Читать книгу Späterland - Julia A. Jorges - Страница 10
4. Der Eindringling
ОглавлениеDer Morgen kam, und die Welt sah nicht besser aus, kein bisschen. Am liebsten hätte Tarja sich umgedreht und einfach weitergeschlafen, aber sie musste zur Schule. Ihre Eltern hatten noch am vorigen Abend Katzentoilette, Korb und Kratzbaum abgebaut. Die Wohnung erweckte den Anschein, als habe hier nie eine Katze gelebt.
Mama empfing sie mit Pfannkuchen statt des üblichen Frühstückstoasts, wahrscheinlich um sich mit ihr zu versöhnen. Dabei war das nicht nötig, Tarjas Zorn war längst verraucht. Was blieb, war die schmerzende Leere in ihrem Herzen.
Frau Wilbert legte Tarja ein blaues Halsband neben den Teller. »Das habe ich gestern vergessen. Vielleicht möchtest du es ja behalten.«
Plutos Halsband. Das silberne Glöckchen daran hatte die Singvögel warnen sollen, wenn er seine Streifzüge in die Gärten hinter dem Wohnblock unternahm. Ins Freie war er über den Balkon der Wilberts im ersten Stock und den dicht am Haus wachsenden Ahorn gelangt, an dessen Stamm er immer hinabkletterte.
»Danke.« Tarja schluckte und packte das Halsband in ihren Schulrucksack.
Ihre Mutter lächelte und strich ihr übers Haar.
Als Tarja am Nachmittag nach Hause kam, suchte sie ein passendes Lederbändchen aus ihrer Schmuckkiste, befestigte die kleine Glocke daran und hängte sie sich um den Hals. In einer mit Glanzpapier und bunten Steinen beklebten Schachtel verstaute sie das Halsband sowie alle Spielzeugmäuse und -bälle, die ihre Eltern übersehen hatten, außerdem jedes Schnurrhaar, jede verlorene Kralle, die sie beim Durchforsten der Wohnung fand. Anschließend ging sie noch einmal los, um im Drogeriemarkt um die Ecke die schönsten Handyfotos auszudrucken und auch gleich Rahmen dafür zu kaufen. Wieder daheim funktionierte Tarja ihren Nachttisch zur Gedenkstelle um. Wenn es schon kein Grab gab, auf das sie Blumen legen konnte, besaß sie auf diese Weise wenigstens einen besonderen Platz, der nur ihr und Pluto gehörte.
In den folgenden Tagen und Wochen betrachtete Frau Wilbert die Schachtel auf dem mit allerlei Blumen, Zweigen und Steinchen dekorierten Tisch mit zunehmender Missbilligung, jedenfalls kam es Tarja so vor. Wahrscheinlich hätte Mama es am liebsten gesehen, wenn sie Pluto einfach vergessen hätte. Tarja schien das unvorstellbar. Es gab Momente, in denen sie abgelenkt war, aber darunter nagte weiter die Trauer an ihr, während für ihre Eltern das Leben normal weiterging. Als ob es Pluto nie gegeben hätte.
Eines Tages nach der Schule wartete Papa im Treppenhaus auf sie. Mit verschwörerischer Miene öffnete er die Tür langsam einen Spaltbreit und forderte sie auf, hineinzugehen.
Weshalb war er so früh daheim?
Tarja staunte: Die Katzenutensilien, von denen sie geglaubt hatte, Mama und Papa hätten sie weggeworfen, standen wieder an ihrem Platz.
Bevor sie darüber nachdenken konnte, was das zu bedeuten hatte, huschte etwas über den Flur. Klein, mit weißen, braunen und schwarzen Flecken. Eine junge Katze!
Tarjas Herz verkrampfte sich. Immerhin hatten sie nicht versucht, Pluto allzu plump zu ersetzen, indem sie eine Katze mit demselben tiefschwarzen Fell kauften, aber trotzdem – sie wollte kein neues Haustier!
Tarja betrat das Wohnzimmer. Die Katze hockte auf Plutos Kratzbaum und schaute Tarja aus runden grünen Augen an. Dann sprang sie hinab, sauste an ihr vorbei, über den Flur und kurz darauf wieder zurück, um einen Zwischenstopp auf dem Sofa einzulegen.
»Schsch«, machte Papa und wedelte mit einem Kissen, als der Wildfang begann seine Krallen an der Lehne zu wetzen. »Na, wie findest du sie, Tarja?«, fragte er. »Sie hat noch keinen Namen. Mama und ich wollten, dass du einen aussuchst.«
»Mir egal«, murmelte Tarja, machte auf dem Absatz kehrt und verzog sich in ihr Zimmer.
»Sie haben mich schon wieder nicht gefragt«, berichtete sie Pluto, während sie ihr Lieblingsfoto von ihm in der Hand hielt. Sorgfältig wischte sie den wenigen Staub ab, der sich darauf angesammelt hatte, bevor sie es neben die Schachtel auf den geschmückten Nachttisch stellte. »Nie fragen sie mich, wenn sie eine wichtige Entscheidung treffen. Ich will keine neue Katze. Ich will dich zurück, auch wenn ich weiß, dass es nicht geht.« Eine Träne tropfte auf den roten Samt, den Tarja über das Tischchen gebreitet hatte. Weitere folgten und ihr Blick auf das Foto verschwamm.