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6. Bau endlich diesen Altar ab!

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Seit einer geschlagenen Viertelstunde jagte die neue Katze einer Fellmaus hinterher. Einer neuen, denn Plutos Mäuse hielt Tarja unter Verschluss.

Clemens Wilbert schnappte sich das Spielzeug, um es erneut zu werfen. »Willst du nicht auch mal mit Bonnie spielen?«, forderte er Tarja auf, die auf dem Sofa saß und in der neuesten »Ein Herz für Tiere«-Zeitschrift blätterte.

Ihre Eltern hatten der Katze den Namen verpasst, weil Tarja sich hartnäckig weigerte, Interesse an dem Tier zu zeigen.

Tarja zuckte daher auch jetzt mit den Schultern und hob den Blick nicht von ihrer Lektüre.

»Wir wollten dir mit Bonnie eine Freude machen«, sagte ihr Vater leicht gekränkt. »Genau genommen war es meine Idee. Vielleicht nicht die beste, die ich hatte, denn die Kleine kann dir Pluto nicht ersetzen, ich weiß, aber gib ihr wenigstens eine Chance.«

»Mal sehen …«, sagte Tarja. »Pluto war geschickter mit der Maus.«

Niedlich war die junge Glückskatze schon. Linda war hellauf begeistert gewesen, als sie neulich zu Besuch kam. Aber sich mit ihr zu beschäftigen – sie gern zu haben –, fühlte sich wie Verrat an Pluto an.

Tarja sah sich um. Bonnie war weg. Wohin war sie auf einmal verschwunden?

In Tarjas Zimmer polterte es. Sofort eilte sie hinüber und überraschte Bonnie, wie sie auf dem Nachttisch saß und die frische Rosenblüte zerpflückte, die Tarja erst vorhin neben Plutos Porträt gelegt hatte. Das Bild lag jetzt auf dem Boden. Immerhin war der Rahmen heil geblieben.

»Verschwinde!« Tarja scheuchte die Katze hinaus und schloss die Tür, um vor weiteren Attacken geschützt zu sein. Dann gähnte sie herzhaft. Letzte Nacht hatte sie wieder schlecht geschlafen. Seit einer Woche ging das jetzt so, seit sie das erste Mal von Pluto geträumt hatte. Immer fand sie sich auf der Wiese in Späterland wieder, in der Nähe des Katzenbaums. Dann tauchte die Hundemeute auf, und Tarja schrak in heller Panik hoch. Zuletzt hatte sie festgestellt, dass die Hunde sich kein bisschen für sie interessierten. Sie waren einzig hinter den Katzen her. In dieser Hinsicht entsprach die Traumwelt überhaupt nicht dem Späterland der kleinen Tarja, wo sich alle Tiere miteinander vertrugen. Im letzten Traum waren ein paar der Hunde in das Bollwerk aus Sträuchern eingedrungen, und es entstand ein wütendes Streitgespräch zwischen den Tierarten. Das Knurren und Bellen der am Stamm hochspringenden Hunde wurde aus der Baumkrone mit Fauchen und kehligem Grollen beantwortet.

Urplötzlich mischte sich eine menschliche Stimme, die Tarja beim Namen rief, unter ihre Erinnerungen.

»Tarja? Warum antwortest du nicht?«

Mama. Tarja seufzte. Hatte man hier nie Ruhe?

Als Mama ins Zimmer kam, streifte ihr Blick den Nachttisch und sie zog die Brauen zusammen. »Wird es nicht langsam Zeit, dass du diesen Altar abbaust?«

»Wieso? Mir gefällt’s. Und Pluto würde es auch gefallen.«

»Papa und ich verstehen deine Trauer, aber wir befürchten, dass du dich zu sehr hineinsteigerst. Dieser Totenkult …« Sie deutete auf den Tisch. »Und dann das Glöckchen um deinen Hals. Ich kann das dauernde Geklingel nicht mehr hören, so leid es mir tut.«

Tut dir gar nicht leid, dachte Tarja. Wobei Mama recht hatte, was das Klingeln anging. Es ertönte bei jeder noch so kleinen Bewegung, manchmal sogar, wenn sie sich nicht bewegte.

»Jedenfalls denken wir, es wäre besser, du suchst ein besonders schönes Foto aus. Das vergrößern wir und hängen es auf. Den Rest packst du in die Schachtel zu den anderen Sachen und wir stellen sie auf den Dachboden. Damit der Tisch endlich wieder frei für deine Bücher ist.«

Tarja schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch bloß, dass ich Pluto vergesse.«

Mama presste die Lippen zusammen. Der Ärger war ihr anzumerken, obwohl ihre Stimme beherrscht klang. »Allmählich kann ich es nicht mehr hören. Tarja, wir machen uns Sorgen um dich! Du vergräbst dich in deinem Zimmer, du isst kaum, du sprichst nicht mit uns. Und wenn doch, geht es um den Kater. Du darfst dich ja an ihn erinnern, aber du musst endlich akzeptieren, dass er nicht mehr da ist.«

Tarja blätterte in ihrem Katzenbuch.

»Die Zeugnisse stehen an. Und die letzten beiden Arbeiten sind nicht gerade glänzend ausgefallen.«

»Was hat das damit zu tun?« Jetzt reichte es Tarja. »Als Alexejs Vater gestorben ist, hat er eine Weile nur Vieren und Fünfen geschrieben und alle hatten Verständnis.«

»Das kannst du doch nicht vergleichen«, schnappte Mama. »Sein Vater, Herrgott noch mal!«

Tarja fand, man könne das sehr wohl vergleichen, ein bisschen zumindest. Liebe war Liebe. Trauer war Trauer, ob um Mensch oder Tier. Dann dachte sie an das, was Oma Petra gesagt hatte. Es gibt keinen Tierhimmel. Sie schwieg. Mama war der gleichen Ansicht, das wusste sie, ohne mit ihr darüber gesprochen zu haben. Vermutlich glaubte sie an überhaupt keinen Himmel, sie ging ja nicht mal in die Kirche.

Monika Wilbert machte eine Handbewegung in Richtung Nachttisch. »Das räumst du auf jeden Fall weg«, ordnete sie an – mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Dann brauste sie aus dem Zimmer.

Mitten in der Nacht wurde Tarja durch ein leises Klingeln geweckt. Erst dachte sie, es gehöre zu ihrem Traum, aber dann merkte sie, dass sie nicht mehr schlief und das Geräusch immer noch hörte.

Plutos Glöckchen!

Das Erstaunliche daran war, dass sie das Band über Nacht abnahm und neben sich auf den Nachttisch legte. Wie konnte es dann aber klingeln?

Sie öffnete die Augen. Weil das Licht der Straßenbeleuchtung durch das Rollo schimmerte, war es im Zimmer nicht ganz dunkel. Tarja drehte den Kopf zur Seite und erblickte das matt glänzende Glöckchen. Es lag da und klingelte. Eine Gänsehaut überlief sie. Das unheimliche Gefühl schloss nahtlos an ihren Traum an, in dem sie Pluto gesehen hatte, wie er unter einer Masse von zottigen Körpern begraben wurde. Gefletschte weiße Zähne und rot funkelnde Augen hatten aus den Fellen herausgeblitzt. Dann war die Meute fortgelaufen und hatte ihn mit sich genommen.

Tarja setzte sich kerzengerade im Bett auf. Plötzlich war alles ganz klar. Pluto brauchte ihre Hilfe! Das war die einzig logische Erklärung für das Klingeln und die Träume. Irgendwie musste sie einen Weg in diese andere Welt finden, und zwar in Wirklichkeit, nicht bloß im Traum!

Als ob ihre stumm getroffene Entscheidung gehört worden war, verstummte das Glöckchen.

In der wiedergekehrten nächtlichen Stille saß Tarja im Bett und grübelte. Wenn Späterland existierte, musste es einen Weg dorthin geben, eine Brücke. In ihrer Vorstellung hatte diese Brücke aus den Strahlen des Regenbogens bestanden, aber wie half ihr das weiter? Es sei denn … Sie hatte stets einen bestimmten Regenbogen vor Augen gehabt, wenn sie in ihrer Fantasie nach Späterland reiste. Den über dem Grausteinfall! Aus dem Physikunterricht wusste sie, dass der Regenbogen durch die Wassertröpfchen entstand, die das Sonnenlicht in seine einzelnen Farbbestandteile zerlegten. Sie war jedes Mal fasziniert gewesen, wenn sie mit Oma Petra und Opa Gregor, seltener mit ihren Eltern, einen Ausflug dorthin unternommen hatte. Konnte es so einfach sein?

Morgen war Sonnabend und das Wetter sollte gut werden. Tarja beschloss eine Radtour zu machen.


Späterland

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