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Fünftes Kapitel
ОглавлениеInsel oder Festland? — Ein Ausflug. — Briant zieht allein aus. — Die Amphibien. — Scharen von Plattfischen. — Frühstück. — Von der Höhe des Vorgebirges. — Die drei Eilande im offenen Meer. — Eine blaue Linie am Horizont. — Rückkehr zum »Sloughi«.
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Insel oder Festland? — Das blieb noch immer die wichtige Frage, mit der sich Briant, Gordon und Doniphan, ihrem Charakter und ihrer Intelligenz nach die natürlichen Häupter dieser kleinen Welt, unausgesetzt beschäftigten. Bei dem Gedanken an die Zukunft, während die Kleinen nur der Gegenwart lebten, sprachen sie sehr oft über diesen Gegenstand. Ob dieses Land aber einer Insel oder einem Kontinent angehörte, jedenfalls lag es nicht innerhalb der Tropenzone; das bewies seine Pflanzenwelt, der Bestand an Eichen, Buchen, Birken, Weiden, Fichten und Tannen verschiedener Art, das zeigte sich an den zahlreichen Myrtaceen oder Steinbrecharten, welche als Bäume oder Gebüsche im mittleren Teil des Stillen Ozeans nicht vorkommen. Es schien sogar, als liege dieses Gebiet in etwas höherer Breite, also näher dem Südpol, als Neuseeland, weshalb zu befürchten war, dass der Winter hier mit großer Strenge auftreten würde. Schon bedeckte eine dicke Lage welker Blätter den Boden der Gehölze, die sich am Fuße des Steilufers hinzogen. Nur die Tannen und Fichten hatten ihren Nadelschmuck bewahrt, der sich von Jahr zu Jahr erneuerte, ohne jemals ganz abzufallen.
»Aus diesem Grunde«, bemerkte Gordon am nächsten Tage nach der Festlegung des »Sloughi« auf dem Strand, »erscheint es mir ratsam, dass wir uns nicht endgültig auf diesem Teil der Küste ansiedeln.«
»Das mein ich auch«, ließ Doniphan sich vernehmen. »Doch wenn wir die schlechte Jahreszeit herankommen lassen, wird es zu spät sein, einen bewohnten Ort aufzusuchen, wenigstens wenn wir Hunderte von Meilen bis dahin zurückzulegen haben.«
»Geduld, Geduld!« erwiderte Briant. »Noch sind wir erst in der Mitte des März!«
»Nun«, entgegnete Doniphan, »die gute Witterung mag bis Ende April dauern, und binnen sechs Wochen ist ein gutes Stück Wegs zu überwinden.«
»Vorausgesetzt, dass es überhaupt einen Weg gibt«, meinte Briant.
»Und warum sollte es keinen geben?«
»Natürlich«, fiel Gordon ein. »Doch wenn es einen gibt, wissen wir auch, wohin er führen wird?«
»Ich sehe nur das eine«, erwiderte Doniphan, »dass es eine große Torheit wäre, vor Eintritt der Kälte und der Regenzeit den Schoner nicht verlassen zu haben, und schon aus diesem Grund darf man nicht bei jedem Schritt neue Schwierigkeiten wittern.«
»Es ist stets besser, diese scharf ins Auge zu fassen«, versetzte Briant, »als sich gleich Narren in ein Land hineinzuwagen, das man nicht kennt.«
»Und es ist sehr leicht«, erklärte Doniphan herausfordernd, »diejenigen Narren zu nennen, welche nicht eurer Ansicht sind!«
Vielleicht hätte diese Antwort Doniphans wieder scharfe Gegenreden seines Kameraden hervorgerufen und das Gespräch in eine Zänkerei ausarten lassen, da trat Gordon vermittelnd dazwischen.
»Es nützt nichts, miteinander zu streiten«, sagte er, »und um sich in schlimmer Lage zu helfen, gilt es zuerst sich zu verständigen. Doniphan hat damit recht, zu sagen, dass wir, wenn ein bewohntes Land in unserer Nachbarschaft liegt, ungesäumt dahin aufbrechen sollten. Ist das aber anzunehmen? antwortet dagegen Briant, und er hat nicht unrecht, so zu antworten.«
»Was, zum Teufel!« rief Doniphan hitziger. »Sieh, Gordon, wenn wir nach Norden hinaufziehen, nach Süden hinunterwandern, wenn wir uns nach Osten hinwenden, so müssen wir schließlich ans Ziel kommen …«
»Ja, sobald wir uns auf einem Festland befinden«, unterbrach ihn Briant, »nicht aber, wenn wir auf einer Insel sind und diese unbewohnt ist.«
»Doch eben deshalb gilt es, sich zu überzeugen, woran wir sind«, erwiderte Gordon. »Was aber das Verlassen des ›Sloughi‹ betrifft, ohne uns darüber vergewissert zu haben, ob auch im Osten ein Meer sich befindet …«
»Oh, der wird uns schon selbst verlassen!« rief Doniphan, wie immer auf seiner einmal gefassten Ansicht bestehend. »Auf diesem Strand wird er dem Ansturm des Wetters in der schlechten Jahreszeit doch nicht widerstehen können.«
»Das geb’ ich zu«, meinte Gordon, »und doch müssen wir vor einem Auszug nach dem Innern wissen, wohin wir gehen.«
Gordons Einwürfe erschienen so berechtigt, dass Doniphan sich ihnen wohl oder übel fügen musste.
»Ich bin bereit, auf Kundschaft auszuziehen«, meldete sich Briant.
»Ich ebenfalls«, schloss sich Doniphan an.
»Wir alle sind gewiss dazu bereit«, meinte Gordon; »es wäre jedoch sehr unklug, auch die Kleinen bei einem solchen möglicherweise langen und beschwerlichen Zuge mitzunehmen; zwei bis drei von uns werden, denk’ ich, genug sein?«
»Es ist sehr bedauerlich«, äußerte Briant, »dass sich hier keine beträchtlichere Anhöhe findet, von deren Gipfel aus man Umschau halten könnte. Leider befinden wir uns auf ziemlich niedrigem Land, und auch von der Seeseite her hab’ ich, selbst am Horizont, keinen Berg entdecken können. Hier scheinen andere Höhen, als das schroff ansteigende Ufer im Hintergrund des Strandes, ganz zu fehlen. Jenseits des letzteren befinden sich sicherlich Wälder, Ebenen und Sümpfe, durch welche der Rio sich hinschlängelt, dessen Ausmündung wir besichtigt haben.«
»Und doch wäre es von Nutzen, diese Gegend einmal in Augenschein zu nehmen«, warf Gordon ein, »ehe wir das Steilufer weiter untersuchen, in dem ich mit Briant vergeblich nach einer Höhle gesucht habe.«
»Nun, warum sollen wir uns dann nicht nach dem Norden der Bai begeben?« sagte Briant. »Ersteigen wir das dortige Vorgebirge, so müssten wir, wie mir scheint, weithin sehen können …«
»Eben daran dachte ich auch«, antwortete Gordon. »Ja, jenes Kap, welches zwei- bis dreihundert Fuß hoch sein mag, muss das Steilufer überragen.«
»Ich erbiete mich, dahin zu gehen …« erklärte Briant.
»Wozu aber?« warf Doniphan ein. »Was wäre von da oben zu sehen?«
»Ich meine, den Versuch ist es jedenfalls wert«, erwiderte Briant.
In der Tat erhob sich am Ende der Bai eine Anhäufung von Felsen, eine Art Hügel, der auf der einen Seite mit schroffer Wand ins Meer abfiel und auf der anderen in das lange Steilufer überzugehen schien. Vom »Sloughi« aus maß die Entfernung dahin längs der Windungen des Strandes höchstens sieben bis acht (englische) Meilen, und nur fünf bis sechs in der Luftlinie. Gordon täuschte sich auch wohl nicht, wenn er die Höhe des Vorgebirges über dem Meere auf dreihundert Fuß abschätzte.
Ob diese Höhe ausreichend war, einen größeren Teil des Hinterlandes zu übersehen? Oder wurde der Ausblick nach Osten hin durch irgendein Hindernis beschränkt? Jedenfalls war von dort aus zu erkennen, was jenseits des Vorgebirges lag und ob die Küste sich nach Norden hin unbegrenzt fortsetzte oder ob sich dahinter schon wieder der Ozean ausbreitete. Es empfahl sich also, nach dem Ende der Bai zu gehen und die Anhöhe daselbst zu ersteigen. Lag nach Osten zu ebeneres Land, so musste man es von jenem Punkte aus auf mehrere Meilen hin überblicken können.
Es wurde also beschlossen, diesen Plan auszuführen. Wollte Doniphan auch dessen Nutzen nicht anerkennen — ohne Zweifel, weil die Anregung dazu von Briant und nicht von ihm herrührte —, so war derselbe doch nicht minder geeignet, ein wertvolles Ergebnis zu liefern.
Gleichzeitig wurde bestimmt, und nach reiflicher Erwägung festgestellt, den »Sloughi« nicht eher zu verlassen, als bis man mit Sicherheit wisse, ob dieser auf der Küste eines Festlandes gescheitert sei oder nicht — und dieses Festland konnte kein anderes als Amerika sein.
Nichtsdestoweniger konnte jener Ausflug während der fünf folgenden Tage nicht ausgeführt werden. Das Wetter war dunstig geworden, und zuweilen rieselte ein feiner Regen herab. Zeigte der Wind keine Neigung zum Auffrischen, so mussten die den Horizont verhüllenden Dunstmassen jeden Ausblick verhindern.
Diese Tage waren deshalb jedoch nicht als verloren anzusehen. Man benützte sie zu verschiedenen Arbeiten. Briant beschäftigte sich mit den kleinen Kindern, welche er unablässig überwachte, als wäre es ihm ein natürliches Bedürfnis, ihnen eine Art väterlicher Liebe angedeihen zu lassen. Stets hielt er dabei im Auge, dass dieselben, so gut die Umstände es erlaubten, mit allem versorgt wurden. So nötigte er sie, da die Temperatur zu sinken schien, wärmere Kleider anzulegen, wobei er ihnen diejenigen passend zurechtmachte, welche sich in den Kisten der Matrosen vorfanden. Das war eine Schneiderarbeit, bei der die Schere mehr zu tun hatte als die Nadel, und bei welche Moko, der etwas nähen konnte, wie ja ein Schiffsjunge in allem bewandert sein muss, sich sehr anstellig erwies. Man hätte freilich nicht sagen können, dass Costar, Dole, Jenkins und Iverson sich besonders elegant ausnahmen in diesen für sie zu großen Beinkleidern und Wolljacken, von denen nur Beine und Ärmel passend geschnitten waren; doch darauf kam nicht viel an. Sie mussten sich schon damit behelfen suchen und fanden sich bald in diese neue Ausstaffierung hinein.
Übrigens ließ man sie nicht müßig gehen. Unter Führung Garnetts oder Baxters zogen sie öfters hinaus, um Muscheln zu sammeln oder mit Schnüren oder Netzen im Bett des Rios zu fischen. Das war für sie ein Vergnügen und für alle ein Vorteil. In dieser Weise mit einer Arbeit beschäftigt, welche sie belustigte, dachten sie gar nicht an ihre Lage, deren Ernst über ihr Begriffsvermögen hinausging. Jedenfalls betrübte sie die Erinnerung an ihre Eltern, ebenso wie diese den übrigen schwer auf den Herzen lag. Der Gedanke jedoch, dass sie diese niemals wiedersehen würden, konnte ihnen gar nicht kommen.
Was Gordon und Briant anging, so verließen diese kaum jemals den »Sloughi«, dessen Instandhaltung sie übernommen hatten. Service blieb dann manchmal bei ihnen und machte sich, bei seiner guten Laune, immer recht nützlich. Er liebte Briant und schloss sich niemals denjenigen seiner Kameraden an, welche mit Doniphan in ein Horn bliesen. Auch Briant empfand für ihn eine ausgesprochene Zuneigung.
»Seh einer, das macht sich …!« rief Service gern. »Wahrhaftig, unser ›Sloughi‹ ist sehr zu gelegener Zeit von einer gefälligen Welle auf den Strand geworfen, und nicht einmal gar zu sehr beschädigt worden! — Das ist ein Vorzug, den weder Robinson Crusoe noch der Schweizer Robinson auf ihren erdichteten Inseln genossen haben!«
Und Jacques Briant? Nun, wenn Jacques zuweilen seinem Bruder bei den verschiedenen Beschäftigungen an Bord zu Hilfe kam, so antwortete er doch kaum auf die an ihn gerichteten Fragen und wendete allemal schnell die Augen ab, wenn ihm jemand ins Gesicht sah.
Briant empfand eine rechte Besorgnis über dieses Benehmen Jacques’. Vier Jahre älter als jener, hatte er auf ihn stets einen unbestrittenen Einfluss ausgeübt. Seit der unfreiwilligen Abfahrt des Schoners schien es jedoch, wie wir schon erfahren haben, als ob das Kind von Gewissensbissen gequält würde. Hatte er sich wohl ein ernstliches Vergehen vorzuwerfen — ein Vergehen, welches er nicht einmal seinem Bruder gestehen mochte? Ganz sicher war, dass seine Augen durch auffallende Röte wiederholt verrieten, dass er geweint hatte.
Briant legte sich wohl die Frage vor, ob Jacques’ Gesundheit angegriffen wäre, denn es hätte ihm eine schwere Sorge bereitet, wenn dieses Kind hier wirklich erkrankte. Er drang deshalb öfters in seinen Bruder, ihm mitzuteilen, was ihm fehle, doch dieser antwortete darauf nur:
»Nein, nein, mir fehlt nichts, mir fehlt gar nichts!«
Etwas anderes war nicht aus ihm herauszubringen.
Während der Zeit vom 11. bis 15. März beschäftigten sich Doniphan, Wilcox, Webb und Cross mit der Jagd auf die in den Felsen nistenden Vögel. Sie gingen immer miteinander, sichtlich bestrebt, eine besondere Partei zu bilden. Gordon bemerkte das nicht ohne Beunruhigung. Wenn sich dazu die Gelegenheit bot, unterließ er es auch nie, den einen oder den anderen vorzunehmen und ihnen klarzumachen, wie notwendig allen ein einmütiges Zusammenhalten sei. Doniphan aber antwortete auf seine Ermahnung stets mit solcher abweisenden Kälte, dass er es für klug hielt, nicht allzu sehr auf ihn zu dringen. Dennoch verzweifelte er nicht, diese Keime der Zwietracht, welche allen so verderblich werden konnten, rechtzeitig zu ersticken, und vielleicht führten auch die Umstände wieder eine Annäherung herbei, welche er mit seinen Worten nicht erzwingen konnte.
Während dieser dunstigen Tage, welche den geplanten Ausflug nach dem Ende der Bai verhinderten, lieferte die Jagd recht erwünschte Beute. Doniphan, der jeder Art von Sport mit Vorliebe huldigte, erwies sich sehr geschickt in der Handhabung des Gewehres. Sehr stolz — vielleicht etwas zu stolz — auf diese Eigenschaft, zeigte er eine offenbare Verachtung gegen alle übrigen Jagdgeräte, wie Fallen, Schlingen u. dgl., denen Wilcox den Vorzug gab. Unter den Verhältnissen, in welchen seine Gefährten sich befanden, wurde es übrigens wahrscheinlich, dass dieser Knabe ihnen weit größere Dienste leistete als er. Wilcox schoss wohl auch recht gut, konnte sich hier darin aber mit Doniphan nicht messen. Dem kleinen Cross fehlte es noch an dem »heiligen Feuer«, und er begnügte sich damit, den Heldentaten seines Vetters zuzujubeln. Hier müssen wir auch den Jagdhund Phann erwähnen, der sich bei diesen Jagden auszeichnete und niemals zögerte, sich in die Wellen zu stürzen, um das über die Klippen hinaus ins Wasser gefallene Federvieh zu holen.
Wir müssen gestehen, dass sich unter den von den jungen Jägern erlegten Stücken eine Anzahl Seevögel befanden, mit denen Moko nicht das geringste anfangen konnte, wie Seeraben, Möwen, Meerschwalben, Silbertaucher und ähnliche. Daneben lieferten aber auch die Felsentauben, sowie Gänse und Enten, deren Fleisch sehr geschätzt war, reichliche Beute. Die Gänse gehörten zu den sogenannten Ringelgänsen (Bernicla), und aus der Richtung, bei der sie beim Krachen der Schüsse entflohen, konnte man annehmen, dass sie gewöhnlich im Innern des Landes wohnten.
Doniphan erlegte auch einige jener Austernfresser, welche gewöhnlich von Schalentieren leben, nach welchen sie sehr lüstern sind, wie von Schüssel-, Venus-, Miesmuscheln u. dergl. Mit einem Wort, an Auswahl fehlte es gerade nicht, nur erforderte dieses Federwild eine gewisse Zubereitung, um seinen tranigen Geschmack zu verlieren, und trotz seines guten Willens erwies sich Moko dieser Schwierigkeit nicht immer so gewachsen, wie es alle gewünscht hätten. Übrigens hatte hier, wie der vorsorgliche Gordon bemerkte, niemand das Recht, zu viel zu verlangen und zu erwarten, da es geraten schien, die Vorräte der Yacht, mit Ausnahme des in sehr großen Mengen vorhandenen Schiffszwiebacks, möglichst zu schonen.
Natürlich fühlten alle ein großes Verlangen, die Besteigung des Vorgebirges ausgeführt zu sehen, eine Besteigung, welche vielleicht die wichtige Frage »ob Festland oder Insel« entscheiden konnte. Von dieser Entscheidung hing ja die Zukunft sehr wesentlich ab, wenigstens so weit es sich um eine vorläufige oder eine bleibende Ansiedlung auf diesem Lande handelte.
Am 15. März schien sich die Witterung günstiger zu gestalten, um jenes Vorhaben durchzuführen. Während der Nacht hatte sich der Himmel von den durch die ruhige Luft der letzten Tage angesammelten Dünsten fast befreit, und der vom Lande kommende Wind fegte ihn bald völlig rein. Glänzende Sonnenstrahlen vergoldeten den Rand des hohen Ufers. Man durfte hoffen, dass der Horizont im Osten, wenn ihn die Nachmittagssonne erst schräg beleuchtete, hinlänglich klar erscheinen würde. Erstreckte sich das Wasser dann auch längs dieser Seite hin, so bildete dieses Land eine Insel, und Hilfe war nur dann zu erwarten, wenn sich ein Schiff in die Nähe derselben verirrte.
Der Leser hat nicht vergessen, dass der Plan zu diesem Ausflug nach dem Norden von Briant ausgegangen war, und dieser es auch übernommen hatte, ihn allein durchzuführen, wenn er eine Begleitung Gordons gewiss auch nicht ungern gesehen hätte. Es erschien ihm jedoch zu gefährlich, seine Kameraden zu verlassen, ohne dass dieser bei ihnen zurückblieb.
Am 15. des Abends, als das Barometer auf schön Wetter zeigte, teilte Briant Gordon mit, dass er am nächsten Morgen mit Tagesanbruch aufzubrechen gedenke. Eine Entfernung von zehn bis elf Meilen — Hin- und Rückweg gerechnet — zurückzulegen, das erschreckte den mutigen Knaben nicht, der eine Anstrengung nicht beachtete. Ein ganzer Tag musste ihm völlig genügen, seine Nachforschungen zu vollenden, und Gordon konnte darauf rechnen, dass er vor Einbruch der Nacht zurück sein würde.
Briant brach also mit dem ersten Morgengrauen auf, ohne dass die anderen etwas davon wussten. Er führte nur einen Stock und einen Revolver mit sich, für den Fall, dass ihm Raubtiere in den Weg kamen, obwohl die Jäger während ihrer bisherigen Ausflüge niemals die Spur eines solchen entdeckt hatten.
Diesen Verteidigungswaffen hatte Briant noch ein Instrument hinzugefügt, das ihm seine Aufgabe erleichtern sollte, wenn er sich auf dem Gipfel des Vorgebirges befand, nämlich eines der Fernrohre vom »Sloughi«, das sich neben großer Tragweite durch vorzügliche Klarheit auszeichnete. Gleichzeitig trug er in einem am Gürtel befestigten Sacke Schiffszwieback, ein Stück Pökelfleisch, nebst einem Flaschenkürbis voll mit ein wenig Brandy versetzten Wassers mit sich, um ein Frühstück und nötigenfalls ein Mittagessen einnehmen zu können, wenn irgendein Zufall seine Rückkehr zum »Sloughi« verzögerte.
Schnellen Schrittes dahinwandelnd, folgte Briant anfänglich der Küstenlinie, welche an der inneren Riffgrenze ein langer Streifen von der letzten Flut her noch feuchten Varecs bezeichnete. Nach Verlauf einer Stunde gelangte er zu dem äußersten, von Doniphan und dessen Begleitern erreichten Punkt, wenn diese sich zur Jagd auf Felsentauben begaben. Das Geflügel hatte augenblicklich nichts von ihm zu fürchten. Er wollte sich nicht aufhalten, um so schnell als möglich bei dem Kap anzulangen. Das Wetter war klar und der Himmel ganz frei von Dunstmassen — das musste er benutzen. Häuften sich am Nachmittag nach Osten zu wieder Nebelwolken, so war sein ganzes Unternehmen verfehlt.
Während der ersten Stunden hatte Briant ziemlich schnell weiter schreiten und die Hälfte seines Weges zurücklegen können. Stellte sich ihm kein Hindernis entgegen, so konnte er vor acht Uhr am Vorgebirge eintreffen. Je mehr sich das steile Ufer aber der Klippenbank näherte, desto beschwerlicher wurde für ihn der Boden des Vorlandes. Der Sandstreifen wurde umso schmaler, je mehr die Brandung über ihn hereinbrach. Anstelle des elastisch festen Erdbodens zwischen dem Gehölz und dem Meer musste Briant jetzt über nasse Felsblöcke und schlüpfrige See-Eichen vordringen, oder gelegentlich Wasserlachen umwandern, so wie über loses Gestein hinbalancieren, auf dem der Fuß nirgends festen Stützpunkt fand. Das machte sein Fortkommen sehr schwierig und — was noch schlimmer war — verursachte ihm eine Verspätung von zwei vollen Stunden.
»Ich muss das Kap vor Wiedereintritt des Hochwassers erreichen!« sagte sich Briant. »Dieser Teil des Landes ist bei der letzten Flut überschwemmt gewesen, und das wird bei der nächsten bis zum Fuße des hohen Ufers wieder der Fall sein. Bin ich gezwungen, entweder zurückzuweichen oder mich auf ein Felsstück zu flüchten, so komm’ ich zu spät an. Ich muss also um jeden Preis hindurch, ehe die Flut das Vorland bedeckt!«
Ohne auf die Anstrengung zu achten, die ihm fast die Glieder lähmte, suchte der mutige Knabe den kürzesten Weg einzuschlagen. Zuweilen musste er Stiefel und Strümpfe ausziehen, um bis zum halben Bein versinkend durch Wasseransammlungen zu waten. Befand er sich dann wieder auf den Klippen, so setzte er sich manchem gefährlichen Sturz aus, den er nur durch seine Gewandtheit glücklich vermied.
Wie er sich hier überzeugte, tummelte sich gerade an dieser Stelle der Bai das Seegeflügel in größter Menge; ja, man konnte sagen, dass es hier von Tauben, Austernfressern und Enten wimmelte. Ferner spielten hier zwei oder drei Paar Pelzrobben am Rande der Klippen, welche nicht die geringste Furcht zeigten und gar nicht ins Wasser zu entfliehen suchten. Daraus war der Schluss zu ziehen, dass diese Amphibien dem Menschen nicht misstrauten, weil sie von ihm nichts zu fürchten zu haben glaubten, und dass mindestens seit langen Jahren keine Fischer hierher gekommen waren, um auf sie Jagd zu machen.
Pelzrobben
Bei näherer Überlegung erkannte Briant aus dieser Anwesenheit von Robben, dass diese Küste in noch höherer Breite liegen musste, als er vorher angenommen, und jedenfalls südlicher als Neuseeland. Der Schoner musste also bei der Fahrt über den Stillen Ozean nicht unbeträchtlich nach Südosten abgewichen sein.
Diese Wahrnehmung wurde noch weiter bestätigt, als Briant, nachdem er den Fuß des Vorgebirges erreicht, ganze Scharen von Plattfischen, welche die antarktischen Gegenden bewohnen, sich umhertummeln sah. Diese glitten zu Hunderten durcheinander unter ungeschickter Bewegung ihrer großen Flossen, welche ihnen natürlich mehr zum Schwimmen als zum Fliegen dienen. Übrigens ist mit deren ranzigem und öligem Fleische nichts anzufangen.
Es war jetzt zehn Uhr morgens, ein Beweis, wie viel Zeit Briant zur Zurücklegung der letzten Meilen gebraucht hatte.
Erschöpft und ausgehungert, hielt er es für das Klügste, sich erst etwas zu stärken, ehe er die Besteigung des Vorgebirges unternahm, dessen Kamm sich bis dreihundert Fuß über die Meeresfläche erhob.
Briant setzte sich also, geschützt gegen die ansteigende Flut, welche schon über den Klippengürtel hinwegschäumte, auf einen Felsen nieder. Sicherlich hätte er nach einer Stunde zwischen der Brandung und am Fuß des steilen Ufers nicht mehr hindurchkommen können, ohne von der Flutwelle umspült zu werden. Das beunruhigte ihn nun nicht weiter, und am Nachmittag, wenn das Wasser sich bei der Ebbe wieder ins Meer zurückgezogen hatte, hoffte er auch an dieser Stelle einen gangbaren Weg zu finden.
Ein tüchtiges Stück Fleisch und einige herzhafte Schlucke aus der Kürbisflasche, mehr bedurfte es nicht, um Hunger und Durst zu stillen, während der Aufenthalt seine Glieder neu stärkte. Gleichzeitig gab er sich aber auch den ihn bestürmenden Gedanken hin. Allein und ferne von seinen Kameraden suchte er sich seine Lage völlig klarzumachen, fest entschlossen, sich dem Wohlsein und der Rettung aller bis zum Ende mit allen Kräften zu widmen. Wenn das Auftreten Doniphans und einiger anderer ihm manche Sorge einflößte, so war das nur deshalb, weil er eine Trennung für höchst verderblich hielt. Er nahm sich jedoch bestimmt vor, sich jeder Handlung, die ihm seine Kameraden zu gefährden schien, unbedingt zu widersetzen. Dann dachte er an seinen Bruder Jacques, dessen Benehmen ihm rechte Sorge machte. Es schien ihm, als ob das Kind irgendeinen, wahrscheinlich vor der Abfahrt begangenen Fehler verheimliche, und er gelobte sich, solange in Jacques zu dringen, bis dieser sich herbeiließ, ihm zu antworten.
Briant dehnte seinen Aufenthalt bis auf eine Stunde aus, um wieder ganz zu Kräften zu kommen, dann schnürte er den Sack wieder zu, warf ihn auf den Rücken und begann die ersten Felssprossen emporzuklimmen.
Ganz am Ende der Bai gelegen, zeigte das in eine ganz scharfe Spitze auslaufende Vorgebirge eine sehr merkwürdige geologische Bildung. Man hätte es als eine durch Feuer erzeugte Kristallisation ansehen können, welche unter dem Einfluss plutonischer Kräfte entstanden war.
Dieser Hügel stand übrigens mit dem steilen Ufer nicht, wie es aus der Ferne den Anschein hatte, in unmittelbarer Verbindung. Seiner Natur nach unterschied er sich ja auch wesentlich von jenem, da er aus Granitfelsen aufgebaut war, statt der Kalkschichten, wie solche den englischen Kanal in Europa umrahmen.
Dieses Verhalten fiel Briant sofort ins Auge; er bemerkte ebenso, dass eine enge Schlucht das Vorgebirge von dem Steilufer trennte. Auf der anderen Seite erstreckte sich das Vorland über Sehweite nach Norden hinaus. Da der Hügel die ihn umgebenden Höhepunkte jedoch gut um hundert Fuß überragte, musste der Blick von dessen Gipfel eine ziemlich umfassende Fernsicht gewähren, und darauf kam es ihm ja vorzüglich an.
Die Ersteigung war ziemlich beschwerlich; er musste dabei von einem Felsstück zum anderen emporklimmen, und diese waren nicht selten so groß, dass Briant nur mit größter Mühe ihre oberen Kanten erlangen konnte. Da er jedoch zu derjenigen Klasse von Knaben gehörte, welche man mit Recht »Klettertiere« nennen könnte, da er von Jugend auf eine besondere Vorliebe für solche Wagstücke gehabt und sich dadurch eine ungewöhnliche Kühnheit, Geschmeidigkeit und Gewandtheit erworben hatte, so setzte er schließlich den Fuß auf den Gipfel, nachdem er wiederholt manch recht verderblichen Sturz glücklich vermieden hatte.
Das Fernrohr vor den Augen, lugte Briant nun zuerst in der Richtung nach Osten hinaus.
Diese Gegend erschien, soweit er sehen konnte, völlig flach. Das steile Ufer bildete ihre größte Erhebung, und dessen Hochebene senkte sich ganz allmählich nach dem Inneren zu hinab. Weiter hinaus unterbrachen noch einige sehr mäßige Erhöhungen diese Fläche, ohne das Bild des Landes besonders zu verändern. Nach derselben Richtung hin bedeckten es große Waldmassen, welche unter ihrem jetzt mehr gelblichen Blätterdache die Wasserläufe bergen mochten, die dem Uferlande zueilten. Das Ganze erschien also bis zum Horizont hinaus als große Ebene, deren Durchmesser etwa zehn Meilen betragen konnte. Es hatte demnach nicht den Anschein, als ob das Meer an dieser Seite das Land begrenzte, und um festzustellen, ob dasselbe einer Insel oder einem Festland angehörte, bedurfte es eines weiter ausgedehnten Ausfluges in der Richtung nach Osten.
Nach Norden hin erkannte Briant kein Ende des Vorlandes, das sich in jener Linie wohl sieben bis acht Meilen weit ausdehnte. Jenseits eines weiter draußen liegenden, sehr verlängerten Vorberges bildete dieses vielmehr eine große sandige Fläche, welche man fast hätte als eine Wüste bezeichnen können.
Nach Süden zu und hinter dem anderen Vorgebirge, das sich dort am Ende der Bai erhob, verlief die Küste von Nordosten nach Südwesten und begrenzte da einen ausgedehnten Sumpf, der mit dem öden Vorland im Norden auffallend kontrastierte.
Briant hatte das Objektiv seines Fernrohrs aufmerksam über alle Teile dieses weiten Kreises hinweggeführt. Befand er sich auf einer Insel? War er auf einem Festland?
… Er hätte es nicht sagen können. Wenn es eine Insel war — so hatte diese wenigstens einen ziemlich bedeutenden Umfang — mehr konnte er vorläufig nicht feststellen.
Er wandte sich jetzt der Westseite zu. Das Meer erglänzte unter den schrägen Strahlen der Sonne, welche allmählich zum Horizont hinabsank.
Plötzlich nahm Briant das Fernrohr sehr hastig wieder vor das Auge und richtete es nach der äußersten Linie der offenen See.
»Schiffe!« rief er für sich. »Vorübersegelnde Schiffe!«
In der Tat zeigten sich drei schwarze Punkte am Rande der glitzernden Gewässer und in einer Entfernung, welche mindestens fünfzehn Meilen betragen mochte.
Wie fühlte sich Briant seltsam erregt! War er das Opfer einer Augentäuschung! Sah er dort wirklich Fahrzeuge vor sich?
Briant senkte das Fernrohr wieder, reinigte das von seinem Atem angelaufene Okular und blickte wieder hinaus …
In der Tat schienen die drei schwarzen Punkte Schiffe anzugehören, von denen man nur den Rumpf sehen konnte. Von einer Bemastung zeigte sich freilich nichts, und jedenfalls deutete keine Rauchsäule darauf hin, dass es Dampfer in Fahrt wären.
Sofort kam Briant der Gedanke, dass diese Schiffe, wenn es solche waren, sich in viel zu großer Entfernung befanden, als dass sie Signale von ihm hätten wahrnehmen können. Da er auch annehmen musste, dass seine Kameraden diese Fahrzeuge nicht bemerkt hätten, erschien es ihm als das Beste, schnellstmöglich nach dem »Sloughi« zurückzukehren, um auf dem Strand ein großes Feuer anzuzünden und dann … wenn die Sonne versunken war …
Während dieser Gedanken behielt Briant die drei schwarzen Punkte unausgesetzt im Auge. Wie groß war aber seine Enttäuschung, als er sich überzeugte, dass diese sich nicht von der Stelle bewegten.
Von Neuem richtete er das Fernrohr auf dieselben und behielt sie einige Minuten in dessen Gesichtsfeld … Da wurde es ihm bald klar, dass er nur drei kleine Eilande vor sich hatte, die im Westen vor der Küste lagen und an denen der Schoner gewiss vorübergekommen war, als der Sturm ihn hierher verschlug, die aber bei der Dunkelheit nicht bemerkt worden waren.
Die Enttäuschung war eine recht schmerzliche.
Jetzt war es um zwei Uhr. Das Meer begann wieder sich zurückzuziehen und ließ den Klippengürtel zur Seite des steilen Ufers trocken liegen. Briant hielt es an der Zeit, nach dem »Sloughi« heimzukehren, und bereitete sich vor, nach dem Fuße des Hügels hinabzusteigen.
Indessen wollte er noch einmal den östlichen Horizont besichtigen. Vielleicht erkannte er bei dem jetzt tieferen Stand der Sonne noch einen anderen Punkt des Landes, der ihm bisher entgangen war.
Er schritt also nochmals zu einer umfänglichen aufmerksamen Beobachtung in dieser Richtung, und wahrlich, er sollte diese Mühe nicht zu bereuen haben.
In der Tat unterschied er am äußersten Gesichtskreise und jenseits der Wälder sehr deutlich eine bläuliche Linie, die sich auf die Entfernung von einigen Meilen von Norden nach Süden hin fortsetzte, eine Linie, deren beide Enden sich hinter der verstreuten Masse von Bäumen verbargen.
»Was ist das?« fragte er sich.
Noch einmal blickte er möglichst scharf hinaus.
»Das Meer …! Ja … das ist das Meer!«
Fast wäre das Fernrohr seinen Händen entfallen.
Da sich das Meer auch im Osten ausdehnte, unterlag es keinem Zweifel mehr, dass es kein Festland war, auf dem der »Sloughi« scheiterte, sondern eine Insel, eine in der grenzenlosen Weite des Stillen Ozeans verlorene Insel, von der sie unmöglich wieder fortkommen konnten!
Alle diese Gefahren zogen wie eine flüchtige Vision vor den Gedanken des jungen Knaben vorüber. Sein Herz krampfte sich zusammen, dass er es kaum noch klopfen fühlte; doch er entriss sich mit Gewalt dieser Anwandlung von Schwäche, wohl begreifend, dass er sich, so beunruhigend die Zukunft auch erschien, nicht niederdrücken lassen durfte.
Eine Viertelstunde später war Briant wieder nach dem Strand hinabgestiegen und gelangte auf demselben Wege, den er am frühen Morgen eingeschlagen hatte, gegen fünf Uhr nach dem »Sloughi«, wo seine Kameraden seine Heimkehr mit großer Ungeduld erwarteten.