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2. Allein

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Schon als sie zur Wohnungstür hereinkam, fiel Tarja auf, dass etwas nicht stimmte. Zuerst konnte sie sich das komische Gefühl nicht erklären.

»Mama?« Keine Antwort. Nach ihrem Vater brauchte sie nicht zu rufen – der war um diese Zeit noch auf der Arbeit. Bei Mama dagegen konnte man nie wissen, ob man sie nachmittags zu Hause antraf. Das hing davon ab, wie viele Patienten sie hatte. Monika Wilbert war Fußpflegerin, keine Ärztin, weshalb Tarja die Bezeichnung »Patienten« irgendwie übertrieben fand. Aber auch wenn ihre Eltern nicht da waren, hatte sie normalerweise nie das Gefühl, in eine leere Wohnung zu kommen.

»Pluto?« Sonst kam der Kater angelaufen, sobald die Tür aufging. Meist wartete er bereits, weil er Tarjas Schritte im Treppenhaus erkannte. Wenn er dann schnurrend um ihre Beine strich, um sich seine Streicheleinheiten abzuholen, vergaß sie jeden Ärger, den es in der Schule gegeben hatte.

Seit ungefähr zwei Wochen allerdings fraß Pluto wenig. Sie hatten gehofft, es sei nur vorübergehend, aber es wurde immer schlimmer statt besser. Er schlief viel, und Tarja machte sich große Sorgen um ihn.

Der Korb neben der Garderobe, in dem er während der letzten Tage gelegen hatte, war leer. Mama hatte versprochen, sie würden am Freitagnachmittag zum Tierarzt fahren, falls es Pluto nicht besser ginge. Heute war erst Mittwoch, außerdem hatte Tarja darauf bestanden, mitzukommen.

Tarja spürte, wie das komische Gefühl in ihr wuchs. Sie kickte ihre Schuhe beiseite, schmiss den Rucksack in die Ecke und lief von einem Raum in den nächsten, ob Pluto sich irgendwo versteckt hielt.

Sie fand ihn nicht. Weder in ihrem Zimmer noch auf oder unter dem Bett ihrer Eltern, nicht in der Kratzbaumhöhle im Wohnzimmer, nicht auf seinem Lieblingsplatz – der Küchenfensterbank. Die Katzentoilette war unbenutzt.

Mit klopfendem Herzen griff Tarja zum Telefon. Die Mailbox ihrer Mutter meldete sich.

»Mist«, murmelte das Mädchen. Sie wollte es gerade auf dem Diensthandy ihres Vaters versuchen, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

Mama stand in der Tür, das Gesicht blass und wie versteinert. Über den Flur hinweg blickten sie einander an. Der Boden unter Tarjas Füßen schien zu schwanken, als sie die leere Transportbox in der Hand ihrer Mutter sah. Mama setzte das Ding ab und klappte die Tür zu. Noch bevor sie etwas sagen konnte, wusste Tarja Bescheid.

»Du musst jetzt tapfer sein.« Sie kam auf Tarja zu und nahm sie in die Arme. »Der Arzt hat festgestellt, dass Pluto Krebs hat.« Sie legte ihrer Tochter die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. »Die Krankheit hatte sich schon im ganzen Körper ausgebreitet. Ich musste ihn einschläfern lassen. Es tut mir so leid …« Sie schniefte, zog ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase.

Ein Kälteschauer durchrieselte Tarja. Es war eine innere Kälte, denn in der Wohnung herrschte eine sommerliche Temperatur. Wenn jemand Geliebtes stirbt, dann stirbt auch ein Teil von einem selbst, hatte sie gehört. Genau das spürte sie jetzt: wie ein Teil von ihr starb. Pluto war fort, und sie würde ihn nie wiedersehen. Nicht in zehn, nicht in hundert Jahren. Egal wie alt sie würde, ihre gemeinsame Zeit war abgelaufen.

»Warum hast du nicht auf mich gewartet?«, fragte sie, und jedes Wort kostete unglaubliche Kraft. »Du hast versprochen mich mitzunehmen. Ich konnte mich nicht mal von ihm verabschieden.« Die letzten Worte brachte sie nur mehr unter Schluchzern hervor.

Mama strich ihr sanft über die Wange. »Ich weiß, wie schlimm das für dich ist, Tarja. Aber es war besser so, es hätte dich zu sehr mitgenommen.«

»Ich hätte es ausgehalten«, beharrte Tarja. Und plötzlich fiel ihr etwas anderes ein, etwas, das so wichtig war, dass man sich bei aller Trauer darum kümmern musste. »Wo wird Pluto begraben?« Vor einigen Monaten hatte sie einen Bericht über Tierfriedhöfe gesehen. In jeder größeren Stadt gab es welche.

Mama lächelte gequält. »Ich habe ihn dort gelassen, Tarja.«

In der Tierarztpraxis? Es gab nicht mal eine ordentliche Beerdigung für ihn?

Tarja spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Ein Teil ihrer Trauer verwandelte sich in Wut. »Du hast erlaubt, dass man Seife aus ihm macht?«

Ihre Mutter schüttelte entsetzt den Kopf. »Wo hast du das aufgeschnappt? Aus Tieren wird keine Seife gemacht, das war vielleicht früher mal so.« Sie seufzte. Das Thema war ihr unangenehm, aber das geschah ihr ganz recht. »Sie werden verbrannt, genauso wie es bei vielen Menschen nach dem Tod gemacht wird. Du weißt doch, dass Oma Petra in einer Urne bestattet wurde.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Bei Tieren gibt es natürlich kein Urnenbegräbnis.«

»Doch, das gibt es«, widersprach Tarja. »Es gibt Tierfriedhöfe. Da kann man bestimmt auch die Asche begraben.«

»So was ist sehr teuer, Tarja. Du weißt doch, wie wir sparen müssen. Und schau mal, wenn ein Tier gestorben ist, dann ist der Körper nur noch eine Hülle, nichts weiter. Pluto bleibt in unserer Erinnerung lebendig.«

Das waren doch bloß Ausreden! Sie hätte die Hälfte ihres gesparten Geldes zugeschossen, ach was, notfalls alles! Aber es war zu spät, darüber nachzudenken. Eine Welle aus Verzweiflung schlug über Tarja zusammen. Sie mochte ihre Mutter nicht länger ansehen, weil sie nicht wollte, dass die Wut auf sie weiterwuchs.

Sie lief in ihr Zimmer, stellte das Schild an der Klinke auf »ICH WILL MEINE RUHE!« und knallte die Tür zu.


Späterland

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