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Die große Chance

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Eine feuchte, heiße Schwüle, gegen die selbst die unermüdlich rotierenden Ventilatoren kapituliert hatten, hing in der Luft. Am Himmel zogen dicke, schwarze Wolken auf und verdunkelten den Raum, der kurz zuvor noch in gleißendes Sonnenlicht getaucht gewesen war. Emily wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen verzweifelten Blick auf den Bildschirm ihres Computers, auf dem bisher nur wenige Sätze zu lesen waren. Noch immer fielen ihr keine treffenden Formulierungen zu der Modenschau ein, über die sie berichten sollte. Stattdessen fühlte sie sich förmlich erdrückt von der Fülle an Recherche- und Bildmaterial, das sich auf ihrem Schreibtisch stapelte. Warum nur fehlten ihr zu diesem Fashionthema schlicht und ergreifend die Worte? Ob es daran lag, dass sie mit diesem exklusiven Modetrend einfach nichts anfangen konnte? Magere Models in wallenden, dunklen Gewändern, deren melancholische Ausstrahlung durch düsteres Make-up kunstvoll verstärkt wurde, ertranken förmlich in wogendem Stoff. Wer würde diese Outfits tragen, wenn er halbwegs bei Verstand war? Obwohl – Emily musste leise kichern – dieser finstere Look zu ihrer augenblicklichen Stimmung perfekt passte. Sie bemühte sich, einen Hauch von Begeisterung für die extravaganten Kreationen zu empfinden. Schließlich wurde der aufstrebende japanische Designer in der Szene bereits als Avantgardist gefeiert, der ein radikales Zeichen setzen wollte. Was ihm definitiv gelang, wie Emily neidlos zugeben musste. Wenn auch auf eine sehr morbide Art.

Entschieden löschte sie den Anfang ihres Textes, um einen neuen Schreibversuch zu starten, als ihr Telefon schrillte. Kurz zog sie in Erwägung, den aufdringlichen Ton einfach zu ignorieren, doch auf dem Display erkannte sie die Nummer von Corinne, ihrer Chefredakteurin. Blieb ihr denn heute nichts erspart? Widerstrebend brummelte sie ein leises „Simon“ in den Hörer.

„Emily!“, Corinnes Stimme klang gewohnt energiegeladen. „Komm bitte sofort in mein Büro, wir müssen etwas besprechen. Es ist dringend!“

Bevor Emily nur den Hauch einer Chance hatte, etwas zu entgegnen, hatte Corinne das Telefonat bereits beendet. Emily seufzte. Sie hatte absolut keine Lust auf ein Meeting mit Corinne, denn das bedeutete erfahrungsgemäß vor allem eines – noch mehr Arbeit. Dennoch bemühte sie sich, die unfreiwillige Störung als positiven Wink des Schicksals zu betrachten. Vielleicht war es von Vorteil, der ungeliebten Modekollektion eine kleine Zwangspause zu verordnen. Womöglich half ihr diese Unterbrechung sogar, ihre Schreibblockade aufzulösen.

Sie schnappte sich einen Schokoriegel aus ihrer Schreibtischschublade und ließ ihn genüsslich im Mund zergehen. Was mochte es wohl für eine dringende Angelegenheit sein, die Corinne mit ihr besprechen wollte? Im Grunde war alles besser als das nervige Fashion-Thema, mit dem sie sich seit heute Morgen herumschlagen musste. Als sie erneut einen Blick auf die Laufsteg-Fotos warf, fühlte sie sich seltsam befreit. Zumindest für einen kurzen Moment hatte sie einen triftigen Grund, sich mit etwas anderem als Darth-Vader-Mutanten zu befassen. Schwungvoll schob sie ihren Stuhl zurück und rieb sich den verspannten Nacken.

„Hey, Jenny. Ich muss mal eben zu Corinne!“

Ihre Kollegin, mit der sie sich das Büro teilte, nickte nur abwesend, während ihre Finger flink über die Tastatur ihres Computers perlten. Anders als Emily schien Jenny genau zu wissen, was sie schreiben wollte. Nachdenklich schüttelte Emily den Kopf. Was war das nur für ein verrückter Job, bei dem man Frauen mit schönen Worten in Traumwelten entführte, neben denen die Realität trist und unspektakulär erscheinen musste? Eine Welt, in der Glamour und Fashion regierten und das Leben von Stars und Sternchen auf Hochglanzpapier vermarktet wurde. Erbarmungslos, ganz gleich, ob es sich um Erfolge oder Skandale handelte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie überhaupt hierher passte – in die Redaktion der Francine, einem der hipsten Lifestyle- und Frauenmagazine, die es derzeit am Markt gab.

Nur langsam löste sie sich von ihren Gedanken. Verdammt, sie hatte viel zu lange getrödelt, wenn Corinne ‚sofort‘ sagte, meinte sie auch ‚sofort‘. Rasch eilte sie zum Ende des langen Flures, der zu beiden Seiten von Türen gesäumt war, hinter denen die Köpfe gewaltig qualmten. Nur kurz verharrte sie vor Corinnes Büro, bevor sie klopfte und eintrat, ohne erst eine Antwort abzuwarten.

Die blonde Frau hinter dem Schreibtisch blickte auf und lächelte sie an.

„Da bist du ja endlich.“ Sie wies auf einen der Stühle vor ihrem überdimensional großen Arbeitsplatz. Wie immer war ihr Schreibtisch akkurat aufgeräumt und vermittelte jene Perfektion, die Corinne ausmachte. Nichts außer einem Glas Wasser und ihrem Smartphone störte die auf Hochglanz polierte, gläserne Oberfläche. Es war Emily ein Rätsel, wie Corinne das machte. Vor allem wenn sie an ihren eigenen Schreibtisch dachte, auf dem zumeist ein kreatives Chaos aus Zetteln, Stiften und anderem Krimskrams herrschte.

Ein triumphierender Zug umspielte Corinnes perfekt geschminkten Brombeerlippen und signalisierte Emily, dass ihre Chefin offenbar bester Laune war. Und das, obwohl bei allen anderen Mitarbeitern kurz vor Redaktionsschluss der neuen Francine-Ausgabe die Nervosität auf ein Level stieg, das an Hysterie grenzte. Sehr eigenartig. Ein mulmiges Gefühl beschlich Emily, während sie überlegte, ob die schwarze Wolkenfront, aus der nun erste grelle Blitze zuckten, womöglich als böses Vorzeichen zu deuten war. Falls ja, schien zumindest Corinne nichts von der drohenden Gefahr zu bemerken. Grazil schlug sie ihre elegant bestrumpften Beine übereinander, die in High Heels endeten, für die man eigentlich einen Waffenschein benötigt hätte. Sie räusperte sich vernehmlich, bevor sie sich zu einer Erklärung herabließ.

„Emily, mein Schatz, heute ist dein absoluter Glückstag! Du wirst es nicht glauben, aber ich habe einen überwältigenden Auftrag für dich an Land gezogen.“ Sie nippte an ihrem Wasserglas, in dem ein Rosmarinzweig und eine Zitronenspalte sich wie ein turtelndes Liebespaar umkreisten. Ein Anblick, von dem sich Emily nur mühsam losreißen konnte.

„Emily?!“

„Entschuldige, was hast du gesagt?“, schuldbewusst zuckte sie zusammen und nahm den tadelnden Blick wahr, mit dem Corinne sie bedachte.

„Ich sagte, ich habe einen überwältigenden Auftrag für dich an Land gezogen.“

Ihr Lächeln strahlte nun heller als die Mittagssonne im Western-Klassiker „High Noon“, was Emily sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Denn Corinne war bekannt dafür, dass sie vor allem solche Aufträge in Euphorie versetzten, die allen anderen den Angstschweiß auf die Stirn trieben. Argwöhnisch musterte Emily ihre Chefin, deren Erscheinungsbild wie immer extrem beeindruckend war. Wasserstoffblond, mit streichholzkurz geschnittenem Haar und für eine Frau ungewöhnlich groß gewachsen, war sie sich ihrer Wirkung absolut bewusst. Seit Gründung der Francine leitete sie die Redaktion souverän und wurde bei den Mitarbeitern deshalb heimlich „Königin“ genannt. Denn auch wenn ihre Umgebung hektisch rotierte, strahlte Corinne Vallée zumeist royale Gelassenheit aus. Eine Eigenschaft, um die Emily sie heftig beneidete. Umso erstaunlicher war es, dass selbst „Ihre Majestät“ heute ihre Hochstimmung nicht verbergen konnte. Es musste wirklich etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein.

„Du siehst aus wie die Maus, die an die Schlange verfüttert werden soll“, Corinne gluckste vergnügt, als sie Emilys zweifelnden Blick bemerkte. „Dabei habe ich wirklich ein zuckersüßes Bonbon für dich, das ich mir am liebsten selbst gönnen würde.“ Sie rollte wirkungsvoll mit ihren stahlgrauen Augen, bevor sie in bedauerndem Ton hinzufügte, „leider habe ich einen wichtigen Termin, sodass ich das Naschen dir überlassen muss.“

„So …?“, Emily konnte ihre Skepsis nicht verbergen und war sich sicher, dass die süße Überraschung noch einen sauren Nachgeschmack haben würde. Corinne spielte Katz‘ und Maus mit ihr, das war klar.

„Na schön“, fuhr Corinne fort, während sie ihre perfekt manikürten Fingernägel prüfend betrachtete. „Dann will ich dich nicht länger auf die Folter spannen. Ich merke ja, dass du förmlich vor Neugierde platzt.“ Betont lässig lehnte sie sich zurück und wischte ein imaginäres Staubkorn von ihrem Bein. „Ich habe beschlossen, dass du dein erstes Interview für die Francine führen wirst. Ein ganz besonderes Interview, das dich mit Sicherheit vom Hocker hauen wird.” Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause, die Emilys Puls weiter in die Höhe trieb.

Corinne grinste selbstzufrieden, bevor sie endlich die Bombe platzen ließ.

„Wir haben die Zusage für ein Exklusivinterview mit Connor Leary bekommen! Und du bist die Glückliche, die ihn treffen darf.“ Erwartungsvoll starrte Corinne sie an. „Was sagst du dazu?“

Connor Leary – das war in der Tat eine überwältigende Neuigkeit! Emily schluckte nervös. Sie spürte, wie das Blut in ihren Ohren unangenehm zu rauschen begann. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Konnte das wirklich wahr sein oder wollte Corinne sie auf den Arm nehmen? Sie linste vorsichtig zu ihrer Chefin hinüber, die offensichtlich keinen Scherz gemacht hatte, sondern auf eine begeisterte Reaktion ihrer Mitarbeiterin wartete.

„Wirklich? Ein Interview mit Leary?“, stammelte sie unbeholfen. „Ich dachte, er gibt keine Interviews mehr. Oder irre ich mich?“

Ihre Gedanken überschlugen sich. Soweit Emily wusste, lebte Connor Leary, einer der derzeit gefragtesten Filmstars Hollywoods, sehr zurückgezogen im Umland von Los Angeles und verweigerte konsequent jedes Gespräch mit Pressevertretern. Und jetzt sollte ausgerechnet sie, Emily Simon, mit diesem Mann ein Interview führen? Ihre Kehle war trocken wie Wüstensand und das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich zunehmend. Wie immer, wenn ihr etwas Aufregendes bevorstand, lasteten ihre Selbstzweifel schwer auf ihr. Plötzlich schien der nervige Fashion-Bericht mehr als reizvoll zu sein. Reizvoller jedenfalls als diese delikate Aufgabe, die Corinne Vallée ihr präsentierte, als sei sie ein Sechser im Lotto – mit Zusatzzahl.

Auf der anderen Seite, Emily atmete tief durch, könnte dies ihre große Chance sein, endlich zu beweisen, dass sie zu mehr fähig war, als Modeberichte, Kurzreportagen und Reisetipps zu schreiben. Ein Interview mit einem Weltstar – das war eine echte Herausforderung!

„Hey, komm zu dir“, riss Corinne sie aus ihren Gedanken. „Es stimmt, Leary hat lange keine Interviews mehr gegeben, genau genommen seit der publicityträchtigen Scheidung von seiner Frau damals. Aber“, sie spielte auf ihrem Smartphone herum, „ich bin schon seit geraumer Zeit an ihm dran und jetzt kommt er endlich zu PR-Zwecken nach Düsseldorf. Also habe ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Wie du weißt, kann ich sehr hartnäckig und entsetzlich anstrengend sein.“ Sie grinste selbstgefällig. „Kurz und gut, es ist mir schließlich gelungen, seinen Manager davon zu überzeugen, dass sich nicht nur die Leserinnen unseres Magazins nach einem Interview mit Leary sehnen, sondern dass auch er von ein bisschen positiver Medienpräsenz durchaus profitieren kann. Ich hatte den Eindruck, nach unserem angeregten Gespräch war Leonhard Holmes, so heißt der Gute, ganz und gar meiner Meinung.“

Corinne strahlte über das ganze Gesicht und imponierte Emily einmal mehr mit ihrer unglaublich souveränen Erscheinung. Da sie darüber hinaus ein bemerkenswertes Geschick im Umgang mit Menschen hatte, konnte kaum jemand ihrem Charme widerstehen. Im Grunde war es nicht verwunderlich, dass sie Learys Manager erfolgreich umgarnt hatte. Aber ob auch der Schauspieler von diesem Arrangement überzeugt war? Emily hegte Zweifel, dass er sich ohne Einwände darauf eingelassen hatte. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Es klang viel zu simpel.

„Hm“, sie befeuchtete mit der Zungenspitze ihre trockenen Lippen. „Nehmen wir an, Leary hat tatsächlich seine Aversion gegen die Presse abgelegt und diesem Termin zugestimmt, warum soll dann ausgerechnet ich diesen Job übernehmen? Sein Okay verdanken wir schließlich deiner Beharrlichkeit. Ganz abgesehen davon, dass du bei Interviews einfach spitze bist, während ich diesbezüglich weder über Erfahrung verfüge noch mich mit den Allüren exzentrischer Superstars auskenne.“

„Eben“, Corinne lächelte maliziös, „du bist keine dieser abgebrühten Boulevardhyänen, die unser sensibler Beau dermaßen verabscheut. Du bist verständnisvoll, sanftmütig und überaus reizend. Also perfekt für diese Aufgabe. Glaub mir einfach, Schätzchen.“

Unbestreitbar besaß Corinne ein vortreffliches Gespür dafür, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eigenschaften, denen sie es zu verdanken hatte, auf der Karriereleiter bislang immer weiter nach oben geklettert zu sein. Aber ob sie auch dieses Mal mit ihrer Einschätzung richtig lag? Emily hatte Bedenken und startete einen letzten verzweifelten Versuch, ihren Kopf aus der sich zuziehenden Schlinge zu ziehen.

„Bist du dir wirklich sicher, dass ich das Interview machen soll? Ich kann einfach nicht begreifen, dass du dir diese Gelegenheit entgehen lassen willst.“

Corinne schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich gebe es nicht gerne zu, aber meine unverblümte Art ist nicht zwingend geeignet, Connor Leary aus der Reserve zu locken. Holmes hat mich mehrfach darauf hingewiesen, dass bei diesem Interview viel Fingerspitzengefühl erforderlich sei. Und taktvoll bin ich nicht immer, wie du weißt. Leider gehen gelegentlich die Pferde mit mir durch.“ Sie lachte heiser. „Du kannst mir glauben, Emily, wenn ich dich in diesem Fall nicht für geeigneter hielte, würde ich es mir bestimmt nicht nehmen lassen, diesen Kerl selbst zu treffen. Schließlich ist er das Sexsymbol schlechthin in Hollywood. Und das zurecht!“ Sie verdrehte sehnsuchtsvoll die Augen.

„Corinne“, seufzte Emily kopfschüttelnd. „Was du wieder denkst.“

„Ich denke genau das Richtige, aber du bist natürlich viel zu seriös und anständig, um das zu verstehen, nicht wahr? Seit Toms Tod scheinst du gegen Männer immun zu sein. Insofern ist es im Prinzip reine Verschwendung, dich zu diesem Traummann ins Hotel zu schicken. Sei mir dankbar, dass ich es trotzdem mache. Aber jetzt genug der Vorfreude, die Arbeit ruft. Ich habe Infomaterial aus dem Archiv zur Vorbereitung besorgt und dir einige Links für deine Onlinerecherche gemailt. Die Auswahl an Artikeln und Pressemitteilungen über ihn ist grenzenlos. Du kannst aus dem Vollen schöpfen.“

Sie holte einen prall gefüllten Ordner hervor und ließ ihn vor Emily auf den Schreibtisch fallen. Du musst perfekt vorbereitet sein, damit du möglichst viel Neues aus ihm herauskitzeln kannst und nicht nur langweilige Stories präsentierst, die schon bei unserer Konkurrenz zu lesen waren.“

Sie zwinkerte Emily belustigt zu. „Die weibliche Leserschaft der Francine verlangt nach spektakulären News. Wir sind uns einig. Es muss SPEK-TA-KU-LÄR werden.“

Corinne konnte wieder nicht ernst bleiben, doch Emily war nicht zum Lachen zumute. Unbewusst knibbelte sie an ihren Fingernägeln.

„Wann ist denn der große Tag? Wie viel Zeit bleibt mir, um mich vorzubereiten.“ Sie wollte jetzt konkret wissen, was sie erwartete.

„Nun bleib mal entspannt“, Corinne brachte die Rosmarin-Zitronen-Liaison erneut in Schwingung, als sie an ihrem Glas nippte.

„Leary landet heute mit dem Flieger in Düsseldorf und checkt im Hotel LeGrand in der Nähe des Flughafens ein. Du hast dort morgen früh um zehn Uhr einen Termin mit ihm in seiner Suite. Er ist knapp eine Woche hier, um in einer Unterhaltungssendung mitzuwirken und diverse PR-Termine wahrzunehmen, bevor er zurück nach Los Angeles fliegt. Jetzt bist du dran, mach was draus!“

Sie schob ihr den dicken Ordner zu. Ein deutliches Zeichen, dass für Corinne das Gespräch damit beendet war.

„Was, morgen schon!?“, Emily fühlte, wie die aufsteigende Panik ihr die Luft zum Atmen raubte. Hatte sie doch geahnt, dass an der Sache etwas faul war.

„Das geht nicht“, stieß sie atemlos hervor. „Wie soll ich mich so schnell gründlich vorbereiten? Das ist völlig unmöglich! Ich brauche definitiv mehr Zeit, um den ganzen Kram durchzuarbeiten.“ Sie wies auf den Ordner.

„Ach Emily“, Corinne lächelte milde. „Es ist unser Job, das Unmögliche möglich zu machen, nicht wahr? Gestern hättest du noch gesagt, ein Interviewtermin mit Connor Leary sei unmöglich. Jetzt haben wir ihn. Heute sagst du, es sei unmöglich, sich so schnell gründlich vorzubereiten. Und ich sage dir, morgen um zehn Uhr wirst du bestens präpariert sein. Es wird klappen, da habe ich keine Zweifel“, Corinne schob Emilys Bedenken kalt lächelnd beiseite.

„Und was ist mit der Modereportage?“ Plötzlich schien dieser bislang so verhasste Auftrag, Emilys letzter Ausweg zu sein.

„Vergiss die blöde Reportage. Die soll Lena fertigstellen. Das ist ohnehin eher ihr Metier. Sie steht auf den Fashion-Hype, während Mode noch nie dein Steckenpferd war, wenn ich mich recht entsinne. Und nun ab an die Arbeit, ich habe heute noch eine Menge zu tun.“ Sie griff zum Telefon und begann, eine Nummer einzutippen, ohne Emily eines weiteren Blickes zu würdigen. Damit war Emily endgültig entlassen. Sie wusste, es machte keinen Sinn, weiter zu diskutieren. Corinne hatte ihre Entscheidung getroffen – unumstößlich!

Nachdenklich schlenderte Emily zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Ob sie tatsächlich die Richtige war, um dieses bedeutende Interview zu führen? Meist vergab Corinne ihre Aufträge aus dem Bauch heraus. Daran musste sich gewöhnen, wer sich in ihrer Redaktion wohlfühlen wollte. Bislang war Emily sehr glücklich hier gewesen, doch jetzt spürte sie, wie die Angst zu versagen, sie zu überwältigen drohte. Erschreckend wenig Zeit blieb ihr, um sich auf ihren bislang wichtigsten Auftrag vorzubereiten. Morgen früh sollte sie schon zum LeGrand fahren, um den Leinwandstar zu treffen. Kaum zu glauben! Ihr erstes großes Interview musste ein Knaller werden!

Wie in Trance durchstöberte Emily den mit Zeitungsausschnitten, Internetausdrucken, Fotos und Pressemitteilungen gefüllten Ordner. Sie suchte sich ein Porträtfoto Learys heraus, um es eingehend zu studieren. Ihrer Meinung nach sagte ein Gesicht erheblich mehr über einen Menschen aus als belanglose Worte. Sie zeichnete mit dem Finger die Kontur seines Gesichts nach. Connor Leary, der Schwarm unzähliger Frauen. Was machte ihn so attraktiv? Sein Lächeln war faszinierend, das musste sie zugeben. Es wirkte empfindsam und zugleich unbezwingbar. Eine prickelnde Mischung. Dunkles, volles Haar unterstrich sein markantes Gesicht, dem trotz zahlreicher Lachfältchen seine rehbraunen Augen einen leicht melancholischen Ausdruck verliehen. Ja, er war optisch ein interessanter Mann, zweifelsohne. Wohl nahezu jede Frau würde alles dafür geben, ihn treffen zu dürfen. Aber das war nur eine Seite der Medaille. Unter Journalisten galt er als launisch und unzugänglich, weshalb Emily vermutete, dass die Unterhaltung mit ihm schwierig werden würde. Schließlich war Leary bekannt für seine Ressentiments der Presse gegenüber, seit seine Scheidung von den Boulevardblättern schlagzeilenträchtig ausgeschlachtet worden war. Damals war eine private Katastrophe zu einem öffentlichen Drama stilisiert worden – ohne Rücksicht auf alle Beteiligten. Leary hatte daraus seine Konsequenzen gezogen, sich abgeschottet und seitdem alle Interviewanfragen abgelehnt. Deshalb grenzte es an ein Wunder, dass Corinne es geschafft hatte, diesen Termin zu vereinbaren. Emily atmete tief durch. Das Unmögliche möglich machen – so hatte Corinne es treffend formuliert.

Auch wenn es ihr schwerfiel, musste Emily jetzt praktisch denken, um den morgigen Tag perfekt zu organisieren. Es war mehr als wichtig, sich ungestört mit der Ausarbeitung des Interviews befassen zu können – ohne Zeitdruck und vor allem ohne quengelnde Kinder. Sie spielte den Ablauf gedanklich durch. Wenn sie um zehn Uhr den Termin bei Leary im Hotel hatte, konnte sie frühestens mittags mit dem Schreiben anfangen. Sie seufzte. Vermutlich war es unvermeidbar, Jessie und Tobias nach der Kita von Sophie betreuen zu lassen. Die junge Studentin war für Emily nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Mannes Tom zum rettenden Engel geworden. Wann immer es ihr möglich war, half sie ihr, den schwierigen Balanceakt zwischen Kindern und Job zu bewältigen. Auch heute war auf die Studentin Verlass, als Emily ihr am Telefon die Situation schilderte.

„Wie aufregend!“, Sophies Stimme überschlug sich förmlich vor Begeisterung. „Ein Interview mit Connor Leary! Emily, ich beneide dich! Hast du ihn in seinem letzten Film ‚Dream Weaver‘ gesehen? Ich war hin und weg. Natürlich hole ich Jessie und Tobias morgen von der Kita ab. Ich habe reichlich Zeit, mich mit ihnen zu beschäftigen. Sie können auch gerne bei mir übernachten, wenn du möchtest. Ich habe ja Semesterferien.“

„Sophie, du bist ein Schatz!“, Emily spürte, wie ein Teil ihrer Anspannung von ihr abfiel. Jetzt konnte sie sich voll und ganz ihrer neuen Aufgabe widmen.

Die nächsten Stunden verbrachte Emily mit intensiven Recherchen in der Redaktion. Sie wollte so viel wie möglich über Connor Leary in Erfahrung bringen. Nichts war schlimmer, als schlecht vorbereitet zu einem Interview zu erscheinen. Corinne hatte mit ihren Behauptungen recht gehabt. Jede Zeitung hatte damals ausführlich über diese Promi-Scheidung berichtet – mehr oder minder seriös. Sie ließ ihren Blick über die zahlreichen Fotos schweifen, auf denen er alleine oder gemeinsam mit seiner damaligen Frau abgelichtet war. Anfangs glücklich lächelnd, später eher mit angespanntem oder düsterem Gesichtsausdruck. Unzweifelhaft war seine Ex eine sehr attraktive Erscheinung mit ihrer filigranen Figur und dem topmodisch geschnittenen, dunklen Haar. Diese Frau strahlte geballtes Selbstbewusstsein aus, wenn sie vor den Kameras der Fotografen kokettierte. Doch trotz aller zur Schau getragenen Perfektion störten Emily ihre eisblauen Augen, die selbst dann kalt wirkten, wenn sie lächelte. Neugierig vertiefte sie sich in die Zeitungsberichte und konnte bald verstehen, dass Leary sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Es musste schrecklich sein, so schonungslos zum Opfer der Medien zu werden. Wie sollte sie bloß sein Vertrauen gewinnen, nach allem, was er über sich hatte lesen müssen? Emily verfluchte Corinne, als sie sich weiter durch alle Einzelheiten von Learys Karriere und seinem Leben kämpfte. Um gut informiert zu sein. Und vor allem, um nicht versehentlich in eines der zahlreichen, potenziellen Fettnäpfchen zu treten, die sich freudig präsentierten.

Sie hatte längst nicht alle Unterlagen gesichtet, als sie sich nach der Arbeit auf den Weg zur Kita machte, um Tobias und Jessica abzuholen. Nachdem sich das Gewitter lautstark entladen hatte, war die drückende Schwüle einer angenehmen Frische gewichen. Emily atmete tief durch und hoffte, dass die böse Vorahnung, die sie heute Vormittag befallen hatte, nur ihrer Fantasie entsprungen war. Doch obwohl sie sich bemühte, ihren Kopf frei zu bekommen, kreisten ihre Gedanken unentwegt um das morgige Interview. Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte. Angst, sich zu blamieren, und vor allem Angst, dass Leary Spaß daran haben könnte, seinen Frust über die Boulevardpresse an ihr abzureagieren. Denn trotz aller Berichte, die sie über ihn gelesen hatte, war es ihr bislang nicht gelungen, sich ein genaues Bild von diesem Mann zu machen. Wie sehr sehnte sie sich in dieser Situation nach Tom, der stets ihre emotionale Stütze gewesen war! Gerade jetzt hätte sie ihn so dringend gebraucht. Aber Tom war tot. Nach wie vor erschien es ihr unvorstellbar, dass er nicht mehr bei ihr und den Kindern war. Sie versuchte, ihre aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, als sie daran dachte. Nur langsam war sie nach Toms Unfall aus ihrer Schockstarre erwacht, um sich der Realität zu stellen. Es war ihr unendlich schwer gefallen, den Kindern zu sagen, dass ihr Vater nicht wiederkommen würde – nie mehr. Dabei hatte sie es selbst zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich begriffen. Die grausamen, einsamen Abende, an denen der Fernseher ihr bester Freund gewesen war, die durchwachten Nächte, in denen sie Sturzbäche an Tränen geweint hatte und die sinnlos erscheinende Zukunft, der sie nur deshalb nicht entflohen war, weil Tobias und Jessica sie brauchten, hatten sich tief in ihre Erinnerung gebrannt. Schließlich, als sie seelisch und finanziell fast am Ende gewesen war und an den sorgenvollen Blicken ihrer Mutter und Freunde erkannt hatte, dass es an der Zeit war, ihr Leben wieder anzunehmen, hatte sie im Internet eine Stellenanzeige entdeckt, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war.

Francine, ein modernes, aufstrebendes Frauen-Lifestyle-Magazin, suchte kreative Schreibtalente, auch Quereinsteiger. Sie, die immer ein Faible für schöne Formulierungen gehabt hatte, ergriff diesen Strohhalm und bewarb sich. Noch heute wusste Emily nicht, woher sie den Mut und die Entschlossenheit zu diesem Schritt genommen hatte. Corinne hatte damals das Vorstellungsgespräch geführt. Corinne Vallée, geliebt, aber gleichermaßen gefürchtet in der Redaktion. Sie und Emily waren trotz ihrer Gegensätzlichkeit sofort auf einer Wellenlänge gewesen. Mit dieser Begegnung war Emilys Glück zurückgekommen. Sie bekam die Stelle als Redakteurin, obwohl es weitaus qualifiziertere Bewerberinnen gab, und eine Freundin direkt dazu. Emily schüttelte unbewusst den Kopf bei diesen Erinnerungen.

Und nun erhielt sie mit diesem Interview ein weiteres Mal eine unglaubliche Chance. Wieder von Corinne! Sie spürte eine gewisse Beklemmung, aber gleichermaßen auch Stolz, dass so viel Vertrauen in sie gesetzt wurde. Sie würde Corinne nicht enttäuschen. Dieses Interview musste gelingen!

Sterne, die begehrt man nicht

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