze, Konserven usw. – Hier landet man auch Rinder, Hammel und Schweine von den besten Märkten Amerikas, wodurch der Bedarf an frischem Fleisch gedeckt wird, und überhaupt alles, was selbst die verwöhntesten Feinschmecker von Nahrungs- und Genussmitteln nur wünschen können. Ebenso erfolgt hier der Import von Stoffen, Leinenwaren und Modeartikeln, wie sie der raffinierteste Dandy und die eleganteste Weltdame nur verlangen können. Alle diese Gegenstände kauft man dann bei den Zwischenhändlern auf Standard Island … zu welchem Preise, wollen wir lieber verschweigen, um nicht die Ungläubigkeit des freundlichen Lesers zu erwecken.
Dagegen liegt die Frage nahe, wie ein regelmäßiger Dampferverkehr möglich war zwischen der Küste Amerikas und einer Insel mit Propellern, die sich selbst fortbewegte und sich heute in dieser Gegend und morgen zwanzig Meilen weiter befand?
Die Antwort ist sehr einfach. Standard Island segelt nicht aufs Geratewohl umher. Die Ortsveränderung der Insel erfolgt nach einem von der obersten Verwaltungsbehörde festgesetzten Programme, nachdem darüber die Anschauung der Meteorologen des Observatoriums eingeholt war. Ihre Fahrt ist ein Spaziergang mit nur geringen gelegentlichen Abweichungen durch den Teil des Stillen Ozeans, der die herrlichsten Inselgruppen umschließt, und unter möglichster Vermeidung schroffen Witterungswechsels, dieser mächtigsten Ursache für vielerlei Lungenkrankheiten. Deshalb konnte Calistus Munbar auch auf eine diesbezügliche Frage antworten: »Winter? … Kennen wir nicht!« Standard Island bewegt sich nur zwischen fünfunddreißig Grad nördlicher und fünfunddreißig Grad südlicher Breite. Bei siebzig Breitengraden oder etwa vierzehnhundert Seemeilen steht ihr ein prächtiges Wassergebiet offen. Die anderen Schiffe wissen also das Juwel des Großen Ozeans stets zu finden, da seine Ortsveränderung zwischen jenen reizenden Inseln, die ebenso viele Oasen in der grenzenlosen Wasserwüste des Großen Ozeans bilden, stets im Voraus festgestellt ist.
Doch auch ohnedem wären andere Schiffe nicht darauf angewiesen, die Schraubeninsel hier oder dort auf gutes Glück zu suchen, obwohl die Kompanie deshalb nicht die fünfundzwanzig – sechzehntausend Meilen langen – Kabel in Anspruch nahm, die der Eastern Extension Australasia and China Co. gehören. Nein; die Schraubeninsel darf von niemandem abhängig sein! Das erreichte man durch Verteilung von mehreren hundert Bojen auf den befahrenen Meeresteilen, Bojen, die das Ende elektrischer Kabel tragen, welche mit der Madeleinebucht in Verbindung stehen. Diese Bojen läuft man an, verbindet deren Kabel mit den Apparaten des Observatoriums und sendet nun die nötigen Depeschen ab. Dadurch werden die Vertreter der Kompanie in der Madeleinebucht bezüglich geographischer Länge und Breite der Lage von Standard Island immer auf dem laufenden erhalten. So erklärt es sich, dass der Dienst der Proviantschiffe mit wirklicher »Eisenbahnverlässlichkeit« vonstatten geht.
Daneben gibt es aber noch eine andere wichtige Frage, die einer Lösung wert ist.
Wie verschafft man sich denn das nötige Süßwasser für die vielfachen Bedürfnisse der Bevölkerung?
Das Wasser?… O, das gewinnt man durch Destillation in zwei besonderen Anstalten neben den Häfen. Durch ein Röhrensystem wird es nach den Häusern geleitet und unter den Feldern hingeführt. So dient es für wirtschaftliche Zwecke wie zur Straßenbesprengung und fällt als wohltätiger Regen auf die Felder und Rasenflächen, die damit den Launen der Witterung entzogen sind. Und dieses Wasser ist nicht allein süß, sondern sogar destilliert, elektrolisiert und hygienisch vorzüglicher als die reinsten Quellen der beiden Welten, aus denen ein Tropfen, in der Größe eines Stecknadelkopfes, noch fünfzehn Milliarden Mikroben enthalten kann.
Noch bleibt uns übrig zu erklären, wie die Ortsveränderung der ganzen Anlage vor sich geht. Einer großen Schnelligkeit bedarf sie nicht, da die Insel binnen sechs Monaten über die angegebenen Breitengrade und über den Raum zwischen dem hundertdreißigsten und dem hundertfünfundvierzigsten Längengrad nicht hinauskommen soll. Zwanzig bis fünfundzwanzig Seemeilen binnen vierundzwanzig Stunden, mehr verlangt Standard Island nicht. Eine solche Fortbewegung hätte man mittels Zugseil erreichen können, wenn man etwa ein Kabel aus jener indischen, Bastin genannten Faser hergestellt hätte, die sehr fest und gleichzeitig so leicht ist, dass sie sich im Wasser schwimmend und gesichert gegen Verletzungen durch Scheuern am Meeresgrunde erhalten hätte. Dieses Kabel hätte sich dann über Zylinder, die durch Dampfkraft gedreht wurden, aufgerollt, und Standard Island wäre mittels »Tauerei« vor- und rückwärts gegangen, wie noch heute hie und da Schiffe auf den Flüssen der Alten und der Neuen Welt. Dieses Kabel hätte aber außerordentlich lang und stark sein müssen und wäre doch vielfachen Havarien ausgesetzt gewesen, und dann bedeutete diese Anordnung nur eine »gefesselte Freiheit« mit dem Zwang, einer unveränderlichen Linie zu folgen – wenn sich’s aber um die Freiheit handelt, bestehen die Bürger des freien Amerika unerschütterlich auf ihrem Scheine.
Eine der Anlagen
Glücklicherweise haben die Elektrotechniker so große Fortschritte in ihrem Fache gemacht, dass man von der Elektrizität, der Seele des Weltalls, so gut wie alles verlangen kann. Ihr fiel daher auch die Aufgabe zu, die künstliche Insel fortzubewegen. Zwei Anlagen genügen, Dynamos von fast unbegrenzter Leistungsfähigkeit, die elektrische Energie in Form eines Gleichstromes von zweitausend Volt liefern, in Bewegung zu setzen. Diese Dynamos wirken auf ein mächtiges System von Propellern, die in der Nähe beider Häfen angebracht sind. Sie entwickeln jedes fünf Millionen Pferdekraft – dank den Hunderten von Kesseln, geheizt mit Petroleum-Briketts, die weit weniger Raum einnehmen und weniger rußen als Steinkohlen, zugleich aber viel mehr Wärme entwickeln. Die betreffenden Werke unterstehen der Leitung der beiden Hauptingenieure, der Herren Watson und Somwah, denen zahlreiche Mechaniker und Heizer zur Seite stehen, während die Oberleitung in den Händen des Kommodore1 Ethel Simcoë ruht. Von seiner Amtswohnung im Observatorium aus steht der Kommodore mit den beiden Elektrizitätswerken in telefonischer Verbindung. Er bestimmt nach dem vorher festgestellten Reiseplane den Kurs der künstlichen Insel. Von da war auch in der Nacht vom 25. zum 26. der Befehl ausgegangen, mit Standard Island die Küste Kaliforniens anzulaufen, in deren Nähe es sich zurzeit des Antritts seiner jährlichen Reise eben befand.
Kommodore Ethel Simcoë
Wer von unseren Lesern sich nun im Geiste darauf mit einschifft, der wird den verschiedenen Vorkommnissen auf dieser Fahrt über den Stillen Ozean mit beiwohnen und es hoffentlich nicht zu bereuen haben.
Wir fügen hier ein, dass die größte Geschwindigkeit Standard Islands, wenn seine Maschinen ihre zehn Millionen Pferdekraft entwickeln, acht Knoten (zwei geographische Meilen) in der Stunde erreicht. Die gewaltigsten Wogen, die der Sturm aufwühlt, haben auf die Insel keine Wirkung. Durch ihre Größe entgeht sie jedem Schwanken vom Seegange, und deshalb gibt es darauf auch keine Seekrankheit. Während der ersten Tage »an Bord« empfindet man höchstens ein schwaches Erzittern, dass die Rotation der Schrauben im Unterbau hervorbringt. Mit einem Sporn von sechzig Metern am Vorder- und am Hinterteile ausgerüstet, zerteilt die Insel die Wellen ohne Schwierigkeit und durchläuft die ungeheure Meeresfläche ohne jeden fühlbaren Stoß.
Natürlich dient die in den beiden Werken erzeugte elektrische Energie außer der Fortbewegung von Standard Island auch noch anderen Zwecken. Mit ihr werden Land, Park und Stadt erleuchtet. Sie unterhält hinter den Riesenlinsen der Leuchttürme die mächtige Lichtquelle, deren Strahlen die Anwesenheit der Schraubeninsel bis weit hinaus verkünden und jeder möglichen Kollision vorbeugen. Sie liefert die verschiedenen Zweigströme, die telegrafischen, telephotischen, telautographischen und telefonischen Zwecken dienen, ebenso, wie sie die Bedürfnisse der Privathäuser und der Handelsquartiere befriedigt. Sie versorgt auch die künstlichen Monde von je fünftausend Kerzen Leuchtkraft, die jeder eine Kreisfläche von hundert Meter Durchmesser erhellen.
Zurzeit, von der wir reden, befindet sich dieses außergewöhnliche Bauwerk auf seiner zweiten Reise über den Großen Ozean. Vor einem Monate hatte es die Madeleinebai verlassen und sich nach dem fünfunddreißigsten Breitengrade begeben, um seine Fahrt, etwa in der Höhe der Sandwich-Inseln,2 anzutreten. Eben befand es sich nahe der Küste von Nieder-Kalifornien, als Calistus Munbar durch telefonische Mitteilung erfuhr, dass sich das Konzert-Quartett nach der Abreise von San Franzisko nach San Diego begeben wollte, und ihm der Gedanke kam, sich dieser hervorragenden Künstler für die Dauer der Reise sozusagen zu bemächtigen. Wir wissen schon, wie er das ausführte, wie er sie auf der, nur wenige Kabellängen von der Küste verankerten Schraubeninsel einschiffte, und wie infolge seines gelungenen Streichs den Dilettanten von Milliard City der Genuss einer vorzüglichen Kammermusik in Aussicht gestellt war.
Das ist also jenes neunte Weltwunder, jenes des zwanzigsten Jahrhunderts würdige Meisterstück menschlichen Geistes, dessen unfreiwillige Gäste zwei Violinen, eine Bratsche und ein Violoncell sind und die Standard Island nach den westlichen Teilen des Pazifischen Ozean entführt.
1 Führer eines Geschwaders bei der Kriegsmarine <<<
2 Die Südlichen Sandwichinseln sind eine Inselkette im subantarktischen Südatlantik. <<<