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Zweites Kapitel
ОглавлениеIn der Brandung. — Briant und Doniphan. — Die Küste. — Vorbereitungen zur Rettung. — Das umstrittene Boot. — Von der Höhe des Fockmastes. — Ein mutiges Unternehmen Briants. — Eine Folge der Springflut.
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Die von der Nebelwand befreite Atmosphäre gestattete jetzt einen weiten Ausblick rings um den Schoner. Die Wolken flogen noch immer mit rasender Schnelligkeit am Himmel hin, der Sturm hatte noch immer nicht ausgewütet. Vielleicht peitschte er dieses unbekannte Gebiet des Stillen Ozeans aber doch nur mit seinen letzten Ausläufern.
Das war mindestens höchst wünschenswert, denn die Lage des »Sloughi« war jetzt nicht minder beängstigend als in der Nacht, wo er gegen das empörte Meer ankämpfte. Eines sich an das andere schmiegend, mussten diese Kinder sich verloren glauben, wenn eine Woge über die Schanzkleidung schlug und sie alle mit Schaum bedeckte. Die Stöße waren jetzt desto härter, da der Schoner denselben nicht frei nachgeben konnte. Jedenfalls erzitterte er bei jedem Anprall bis in alle Rippen und doch schien es nicht, als ob seine Wand geborsten wäre, weder als er den Rand der Klippen streifte, noch als er sich zwischen den Köpfen der Klippen sozusagen festkeilte. Briant und Gordon, die nach den unteren Räumen gegangen waren, überzeugten sich wenigstens, dass noch kein Wasser in den Rumpf eindrang.
Sie beruhigten in dieser Hinsicht nach Möglichkeit ihre Kameraden, vorzüglich die kleinsten derselben.
»Habt nur keine Angst …!« wiederholte Briant immer wieder. »Die Yacht ist fest gebaut …! Der Strand ist nicht mehr fern …! Wartet nur, wir werden den Strand schon erreichen!«
»Und warum sollen wir warten?« fragte Doniphan.
Doniphan
»Ja … Warum denn …?« setzte ein anderer, zwölfjähriger Knabe, Wilcox mit Namen, hinzu. »Doniphan hat recht. Warum denn warten?«
»Weil der Seegang noch zu schwer ist und uns auf die Felsen schleudern würde«, erwiderte Briant.
»Und wenn die Yacht nun in Stücke geht …?« rief ein dritter Knabe, namens Webb, der mit Wilcox etwa gleichaltrig war.
»Ich glaube nicht, dass das zu befürchten ist«, antwortete Briant, »mindestens nicht mehr, wenn die Ebbe eintritt. Sobald das Wasser sich soweit zurückgezogen hat, wie der Sturm das zulässt, werden wir an unsere Rettung gehen!«
Briant hatte völlig recht. Obwohl die Gezeiten im Stillen Ozean verhältnismäßig schwach auftreten, so können sie doch zwischen Flut und Ebbe eine nicht unbeträchtliche Verschiedenheit des Wasserstandes hervorbringen. Es war also von Vorteil, einige Stunden zu warten, zumal wenn dann auch der Wind abflaute. Vielleicht legte die Ebbe einen Teil der Klippen trocken; dann war es leichter, den Schoner zu verlassen und die letzte Viertelmeile bis zum Strand zu überwinden.
So vernünftig dieser Rat indes erschien, zeigten sich Doniphan und zwei oder drei andere doch gar nicht geneigt, demselben Folge zu geben. Sie traten auf dem Vorderdeck zusammen und sprachen gedämpften Tones miteinander. Es trat schon klar zutage, dass Doniphan, Wilcox, Webb und ein anderer Knabe, namens Cross, keine Lust hatten, sich mit Briant zu verständigen. Während der langen Fahrt des »Sloughi« leisteten sie ihm noch Gehorsam, weil Briant, wie erwähnt, einige seemännische Erfahrung besaß. Sie hegten dabei aber stets den Gedanken, sofort nach dem Wiederbetreten eines Landes sich ihre Freiheit des Handelns zu wahren — vor allen Doniphan, der sich durch genossenen Unterricht und natürliche Veranlagung sowohl Briant wie allen seinen Kameraden überlegen dünkte. Diese Eifersucht Doniphans gegen Briant bestand übrigens schon seit langer Zeit, und schon weil letzterer von Geburt Franzose war, empfanden junge Engländer wenig Neigung, sich seiner Oberherrschaft zu fügen.
Es lag also die Befürchtung nahe, dass diese Umstände den Ernst der ohnehin beunruhigenden Lage noch verschlimmern könnten.
Inzwischen betrachteten Doniphan, Wilcox, Cross und Webb das schäumende, von Wirbeln aufgeregte und von Strömungen hingerissene Wasser, welches freilich schwer zu überwinden schien. Der geübteste Schwimmer hätte der Brandung des zurücksinkenden Meeres, welches der Sturm von rückwärts packte, nicht zu widerstehen vermocht. Der Ratschlag, einige Stunden zu warten, rechtfertigte sich also von selbst. Doniphan und seine Kameraden mussten das endlich einsehen, und so kehrten sie wieder nach dem Hinterdeck zurück, wo die Kleinen sich aufhielten.
Da sagte Briant zu Gordon und einigen anderen, die ihn umstanden:
»Wir dürfen uns auf keinen Fall trennen …! Bleiben wir zusammen, oder wir sind verloren!«
»Du nimmst dir doch nicht heraus, uns Vorschriften machen zu wollen?« rief Doniphan, der jene Worte verstanden hatte.
»Ich nehme mir gar nichts heraus«, antwortete Briant, »und verlange nichts, als dass wir zum Heile aller vereinigt handeln.«
»Briant hat recht«, erklärte Gordon, ein ernster, schweigsamer Knabe, der nie sprach, ohne seine Worte reiflich erwogen zu haben.
»Ja …! Ja …!« riefen einzelne der Kleinen, welche eine Art geheimer Instinkt trieb, sich an Briant anzuschließen.
Doniphan erwiderte nichts mehr; doch er und seine Kameraden hielten sich abseits in Erwartung der Stunde, wo zur Rettung geschritten werden sollte.
Doch welches Land lag eigentlich vor ihnen? Gehörte es zu einer der Inseln des Stillen Ozeans oder zu einem Festland? Diese Frage musste vorläufig offenbleiben, da der »Sloughi« sich viel zu nahe dem Ufer befand, um einen hinreichenden Gesichtskreis überblicken zu können. Seine hohle, eine geräumige Bucht bildende Masse lief in zwei Vorgebirge aus — das eine ziemlich hoch und nach Norden zu scharf abgeschnitten, das andere in einer nach Süden vorgestreckten Spitze endigend. Vergebens suchte aber Briant mit einem der an Bord befindlichen Fernrohre zu erkennen, ob das Meer jenseits dieser Vorberge die Uferlinien einer Insel badete.
Im Fall dieses Land nämlich eine Insel war, entstand die ernste Frage, wie man diese wieder verlassen könne, wenn es sich als unmöglich erwies, den Schoner wieder flottzumachen, den die nächste Flut schon dadurch, dass sie ihn auf den Klippen hin und her warf, elend zertrümmern musste. Und war diese Insel obendrein unbewohnt — solche gibt es im Stillen Ozean gar viele —, wie sollten auf sich selbst angewiesene Kinder, die nichts besaßen, als was ihnen vielleicht von den Vorräten der Yacht zu bergen gelang, sich die notwendigsten Lebensbedürfnisse verschaffen?
Auf festem Land dagegen hätte sich die Aussicht auf Rettung entschieden verbessert, weil dieses Festland kein anderes als Südamerika sein konnte. Da mussten sie, auf dem Gebiet von Chile oder Bolivien, jedenfalls Hilfe finden und wenn auch nicht sofort, so doch wenige Tage nach stattgehabter Landung. Freilich waren auf diesen Nachbargebieten der Pampas mancherlei schlimme Begegnungen zu fürchten — jetzt handelte es sich aber einzig darum, überhaupt erst das Land zu erreichen.
Die Witterung war jetzt klar genug geworden, um alle Einzelheiten desselben zu erkennen, und deutlich unterschied man das Vorland des Strandes, das hohe, diesen im Hintergrund einrahmende Ufer, nebst verschiedenen, auf letzterem zerstreuten Baumgruppen. Briant erkannte sogar die Mündung eines Rio rechts am Ufer.
Wenn der Anblick dieser Küste auch nichts besonders Anziehendes bot, so wies doch der grüne Vorhang derselben auf eine gewisse Fruchtbarkeit hin, welche der der Länder unter mittlerer Breite zu entsprechen schien. Voraussichtlich zeigte die Vegetation jenseits der Uferhöhe, wo sie Schutz vor den Seewinden und gewiss noch günstigeren Boden fand, eher eine üppige Entwicklung.
Bewohnt schien der sichtbare Teil des Ufers nicht zu sein, wenigstens bemerkte man hier kein Haus und keine Hütte, nicht einmal an der Mündung des Rios. Vielleicht wohnten die Eingeborenen, wenn es solche gab, mit Vorliebe mehr im Innern des Landes, wo sie dem heftigen Ansturm des Westwindes am wenigstens ausgesetzt waren.
»Ich kann nicht den geringsten Rauch entdecken«, sagte Briant, das Fernrohr senkend.
»Und am Strand befindet sich kein einziges Boot«, bemerkte Moko.
»Wie sollte das der Fall sein, da hier kein Hafen vorhanden ist …?« warf Doniphan ein.
»Ein Hafen ist dazu nicht gerade notwendig«, erwiderte Gordon. »Einfache Fischerboote können auch in einer Flussmündung Schutz finden, und es wäre möglich, dass diese des Sturmes wegen sich hätten weiter landeinwärts zurückziehen müssen.«
Gordons Bemerkung war ganz richtig. Mochte es nun diesen oder jenen Grund haben, jedenfalls war nirgends ein Boot wahrzunehmen, und in der Tat schien dieser Teil des Ufers keine Bewohner zu haben. Es musste demnach die erste Aufgabe der jungen Schiffbrüchigen werden, festzustellen, ob dasselbe sich überhaupt als bewohnbar erweise.
Inzwischen sank das Wasser mit der Ebbe, doch sehr langsam, weiter zurück, denn der Wind von der Seeseite hemmte dessen Abfluss, obwohl dieser bei einer gleichzeitigen Drehung nach Nordwest schwächer zu werden schien. Jetzt galt es also sich bereitzuhalten für den Augenblick, wo die Klippenreihe einen Übergang gestatten würde.
Es war nun gegen sieben Uhr. Jeder beschäftigte sich damit, die für den ersten Bedarf notwendigsten Gegenstände auf das Deck zu schaffen, in der Hoffnung, die übrigen aufzufischen, wenn die Wellen sie ans Ufer trügen. Die Großen wie die Kleinen legten hierbei die Hände an. An Bord befand sich unter anderem ein großer Vorrat an Konserven, Biskuit, an gepöckeltem und geräuchertem Fleisch. Diese Nahrungsmittel wurden zu handlichen Ballen verpackt und sollten, unter die Größeren verteilt, von diesen ans Land geschafft werden.
Um das aber ausführen zu können, musste die Klippenreihe erst einen trockenen Weg bieten, und niemand wusste doch, ob das Meer sich auch beim niedrigsten Stand soweit zurückziehen würde, um die Felsen bis zum Strand bloßzulegen.
Briant und Gordon beobachteten unablässig und aufmerksam das Meer. Mit der Veränderung der Windrichtung wurde die Luft merkbar ruhiger und die Gewalt der Brandung begann ebenfalls nachzulassen, so wie man leicht bemerken konnte, dass das Wasser an den hervorragenden Felsblöcken niedersank. Der Schoner selbst lieferte einen Beweis für diese Abnahme des Wasserstandes, da er sich noch etwas weiter nach Backbord überneigte. Es war sogar zu befürchten, dass diese Neigung noch ferner zunahm und er sich ganz auf die Seite legte, denn er hatte sehr feine Formen und einen schlank abgerundeten Rumpf mit hohem Kiel, gleich den schnellsegelnden Yachten. Wenn das Wasser dann das Vorderdeck des Fahrzeuges eher erreichte, als man das letztere verlassen konnte, musste die Situation sich äußerst bedrohlich gestalten.
Wie beklagenswert erschien es nun, dass die Boote vom Sturme weggerissen worden waren. Diese hätten hingereicht, die ganze Gesellschaft aufzunehmen, und die jungen Leute wären jetzt schon in der Lage gewesen, einen Landungsversuch zu unternehmen. Und welche Bequemlichkeit eine Verbindung zwischen Schoner und Küste zu unterhalten, um vielerlei nützliche Gegenstände, die jetzt an Bord zurückgelassen werden mussten, fortzuschaffen! Wenn der »Sloughi« schon die nächstfolgende Nacht vielleicht in Stücke ging, was waren seine Wracktrümmer wert, nachdem die Brandung sie durch die Klippenreihe hingewälzt hatte? Konnten diese überhaupt noch nützliche Verwendung finden? Würden dann die noch übrigen Vorräte nicht vollständig havariert sein? Sahen sich die jungen Schiffbrüchigen nicht in kürzester Zeit allein auf die Hilfsquellen angewiesen, welche dieses Land ihnen bot?
Ja, es war ein beklagenswerter Umstand, dass kein Boot mehr vorhanden war, um die Ausschiffung zu bewerkstelligen.
Plötzlich ertönte vom Vorderdeck ein lauter Aufschrei. Baxter hatte eine jetzt hochwichtige Entdeckung gemacht.
Die für verloren gehaltene Jolle hatte sich unter dem Knie des Bugsprits in den Ketten des letzteren gefangen. Diese Jolle konnte freilich nur fünf bis sechs Personen aufnehmen; doch da sie sich unbeschädigt zeigte, was leicht zu erweisen war, nachdem man sie aufs Deck gezogen hatte, erschien es nicht unmöglich, sie zu benutzen, im Falle das Meer die Überschreitung der Klippen trockenen Fußes verhinderte. Hierzu musste man natürlich den niedrigsten Stand der Ebbe abwarten, und inzwischen kam es wieder zu einer lebhaften Auseinandersetzung, vorzüglich zwischen Briant und Doniphan.
Doniphan, Wilcox, Webb und Cross, die sich der Jolle bemächtigt hatten, gingen nämlich schon daran, sie wieder über Bord zu befördern, als Briant auf sie zutrat.
»Was beginnt ihr hier?« fragte er.
»Was uns passt!« antwortete Wilcox.
»Ihr wollt dieses kleine Fahrzeug besteigen …?«
»Ja«, erwiderte Doniphan, »und du wirst uns nicht davon abhalten.«
»Das werd’ ich doch tun, ich und alle die übrigen, die du verlassen willst.«
»Verlassen …? Wer sagt dir das?« antwortete Doniphan hochmütig. »Ich will niemand verlassen, verstehst du? Wenn wir erst am Strand sind, wird einer die Jolle zurückrudern …«
»Und wenn er nicht zurückkehren kann«, rief Briant, der sich nur mit Mühe beherrschte, »wenn sie zwischen den Felsen leck würde …«
»Einsteigen …! Zum Einsteigen fertig!« unterbrach ihn Webb, der Briant zurückdrängte.
Von Wilcox und Cross unterstützt, hob er schon das leichte Fahrzeug auf, um es ins Wasser zu bringen.
Briant packte dasselbe an dem einen Ende.
»Ihr werdet nicht einsteigen!« rief er.
»Das wollen wir doch sehen!« antwortete Doniphan.
»Ich sage euch, ihr steigt nicht ein!» widerholte Briant, entschlossen im Allgemeinen Interesse Widerstand zu leisten. »Die Jolle muss zunächst für die Kleinsten zurückbehalten werden, im Falle auch bei niedrigem Meere zu viel Wasser stehenbliebe, um den Strand zu erreichen.«
»Lass uns in Ruhe!« schrie Doniphan aufbrausend. »Ich erkläre dir nochmals, Briant, du wirst uns nicht hindern zu tun, was wir wollen.«
»Und ich wiederhole dir, Doniphan«, herrschte ihn Briant ebenso laut an, »dass ich euch doch hindern werde!«
Die beiden Knaben waren schon bereit, aufeinander loszustürzen. Bei diesem Streit hätten Wilcox, Webb und Cross natürlich für Doniphan Partei ergriffen, während sich Baxter, Service und Garnett voraussichtlich auf Briants Seite stellten. Die Sache hätte die schlimmsten Folgen haben können, als Gordon sich noch ins Mittel legte.
Gordon, der älteste und besonnenste von allen, sah das Beklagenswerte eines solchen Zwischenfalls ein, und war vernüftig genug, sich zu Gunsten Briants auszusprechen.
»Halt! Halt, Doniphan!« rief er, »etwas Geduld! Du siehst doch, dass der Seegang noch stark ist und wir Gefahr laufen, unsere Jolle ganz einzubüßen.«
»Ich mag es nicht leiden, dass Briant uns Gesetze vorschreibt, wie er sich das seit einiger Zeit angewöhnt hat«, erwiderte Doniphan heftig.
»Nein …! Nein …!« ließen Cross und Webb sich vernehmen.
»Es fällt mir gar nicht ein, irgendwem Gesetze vorzuschreiben«, antwortete Briant, »ich werde das aber auch keinem anderen gestatten, wenn es sich um das Interesse aller handelt.«
»Das liegt uns ebenso sehr am Herzen wie dir«, schleuderte ihm Doniphan entgegen; »und jetzt, wo wir auf dem Lande sind …«
»Leider noch nicht«, fiel ihm Gordon ins Wort. »Trotze nicht ferner, Doniphan, und lass uns einen günstigen Augenblick abwarten, wo wir die Jolle verwenden können.«
Gordon trat zu sehr gelegener Zeit als Vermittler zwischen Briant und Doniphan — wozu er übrigens schon mehrfach Veranlassung gefunden hatte —, und die Kameraden fügten sich seinen Vorstellungen.
Der Wasserstand hatte jetzt um zwei Fuß abgenommen, und es entstand die Frage, ob sich zwischen den Klippen vielleicht eine Art Kanal hinziehe.
In der Meinung, von der Höhe des Fockmastes die ganze Anordnung des Klippengürtels besser übersehen zu können, begab sich Briant nach dem Vorderdeck, erklomm die Steuerbordwanten und kletterte dann noch an den Tauen der Bramstenge1 hinauf.
Quer durch die Klippenbank zeigte sich da eine Durchfahrt, deren Richtung durch viele, sie auf beiden Seiten begrenzende Felsblöcke angedeutet war und der man folgen musste, wenn man mit Hilfe der Jolle nach dem Strand gelangen wollte. Augenblicklich freilich brodelte und wirbelte die Brandung hier noch viel zu heftig, um sich jener mit Erfolg bedienen zu können. Unfehlbar wäre die Jolle auf eine Felsspitze geworfen und damit schwer beschädigt, wenn nicht vernichtet worden. Es empfahl sich also, noch so lange zu warten, bis das sinkende Meer hier eine gefahrlosere Wasserstraße zurückließ.
Von der Oberbramrah aus, auf welcher Briant reitend sich anklammerte, bemühte sich dieser, das Uferland noch genauer zu besichtigen. Er suchte mit dem Fernglas Stück für Stück den Strand ab, bis zu der höher ansteigenden Hinterwand desselben. Zwischen den beiden, etwa acht bis neun Seemeilen voneinander entfernten Vorgebirgen schien die Küste völlig unbewohnt zu sein.
Nach halbstündigem Auslugen stieg Briant wieder hinunter und berichtete seinen Gefährten, was er gesehen. Wenn Doniphan, Wilcox, Webb und Cross ihm zuhörten, ohne etwas zu sagen, so fragte ihn Gordon dagegen:
»Als der ›Sloughi‹ strandete, Briant, war es da nicht gegen sechs Uhr morgens?«
»Ja«, antwortete Briant.
»Und wie lange dauert es bis zum niedrigsten Wasserstande?«
»Ich glaube fünf Stunden. — Nicht wahr, Moko?«
»Ja, zwischen fünf und sechs Stunden«, erklärte der Schiffsjunge.
»Das träfe also gegen elf Uhr ein«, fuhr Gordon fort. »Dann wäre der günstigste Zeitpunkt zu dem Versuch, die Küste zu erreichen.«
»So hatte ich auch gerechnet«, bemerkte Briant.
»Nun wohl«, nahm Gordon wieder das Wort, »wir wollen uns für diese Zeit bereithalten und inzwischen etwas essen. Sind wir gezwungen, selbst ins Wasser zu gehen, so geschehe das wenigstens mehrere Stunden nach eingenommener Mahlzeit.«
Ein guter Rat, wie er von diesem klugen Knaben zu erwarten war. Jetzt ging’s also an das erste, aus Konserven und Biskuit bestehende Frühstück. Briant besorgte und überwachte dabei vorzüglich die Kleinen. Jenkins, Iverson, Dole, Costar begannen sich bei der glücklichen Sorglosigkeit ihres Alters schon wieder völlig zu beruhigen und hätten gewiss ohne jede Rücksicht darauf losgegessen, denn sie hatten seit vierundzwanzig Stunden nichts über die Lippen gebracht. Alles ging jedoch gut ab, und einige Tropfen mit Wasser verdünnten Brandys lieferten ein anregendes Getränk.
Nach eingenommenem Frühstück begab sich Briant wieder nach dem Vorderteil des Schoners und beobachtete, auf die Schanzkleidung gestützt, die Klippenreihe.
Wie langsam wich doch das Meer zurück! Es lag aber auf der Hand, dass dessen Niveau sich erniedrigte, denn die Schieflage des Schoners nahm noch weiter zu. Moko hatte mittels eines Senkbleis gefunden, dass noch mindestens acht Fuß Wasser über der Bank standen. Dass die Ebbe so tief sinken würde, um jene völlig trockenzulegen, glaubte Moko nicht annehmen zu dürfen und teilte seine Ansicht Briant heimlich mit, um niemand unnötig zu erschrecken.
Briant setzte dann Gordon hiervon in Kenntnis. Beide begriffen, dass der Wind, obwohl er noch weiter nach Norden umgegangen war, doch das Meer verhinderte, soweit zurückzusinken, wie es bei stillem Wetter der Fall gewesen wäre.
»Was beginnen wir dann also?« sagte Gordon.
»Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht …!« antwortete Briant. »Und welches Unglück, es nicht zu wissen … welches Unglück, in unserer Lage fast noch Kinder und, wo es so nötig wäre, nicht Männer zu sein.«
»Die Notwendigkeit wird unsere Lehrmeisterin sein«, versicherte Gordon. »Verzweifeln wir nicht, Briant, und handeln wir klug!«
»Ja, handeln, Gordon! Wenn wir den ›Sloughi‹ vor Wiedereintritt der Flut nicht verlassen haben, wenn wir noch eine Nacht an Bord bleiben müssen, sind wir verloren …«
»Kein Zweifel, denn die Yacht wird dann zertrümmert werden. Wir müssen dieselbe auf jeden Fall verlassen haben …«
»Gewiss; um jeden Preis, Gordon!«
»Wäre es nicht ratsam, eine Art Floß oder etwas wie eine Fähre herzustellen?«
»Daran hab’ ich wohl auch gedacht«, antwortete Briant, »leider hat uns der Sturm aber alles dazu geeignete Material entführt. Die Schanzkleidung abzubrechen, um aus deren Teilen ein Floß zusammenzuzimmern, dazu fehlt uns die Zeit. So bleibt nur die Jolle übrig, deren wir uns aber bei dem schweren Seegange nicht bedienen können. Doch nein, wir könnten auch noch versuchen, ein Tau durch den Klippengürtel zu ziehen und dessen Ende an der Spitze eines Felsens zu befestigen. Vielleicht gelingt es uns, daran bis ganz in die Nähe des Strandes hingleiten zu können …«
»Wer soll das Tau aber auslegen?«
»Ich«, erklärte Briant.
»Und ich werde dir helfen«, sagte Gordon.
»Nein, ich vollbring es allein«, versetzte Briant.
»Denkst du, dabei die Jolle zu benützen?«
»Das hieße, es wagen, sie ganz einzubüßen, Gordon, und es ist besser, diese als allerletztes Hilfsmittel aufzubewahren.«
Bevor er zur Ausführung seines gefahrvollen Vorhabens schritt, wollte Briant jedoch, um jede unglückliche Möglichkeit auszuschließen, noch eine nützliche Maßregel treffen.
An Bord befanden sich verschiedene Schwimmgürtel, und er veranlasste die kleinsten Gefährten, sich sofort mit denselben auszurüsten. Im Fall sie die Yacht verlassen mussten, während das Wasser noch so tief war, dass diese mit den Füßen keinen Grund fanden, würden diese Apparate sie schwimmend erhalten, und die größeren Knaben, welche an dem Tau hinglitten, sollten sie dann nach dem Strande zu vor sich herschieben.
Es war jetzt zehneinviertel Uhr. Binnen fünfundvierzig Minuten musste die Ebbe den tiefsten Stand erreicht haben. Am Steven des »Sloughi« maß man nur noch vier bis fünf Fuß Wasser, es schien aber nicht, als ob dieser Stand sich noch mehr als wenige Zoll erniedrigen sollte. Gegen sechzig Yards weiterhin stieg der Grund freilich merkbar höher auf, das verriet sich deutlich an der mehr schwärzlichen Farbe des Wassers, sowie an den zahlreichen Spitzen, die längs des Strandes aufgetaucht waren. Die Schwierigkeit lag nur darin, über die tiefere Stelle vor dem Schiffe glücklich hinwegzukommen. Gelang es Briant, in dieser Richtung ein Tau auszulegen und es an einem Felsen haltbar zu befestigen, so musste dieses Tau, nach dessen Anspannung mittels des Gangspills an Bord, es ermöglichen, eine Stelle zu erreichen, wo man wenigstens Grund fand. Holte man an demselben Kabel die Ballen mit Mundvorräten und Werkzeugen herüber, so gelangten diese voraussichtlich unbeschädigt ans Land.
Wie gefährlich dieser Versuch auch sein mochte, so wollte Briant doch niemand gestatten, für ihn einzutreten, und er traf demgemäß seine Vorbereitungen.
An Bord befanden sich mehrere schwächere Taue von etwa hundert Fuß Länge, welche gelegentlich als Trossen gedient hatten. Briant wählte eines von mittlerer Dicke, das ihm am geeignetsten erschien, und befestigte dasselbe, nachdem er sich halb entkleidet, am Gürtel.
»Jetzt, Achtung, ihr anderen!« rief Gordon. »Seid bei der Hand, das Tau nachgleiten zu lassen. Hierher aufs Vorderdeck!«
Doniphan, Wilcox, Cross und Webb konnten ihre Mithilfe bei einem Unternehmen nicht verweigern, dessen Wichtigkeit sie einsahen. Trotz ihrer Misslaune ließen sie sich dazu herbei, an dem Tau mit anzufassen und dieses je nach Bedarf nachschießen zu lassen, um Briants Kräfte möglichst zu schonen.
In dem Augenblick, wo dieser bereitstand, über Bord zu springen, näherte sich ihm sein Bruder und rief:
»Ach, Briant, was wagst du?«
»Keine Furcht, Jacques! Ängstige dich nicht um mich!« antwortete der mutige Knabe.
Briant und Jacques
Gleich darauf sah man ihn schon im Wasser auftauchen und mit kräftiger Bewegung fortschwimmen, während das Tau ihm nachrollte.
Selbst bei ruhigem Meere wäre dieses Unternehmen sehr schwierig gewesen, denn die Brandung schlug stets heftig gegen das Felsengewirr. Strömungen und Gegenströmungen hinderten den unerschrockenen Knaben oft, eine gerade Richtung einzuhalten, und wenn sie ihn packten, hatte er große Mühe, sich wieder herauszuarbeiten.
Immerhin kam Briant dem Strand allmählich näher, während seine Kameraden das Tau nach Bedarf ablaufen ließen. Offenbar aber nahmen seine Kräfte ab, obwohl er sich fünfzig Fuß weit vom Schoner befand. Vor ihm tobte jetzt ein heftiger Wirbel, erzeugt durch verschieden aufeinandertreffende Wellen. Gelang es ihm, um diesen herumzukommen, so durfte er hoffen, sein Ziel zu erreichen, denn hinter demselben war das Wasser bedeutend ruhiger. Er versuchte also sich mit aller Anstrengung nach links zu werfen. Vergeblich! Auch der beste Schwimmer im kräftigsten Mannesalter wäre hieran gescheitert. Von der durcheinanderschießenden Wellenbewegung erfasst, wurde Briant unwiderstehlich nach der Mitte des Wirbels gezogen.
Briant nach der Mitte des Wirbels gezogen.
»Zu Hilfe …! Zieht an …! Holt ein!« hatte er noch die Kraft zu rufen, bevor er verschwand.
An Bord der Yacht verbreitete sich ein unbeschreiblicher Schrecken.
»Holt ein …!« rief Gordon kaltblütig.
Seine Kameraden beeilten sich, das Tau schnell einzuziehen, um Briant wieder an Bord zu holen, ehe er durch zu langes Verweilen unter Wasser erstickte.
Binnen weniger als einer Minute war Briant — freilich bewusstlos — an Bord geholt; er kam jedoch in den Armen seines Bruders bald wieder zu sich.
Der Versuch, ein Tau irgendwo an der Klippenreihe zu befestigen, war missglückt und keiner hätte ihn mit Aussicht auf Erfolg wiederholen können. Die unglücklichen Kinder waren also darauf angewiesen, ruhig zu warten … Auf was denn zu warten …? Auf Unterstützung …? Doch von welcher Seite und von wem hätte eine solche kommen können?
Jetzt war schon Mittag vorüber; die Flut machte sich bereits bemerkbar und die Brandung wurde stärker. Da gleichzeitig Neumond war, musste die Flut sogar höher steigen als am vergangenen Tage. Wenn dazu der Wind wieder mehr nach der Seite des hohen Meeres zurückging, lief der Schoner Gefahr, von seinem Felsenbett noch einmal abgehoben zu werden … Er streifte dann von Neuem den Grund, er musste an den Klippen kentern! — Diesen endlichen Ausgang des Schiffbruchs hätte keiner überlebt. Und jetzt war nichts zu tun … nichts!
Auf dem Achterdeck versammelt, die Kleinen in der Mitte der Großen, betrachteten alle das Wiederanschwellen des Meeres, das sich durch die nacheinander verschwindenden Klippenhäupter verriet. Leider war der Wind wieder nach Westen umgeschlagen, und wie in vergangener Nacht peitschte er das Land mit voller Wucht. Mit dem sich vertiefenden Wasser wuchsen auch die Wellen wieder an, hüllten den »Sloughi« in feuchte Dünste und mussten bald über denselben hinwegbranden. Gott allein konnte den jungen Schiffbrüchigen zu Hilfe kommen, und ihre Gebete vermischten sich mit ihren Angstrufen.
Kurz vor zwei Uhr hatte der Schoner sich wieder aufgerichtet und lag jetzt nicht mehr nach Backbord geneigt. Infolge seines Stampfens stieß er aber mit dem Vorderteil auf den Grund, obwohl sein Hintersteven noch auf dem Felsen festsaß. Bald wiederholten sich die Stöße ohne Unterlass, und der »Sloughi« rollte dabei von einer Seite zur anderen. Die Kinder mussten sich fest aneinanderhalten, um nicht über Bord geschleudert zu werden.
In diesem Augenblick kam ein schaumgekrönter Berg von der offenen See her angestürmt und türmte sich zwei Kabellängen von der Yacht noch höher auf. Man hätte ihn für die ungeheure Woge einer Springflut, wie diese in einige große Ströme sich eindrängt, halten können. In einer Höhe von über zwanzig Fuß kam er herangedonnert, brauste über den Klippengürtel hinweg und hob den »Sloughi« auf, den er über die Felsen wegtrug, ohne dass sein Kiel die Felsen nur streifte.
Binnen weniger als einer Minute wurde der »Sloughi«, umhüllt von der gurgelnden Wassermasse, bis mitten auf den Strand und hier auf einen Sandhügel geworfen, sodass er kaum zweihundert Schritte von den Bäumen des hohen Uferrandes entfernt lag. Hier blieb er, diesmal auf dem festen Land, unbeweglich sitzen, während das wieder abflutende Meer den Strand trocken zurückließ.
1 zweitoberste Verlängerung eines Mastes <<<