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7. Am Grausteinfall

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Kraftvoll trat Tarja in die Pedale, der Wind wehte ihr die langen Haare aus der Stirn. Auf der zwanzigminütigen Fahrt entlang der Landstraße war ihr bereits ordentlich warm geworden, doch der anstrengendste Teil lag noch vor ihr. Schon begann die Straße anzusteigen, um nach der nächsten Kurve noch ein paar Prozente zuzulegen. Bis auf zwölf, wie das Hinweisschild anzeigte, und damit genug, um im Winter Autofahrern, die ohne Schneeketten unterwegs waren, Probleme zu bereiten.

Tarja japste nach Luft, ihre Beine schmerzten. Egal. Eine Pause würde sie sich erst gönnen, wenn sie am Grausteinfall anlangte. Es war noch früh, halb neun, und weil die Sommerferien erst übernächste Woche anfingen, würden hoffentlich keine Wanderer unterwegs sein.

Endlich hatte Tarja den steilen Abschnitt bewältigt und bog auf einen Waldweg ab. Immer noch schnaufend schloss sie ihr Fahrrad an einen Baum, den dichtes Gebüsch verdeckte, sodass man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Seit ihr letztes Rad gestohlen worden war, traf sie Vorsichtsmaßnahmen, damit dem neuen nicht dasselbe Schicksal widerfuhr. Den Helm hängte sie an den Lenker.

Den letzten Teil der Strecke würde sie zu Fuß zurücklegen. Sie war so ins Schwitzen gekommen, dass sie ihre Sommerjacke auszog und sie sich um die Taille band. Dann nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie vorhin in den Rucksack gepackt hatte – zusammen mit einer orange-rot karierten Picknickdecke, ihrem Smartphone und etwas Verpflegung.

Um sie herum zwitscherten Vögel, und schon hier konnte sie das donnernde Rauschen des Wasserfalls hören. Von unten war schlecht an ihn heranzukommen, dazu hätte sie über Morast und glitschige Steine klettern müssen. Also ging sie durch den Wald, über einen mit Wurzeln und Steinen gespickten Pfad, bis sie das Sprühen der Gischt durch die Baumstämme erkennen konnte.

Oben angekommen blieb Tarja an dem hölzernen Geländer stehen, das Besucher davon abhalten sollte, am Steilhang neben dem Wasserfall herumzuklettern. Eine Weile beobachtete sie, wie das Wasser über die Felsen hinabstürzte. Obwohl die Wildheit des Baches sie beeindruckte, kam es Tarja so vor, als sei der Wasserfall früher mächtiger gewesen. Ob es daran lag, dass sie lange nicht mehr hier gewesen und in dieser Zeit gewachsen war? Vielleicht war auch die anhaltende Trockenheit schuld, die den Pegel des Grausteinbachs hatte absinken lassen.

Weit und breit ließ sich niemand blicken.

Was nun? Wie sollte der Wasserfall ihr helfen, nach Späterland zu gelangen?

Auf einmal fand Tarja ihre Idee kindisch. Was hatte sie sich erhofft? Dass aus dem Nichts eine Brücke wuchs und sie einfach hinüberspazieren konnte? Späterland war ein Fantasieprodukt ihrer Kindheit. Aber jetzt war sie zwölf Jahre alt, zwölfdreiviertel, um genau zu sein.

Obwohl sie sich gern in den fantastischen Welten ihrer Bücher vergrub, in denen Tiere sprechen konnten und Magie wie selbstverständlich zum Leben dazugehörte, wusste sie, dass nichts davon real war. Da hätte sie auch wieder an den Weihnachtsmann glauben können.

Plötzlich bemerkte sie den Bogen aus buntem Licht, der sich über einen vorstehenden Felsen auf halber Höhe des Wasserfalls spannte. Im selben Moment klingelte das Glöckchen an ihrem Hals. Das genügte als Zeichen.

Tarja vergewisserte sich, dass sie allein war, dann schwang sie sich mit dem Rucksack auf dem Rücken über das Geländer und wagte den Abstieg.

Es ging einfacher als erwartet, denn überall ragten Wurzeln und fest sitzende Steine aus dem Erdreich, an denen sie Halt fand. Als sie die Stelle erreichte, über der sie den Regenbogen gesehen hatte, pfiff Tarja leise. Da war eine Höhle! Ziemlich weit seitlich, halb verborgen vom feinen Sprühnebel. Wenn der Pegel des Baches höher war, musste die Höhle komplett hinter dem Wasservorhang versteckt sein, aber jetzt könnte sie hinübergelangen.

Über ihr kollerten Kiesel. Tarja schrak zusammen. Hatte sie jemand beobachtet? Das bedeutete Ärger, denn es war verboten, über die Absperrung zu klettern. Und zusätzlichen Ärger konnte Tarja wahrhaftig nicht gebrauchen. Mama hatte heute Morgen noch immer verstimmt gewirkt, sicher auch, weil sie schon wieder das Glöckchen trug. Als sie ihr von der geplanten Radtour erzählte, hatte sie bloß genickt, ohne die üblichen Ermahnungen, vorsichtig zu sein und ja den Helm aufzusetzen. Aber einerlei, wer da oben herumschlich, es gab kein Zurück mehr. Sobald sie die Höhle erreichte, war sie vor fremden Blicken geschützt.

Die restlichen Meter musste Tarja über algenbedeckte Steine klettern, die kaum Halt boten. Ihr Fuß glitt ab. Fast wäre sie weggerutscht und in den kleinen Teich unten am Wasserfall gestürzt. Im letzten Moment gelang es ihr, sich an dem breiten Vorsprung vor der Aushöhlung im Fels emporzuziehen. Schnell tauchte sie unter dem Vorhang aus feinem Nebel hindurch und kletterte hinein.


Ein sagenhafter Anblick bot sich ihr von dort aus. Wie luftige weiße Gardinen hingen perlende Wasserströme über dem Eingang. Dahinter lugten Baumwipfel hindurch, über denen die gelbe Sonnenscheibe emporstieg. Die Höhle selbst war feucht und nicht besonders groß, kaum zwei Meter breit und noch weniger tief. Dennoch war sie ein grandioses Versteck, wenngleich nichts auf eine verborgene Brücke oder sonst einen magischen Durchgang hindeutete, wie Tarja enttäuscht feststellte.

Wieder polterten Steine herab und schlugen mit lautem Platschen in den Teich. Tarja klopfte das Herz bis zum Hals. Kein Zweifel, jemand folgte ihr. Angsterfüllt schaute sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.

Kling! Hell läutete die kleine Glocke.

Tarja tastete nach ihr und hob sie am Lederband vors Gesicht. »Hilf mir, Pluto«, flüsterte sie.

Ein Sonnenstrahl stahl sich durch den Wasservorhang und traf das Glöckchen. Verblüfft beobachtete Tarja, wie das Licht von dem Metall reflektiert und an die Rückseite der Höhle geworfen wurde. Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Indigo, Violett. Die Farben des Regenbogens.

Der Fels schien sich mit einem Mal zu dehnen, als bestünde er aus Kaugummi. Der siebenfarbige Lichtstrahl schob sich wie eine Zunge hinein und grub dabei einen Tunnel in den Berg. Nein, nicht ganz, denn da waren keine Wände, sondern nur ein endloses schwarzes Nichts, das die entstehende Regenbogenbrücke umhüllte.

»Hey, Tarja!«

Sie kannte die Stimme. Milo, einer von Pascals Kumpanen! Was hatte der hier zu suchen?

»Ich weiß, dass du da reingekrochen bist!«, rief er.

Ein Schatten fiel über die Höhle, als Milo sich anschickte, hineinzuklettern, doch der Regenbogen dachte nicht daran, zu verblassen. Er ging jetzt einzig von dem Glöckchen aus.

»Du hast hier nichts zu suchen!« Milos Stimme klang erbost. »Das ist unser Hauptquartier. Zutritt verboten, kapiert?«

Tarja überlegte nicht lange. Sie setzte die Fingerspitzen auf das bunte Band. Sofort verspürte sie eine Strömung, die von hier zur anderen Seite verlief. Wie weit diese entfernt war, ließ sich nicht abschätzen. Sehr weit, vermutete Tarja, denn das bunte Licht verlor sich in der Dunkelheit. Ihr war mulmig zumute.

Hinter ihr schrie Milo schmerzerfüllt auf. Sie wandte den Kopf und sah, dass ihr Klassenkamerad sich die Stirn rieb, die er sich an der niedrigen Höhlendecke gestoßen hatte.

Eine Sekunde später rief er: »Was ist das denn?« Es klang verwundert und ein bisschen ängstlich.

Das Lichtband zitterte. Irgendetwas sagte Tarja, es würde nicht mehr lange halten. Jetzt oder nie! Sie schob die Knie nach vorn und die Strömung erfasste sie.

Späterland

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