Читать книгу Wolfsklingen - Julia Adamek - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеAlbin war seit vielen Monaten nicht mehr im Thronsaal gewesen. Vor dem Verrat seines Vaters, als er noch einer Zukunft als Kronrat entgegen geblickt hatte, waren die Stunden hier für ihn sehr wichtig gewesen. In dem lang gestreckten Raum mit dem riesigen Holztisch fanden die Sitzungen des Kronrates statt. Am Kopf der Tafel stand der erhöhte Stuhl des Königs. Seine Berater saßen zu beiden Seiten und besprachen die Belange des Reiches. Albin hatte mit den anderen zukünftigen Räten auf einer steinernen Bank an der Wand gesessen und stundenlang den Beratungen gelauscht. Während sich die meisten jugendlichen Schüler langweilten und mit ihren Gedanken wahrscheinlich unten im Kriegerlager waren, hatte Albin jedes gesprochene Wort aufgesaugt wie ein Schwamm. Es faszinierte ihn, die unterschwelligen Botschaften zu entschlüsseln, die Freundschaften und Feindseligkeiten zwischen den Männern auszumachen und das aufgesetzte Gebaren zu studieren. Als sich dann herausstellte, dass Albin niemals im Kronrat sitzen würde, hatte er vergessen, wie lehrreich diese Sitzungen für ihn gewesen waren. Das zeigte sich spätestens jetzt, wo er zwar nicht offiziell aber doch mit sehr viel mehr Engagement der zukünftigen Königin als Berater dienen würde.
An diesem Nachmittag war die Tafel aus dem Raum entfernt worden und auch die steinerne Bank, die Albins Blick für einen Moment angezogen hatte, war leer. Der König empfing die ersten Gäste, die zu den Geburtstagsfeierlichkeiten kamen. Die Wettergeister meinten es gut mit Westland, denn die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel herab. Die großen Fenster standen offen und ließen Licht, frische milde Luft und Vogelgezwitscher in den Saal fluten. An den geschwärzten Deckenbalken bewegten sich die vielen verblichenen Banner der Adelsfamilien im sanften Luftzug.
„Wer ist die dort?“ fragte Dennit gerade. Er stand zusammen mit Albin und Bosco in einer Ecke und beobachtete das Treiben. Immer mehr Menschen strömten im Saal zusammen um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Die drei schlicht gekleideten Männer fielen niemandem auf. Als Albin nicht sofort antwortete, schnippte Dennit direkt vor seinen Augen mit den Fingern.
„He, wach auf. Ich meine die in dem blauen Kleid.“
Albin blinzelte und ließ den Blick durch den Raum schweifen um die Dame auszumachen, die Dennits Aufmerksamkeit erregt hatte. Er selbst war natürlich hier um zu sehen welche Gäste überhaupt eingeladen waren und was für ein politisches Kalkül dahinter steckte. Dennit kam nur, um sich die Töchter anzusehen und Bosco hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, wann es irgendwo etwas zu essen gab. Auch jetzt konzentrierte er sich hauptsächlich darauf, seinen Teller mit den feinen Gebäckstückchen zu füllen, die an einem Tisch für die Gäste bereitstanden. Währenddessen versuchte Albin, all sein Wissen über die westländischen Dynastien zusammen zu kratzen um Dennit Auskunft zu geben. Er studierte Wappen und Gesichter und tatsächlich fielen ihm erstaunlich viele Namen ein.
„Der Mann neben ihr ist Taman Enestor“, sagte er nun. „Ein Händler von der Küste. Perlen und Hölzer aus dem Südland, glaube ich. Das Mädchen ist seine Tochter, oder?“
In diesem Moment beugte sich der erwähnte Herr ein wenig zu der hübschen jungen Frau herunter und tätschelte ihren Hintern in dem modischen blauen Kleid. Sie lächelte, aber ihre Augen blieben kalt.
„Ha, nicht seine Tochter, mein Lieber“, sagte Bosco mit vollem Mund und gab Dennit einen Schubs. Dessen Enttäuschung war offensichtlich. „Wohl eher sein neues Weib.“
„Aber sieh nur, wie sie dreinschaut“, meinte Dennit. „Besonders glücklich scheint sie ja nicht zu sein.“
„Das ist auch kein Wunder. Ihr Ehemann ist dreißig Jahre älter als sie“, sagte Albin.
„Sehr schön“, sagte Dennit. „Unglückliche Damen sind eine Spezialität von mir.“
„Immer langsam, Bürschchen“, sagte Bosco. „Das ist ein ehrenwertes Wappen auf deinem Harnisch, verstanden? Die Wölfe verführen keine verheirateten Edeldamen.“
„Und unverheiratete Töchter?“ fragte Dennit hoffnungsvoll. „Wie ist es damit?“
In diesem Moment erschien ein Mann im Saal, der sofort Aufmerksamkeit erregte. Jedermann schien sich zu freuen, ihn zu sehen und seine dröhnende Stimme war voller Herzlichkeit, als er die ersten bekannten Gesichter begrüßte. Seit ihrer letzten Begegnung im westländischen Wald hatte Herr Efrem sich kaum verändert. Womöglich war er ein bisschen dicker geworden, doch sein gerötetes Gesicht war fröhlich wie damals.
„Efrem, der alte Fettsack“, sagte Bosco erfreut. „Das wird ein schönes Besäufnis geben, wenn er uns im Bergfried besuchen kommt.“
Obwohl Efrem einer alten und wohlhabenden Familie angehörte, konnte er dem Leben am Hof mit all seinen Oberflächlichkeiten nichts abgewinnen und lebte seit Jahrzehnten zurückgezogen auf seinem Landsitz. Trotzdem war er einer der treuesten Waffenbrüder des Königs und wurde hoch geschätzt für seine Ehrlichkeit und sein heiteres Gemüt. Auch dass er keinen Unterschied machte zwischen niederen Soldaten und hochwohlgeborenen Herren, wenn er sich mit einem Bierkrug an einen Tisch setzte, trug ihm allerhand Sympathien ein. So zählte neben dem König selbst auch Bosco zu seinen Freunden. Seite an Seite hatten sie im Nordlandkrieg gekämpft. Viele freundschaftliche Bande, die damals geknüpft worden waren, hatten noch immer Bestand. Hinter Efrem war seine Frau eingetreten, eine üppige Frau, die die gleiche herzliche Fröhlichkeit ausstrahlte wie er. Das Paar wanderte durch den Saal, schüttelte Hände und machte Scherze, bis es sich schließlich zum Stuhl des Königs vorgearbeitet hatte. Nach den üblichen Verbeugungen erhob sich der König schwerfällig von seinem Stuhl und ließ sich an Efrems breite Brust drücken, als wären die beiden nicht Herr und Diener, sondern ebenbürtig. Die Königin nickte ihm jedoch nur mit strenger Miene zu ohne jedoch ihre Distanziertheit abzulegen. Dennoch küsste sie Efrems Frau auf beide Wangen. Albin beobachtete, wie Efrem nun einen jungen, hochgewachsenen Mann in den Vordergrund schob. Sein Gesicht leuchtete vor Stolz auf, als er ihn mit dem König bekannt machte.
„Ist das sein Sohn?“ fragte Dennit neugierig.
Albin nickte. „Sein Name ist Mael. Man hat ihn bisher nicht häufig am Hof gesehen. Aber Efrem möchte wohl die Gelegenheit nutzen, ihn als seinen Erben vorzustellen.“
„Kräftiger Bursche“, sagte Bosco. „Das Leben in Efrems Wäldern scheint nicht so müßig zu sein, wie man annimmt, wenn man seinen Schmerbauch und seine Schnapsnase sieht.“
„Man sagt, Mael ist ein großer Jäger“, meinte Albin. „Aber nun zieht es ihn scheinbar doch in die Stadt. Er hat eine Handvoll seiner besten Freunde mitgebracht und eine Menge Gepäck.“
Efrem und sein Gefolge hatten ihren Weg durch den Saal fortgesetzt und waren nun endlich bei Albin, Dennit und Bosco angelangt.
„Herr Albin“, sagte Efrem und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Du hast dich gemacht, wie ich sehe. Man hat Großes über dich gehört. Als ich dich zuletzt sah, konntest du die Augen nicht von deinen Stiefeln heben. Und jetzt steht ein Mann vor mir!“
„Wie schön, Euch zu sehen, Herr Efrem“, antwortete er ehrlich.
„Vater, bist du dir sicher?“ warf Mael ein. Er hatte dunkelblondes Haar und ein ebenso gewinnendes Lächeln wie sein Vater. „Das soll der junge Albin sein? Der bei den Nebelklippen gekämpft hat? Ich dachte, es wäre ein Pferdeknecht.“
„Rede nicht so daher!“ wies ihn Efrem zurecht. „Dieser Junge hat geholfen, das Westland zu retten. Er war einer von Prinz Tychons engsten Freunden.“
„Ein Missverständnis, Herr“, sagte Albin, der sich nicht im Mindesten beleidigt fühlte. „Ich bin Eurem Sohn schon heute Vormittag in den Ställen begegnet.“
Albin hatte nach Arro sehen wollen. Er sah es lieber, wenn sein Hengst den ganzen Tag auf der Koppel war, zumal im Stall ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Arro war von Natur aus nervös und sollte durch die vielen fremden Pferde und Menschen nicht noch zusätzlich gereizt werden. Als er festgestellt hatte, dass man den Hengst bereits nach draußen gebracht hatte, sah er Mael und seine Freunde im Hof. Zusammen mit Lando begutachteten sie einen wunderschönen Fuchs - Maels Pferd - das die Reise anscheinend nicht gut verkraftet hatte. Das Tier schwitzte und schonte einen Hinterhuf. Außerdem warf es ständig den Kopf hoch und rollte die Augen. Die fremde Umgebung schien ihm zuzusetzen. Doch was Albin sofort fühlte war, dass das Pferd große Schmerzen hatte. Er wusste nicht, woran er es erkannte, aber er fühlte sich förmlich überwältigt von der Empfindung des Tiers. Beinahe spürte er sie am eigenen Leib und jedes Haar an seinem Körper stellte sich auf. Er ging langsam näher und hörte, wie Mael sich besorgt mit dem Stallmeister unterhielt. Lando tastete Rücken und Beine des Fuchses ab, seine Brauen waren vor stummer Konzentration zusammen gezogen.
„Ich kann nichts entdecken“, murmelte der Mann nachdenklich. „Keine Verspannungen. Der Huf ist kühl und das Eisen sitzt fest. Und du bist sicher, dass er nicht gestolpert ist?“
„Er lief hervorragend. Erst kurz vor unserer Ankunft begann er, zu lahmen.“ Aus seiner Stimme entnahm Albin, dass er wirklich besorgt um sein Pferd war und das machte ihn Albin sofort sympathisch. Mael trug noch die schmutzige Reisekleidung und sah aus, als habe er noch nicht einmal einen Schluck getrunken. Zuerst suchte er Hilfe für sein Pferd. Irgendetwas trieb Albin näher heran. Er kannte sich mit Pferden wirklich nicht besonders gut aus und hätte es nie gewagt, sich einzumischen. Doch je länger er den Fuchs betrachtete, desto deutlicher wurde das Bild, das sich in seine Gedanken drängte. Er sah ein Feld und spürte die Hitze der Sonne auf seiner Haut. Und plötzlich war da ein stechender Schmerz in seinem Bein, der erst abflaute und dann zu einem ständigen Pochen wurde. Albin rieb sich unwillkürlich mit der Handfläche über den Oberschenkel und das Gefühl verflog.
„Eine Wespe“, sagte er laut, ehe er noch weiter darüber hatte nachdenken können. Die Männer schauten auf. Zuerst wollte Albin seinem natürlichen Instinkt folgen und der allgemeinen Aufmerksamkeit entkommen. Doch dafür war es nun zu spät. Er straffte die Schultern.
„Was meinst du?“ fragte Mael neugierig. „Komm näher, Junge!“
Also blieb ihm nichts anderes übrig und er trat an das Pferd heran.
„Ihr seid durch das Hügelland geritten. In den Feldern wimmelt es von Wespen, besonders giftig ist die große Räuberwespe. Sie sticht das Vieh auf den Weiden und die Bauern versuchen ständig, sie auszurotten. Aber ohne Erfolg.“
Albin bückte sich und untersuchte das Bein des Pferdes genauer. Mael und Lando taten es ihm nach. Schließlich entdeckten sie an der Innenseite eine kleine Schwellung.
„Tatsächlich“, sagte Mael.
Als sie sich aufrichteten, klopfte er Albin auf die Schulter. „Sehr gut, mein Junge! Wie konntest du das nur wissen?“
Nun wand sich Albin wirklich ein wenig. Wie sollte er erklären, dass er gefühlt hatte, was das Pferd fühlte? Auch wenn es nur für einen winzigen Augenblick gewesen war. Er zuckte die Schultern.
„Ich habe nur geraten“, murmelte er.
Nun ließ Mael wieder die Hand auf seine Schulter fallen. Er war beinahe so groß wie Bosco und überragte Albin um einiges.
„Ein Hellseher ist er! Zum Glück, dass er gerade da war und uns weiterhelfen konnte. Wärst du nur ein Knecht, würde ich dir etwas zustecken für deine Dienste. Aber unter diesen Umständen danke ich dir von Herzen. Und es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen. Ganz Westland spricht über deine - über eure - Tapferkeit.“
Damit schloss er auch Bosco und Dennit mit ein.
„Nicht der Rede wert. Ich hoffe, dem Pferd geht es nun besser?“
„Viel besser. Lando hat ihm einen Umschlag aufgelegt. Er schien nicht so begeistert davon zu sein, dass ein Junge im Vorbeigehen dieses Rätsel gelöst hat.“ Mael zwinkerte Albin zu.
„Wann kommst du in den Bergfried, Efrem?“ fragte Bosco. „Althan und Rheys werden sich ebenfalls freuen, dich zu sehen. Und deinen Sohn natürlich.“
„So bald wie möglich“, versprach Efrem. „Diese ganzen Förmlichkeiten hier verschlingen doch nur kostbare Zeit, die man mit angenehmeren Dingen verbringen könnte.“
„Der Geburtstag der Prinzessin ist doch ein Grund für große Feierlichkeiten“, wandte Albin ein.
Efrem schenkte ihm einen vielsagenden Blick. „So wie ich das Mädel kennen gelernt habe, würde sie einen Ritt durch die Wälder und ein Essen am Lagerfeuer diesem ganzen Pomp jederzeit vorziehen. Oder haben die letzten Monate sie so sehr verändert?“
„Mehr als Ihr ahnt“, antwortete Albin leise.
„Ich für meinen Teil bin sehr gespannt, sie zu sehen“, sagte Mael. „Ganz Westland spricht von ihrer außergewöhnlichen Tapferkeit und ihrem Mut. Und von ihrer Schönheit nicht zu vergessen.“
Wieder dieses verschwörerische Zwinkern. Doch dieses Mal spürte Albin, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ihre Schönheit hat dich nicht zu interessieren… Natürlich verbot ihm seine Höflichkeit, das zu sagen. Er wusste nur zu gut, dass es in der Eisenfaust von Heiratskandidaten wimmelte und dass zumindest Königin Sílean bereits ihre Fühler ausstreckte. Plötzlich fragte er sich, ob es wirklich so einfach sein würde, all das zu akzeptieren und zuzusehen, wie Ami jemand anderen heiratete.
Normalerweise kam es nicht vor, dass Albin die Große Halle vorzeitig verließ. Erstens wollte er keinen kostbaren Moment versäumen, in dem er Amileehna sehen konnte - und sei es auch nur aus der Ferne. Zweitens ließ er sich unter keinen Umständen die Süßigkeiten entgehen, die den Abschluss des Essens bildeten. Aber an diesem Abend erhob er sich schon nach dem ersten Fleischgericht von seinem Platz. Das Essen war außergewöhnlich köstlich gewesen, Kyra wollte den hochwohlgeborenen Gästen nur die erlesenste Speiseauswahl servieren. Doch es waren etwa doppelt so viele Menschen in der Halle wie sonst und Albin hatte kaum einen Platz ergattern, geschweige denn einen Blick auf Amileehna werfen können. Sie war belagert von neugierigen Gästen, die bei diesem ersten ungezwungenen Abendessen der Festwoche einen Plausch mit ihr halten wollten. Es war unglaublich laut und Albin bezweifelte, dass er irgendetwas Sinnvolles oder Wichtiges erfahren würde, wenn er blieb. In diesem Gewühl konnte er die Gesichter nicht einmal ansatzweise zuordnen. Mit einem erleichterten Seufzen trat er hinaus in die Abenddämmerung. Der Sommer schien sich mit übergroßen Schritten zu nähern. Es blieb bereits länger hell und die Luft war mild und lud dazu ein, unter den ersten aufleuchtenden Sternen zu sitzen und gekühlten Wein zu trinken. Wie von selbst trugen ihn seine Füße hinüber zum Bergfried. Schon von Weitem hörte er Gelächter. An einem langen Tisch saßen die Männer der Garde beisammen, die gerade keinen Dienst im Palast hatten, aßen, tranken Bier und scherzten miteinander. Wortlos machten sie Platz für Albin und schoben ihm einen Krug zu. Albin nahm einen tiefen Schluck. Alle Männer lauschten gerade Efrem, der es wohl ebenso wenig in der Halle ausgehalten hatte, wie Albin. Auch sein Sohn war da. Albin konnte nur den Schluss der Geschichte hören, die Efrem gerade zum Besten gab. Er war ein geborener Erzähler und die letzten Worte gingen im schallenden Gelächter der Männer unter. Meistens ging es um kuriose Erlebnisse aus irgendwelchen Schlachten, um Jagdabenteuer oder gehörnte Ehemänner. Albin hörte nur mit halbem Ohr zu. Die vom Fackelschein erhellten Gesichter seiner Freunde erinnerten ihn an unzählige Abende am Lagerfeuer, die sie so verbracht hatten. Mit Bier und Geschichten, die Pferde friedlich grasend in der Nähe, die Waffen in Griffweite, falls sich ein Angreifer heranwagte. Damals war alles so einfach gewesen. Es hatte nur ein Ziel gegeben, nur eine Richtung, in die man gehen musste. Sie hatten Geheimnisse lüften und erfahren wollen, warum die Dinge aus Jessys Welt in Westland auftauchten. Niemand hatte damals geahnt, was ihnen bevorstand.
„Wie ich sehe trägst du das Abzeichen noch nicht, Rheys“, sagte Efrem nun. „Macht Althan seinen Stuhl nun doch nicht frei für dich?“
„Das wird er“, meinte Bosco voller Überzeugung. „Es ist nur eine Frage der Zeit. Du weißt, wie die alten Krieger nunmal sind. Am Ende haben sie Angst, dass sie in einem Kämmerchen vergessen werden, wenn sie ihren Posten zu früh verlassen.“
„Dann ist es wahr?“ fragte Mael neugierig. Er musterte Rheys voller Bewunderung. Albin hatte nie zwei unterschiedlichere Männer gesehen. Rheys, finster und undurchschaubar wie immer, Mael der Inbegriff von Fröhlichkeit. „Du wirst die Garde anführen?“
Rheys nickte knapp. Diese scheinbare Gleichgültigkeit war nicht echt, das wusste Albin. In Wahrheit war Rheys nur sehr bescheiden und auch ein wenig überwältigt von der Ehre, die ihm, einem einfachen Jungen aus einem Fischerdorf, zuteil werden sollte. So einen Einblick in sein Gefühlsleben gewährte er natürlich nur Jessy, niemandem sonst.
„Sobald Althan den richtigen Zeitpunkt für gekommen hält, wird er es mich wissen lassen“, sagte er ruhig.
Efrem lachte. „Gib doch zu, dass du es kaum erwarten kannst, Junge. Alle wissen, dass es längst an der Zeit ist. Ich glaube nicht, dass man dir noch irgendetwas beibringen kann.“
„Mir vielleicht nicht“, antwortete Rheys. „Aber irgendjemand hier wird etwas lernen. Althan hat Nachricht erhalten, dass uns ein weiterer hoher Besuch ins Haus steht. Bran Borunpan hat sein Kommen angekündigt.“
Die Männer verstummten und auch Albin blieb der Mund offen stehen. Der Ehrwürdige Lehrmeister des Westens war eine Legende unter den Soldaten. Seit vielen Jahren lebte er zurückgezogen in den Wäldern und niemand wusste, ob er überhaupt noch am Leben war. Doch für jeden Krieger in Westland bestand daran kein Zweifel. Manche, die ihn auf dem Schlachtfeld gesehen hatten, behaupteten, er sei unsterblich. Er galt als bester Kämpfer im Königreich und hatte sein Wissen nur an ausgewählte Schüler weitergegeben. Doch diese Zeiten waren vorbei. Bran Borunpan hatte ein Leben in Frieden gewählt und das Kämpfen aufgegeben. So sagten es zumindest die Gerüchte.
„Jahrzehnte lang verschanzt er sich im Wald und ausgerechnet jetzt, wo die Stadt überquillt vor Besuchern, kommt er her?“ fragte Dennit ungläubig. „Was kann der Grund dafür sein?“
„Nun, Westland steht kurz davor, eine Frau auf den Thron zu setzen“, sagte Mael nachdenklich. „Das alleine ist schon eine Sensation. Aber wenn man allen Erzählungen glauben darf, ist sie auch noch eine Kriegerin. Sollte das nicht Grund genug sein?“
Wenn der Lehrmeister tatsächlich kam, um Amileehna zu sehen oder gar zu unterrichten, würden fortan nicht nur alle Mädchen im Reich neidisch auf sie sein, sondern auch die jungen Männer.
„Wir werden es erfahren“, meinte Rheys, der auf Spekulationen nichts gab.
Für den Rest des Abends gerieten die Männer geradezu ins Schwärmen und erzählten davon, wie sie als Kinder Geschichten über den Lehrmeister gehört und immer davon geträumt hatten, ihm zu begegnen. Albin schwieg und grübelte. Einmal mehr wurde ihn deutlich, dass er doch nicht so war, wie die Wölfe. Er war kein Krieger. Ob er in den Genuss kommen würde, Bran Borunpan kämpfen zu sehen oder nicht, war ihm gleich. Ihn interessierte nur - und das brennend - was der Mann mit Amileehna zu besprechen hatte. Was war so wichtig, dass er deshalb sein Exil verließ?
Albins Blick glitt von dem Schriftstück unter seinen Händen hin zu der Schale mit roten Beeren, die auf seinem Tisch stand. Doch er konnte die kleinen, noch fast unreifen Früchte nicht wirklich sehen. Seine Sinne hatten sich nach innen gerichtet, ohne dass er das wollte. Er lauschte, ohne zu wissen worauf. Sein Atem und sein Herzschlag hallten laut in seinem Kopf wider. Da waren Stimmen über ihm. Er konnte die steinernen Mauern um sich fühlen und das Erdreich, das den Kellerraum umgab, in dem er saß. Dann Schritte. Jemand näherte sich schnell. Die pulsierende Energie dieses anderen lebenden Wesens, das durch Stein und Luft zu ihm heran kam, leuchtete vor Albins innerem Auge, wie eine Fackel. Jessy. Es war ganz eindeutig Jessy. Er war sich dessen völlig sicher und konnte trotzdem nicht annähernd erklären, woher er es wusste.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn hochschrecken. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet. Jessy streckte den Kopf herein. Sein eigenes Erschrecken über das, was er soeben erlebt hatte, musste sich in Albins Gesicht abzeichnen, denn Jessy hob besorgt die Brauen.
„Was ist denn mit dir los? Hast du ein Gespenst gesehen?“
Albin schluckte gegen die Heiserkeit an und trank etwas Wasser. Sein Gesicht war rot, das spürte er genau. Und genauso spürte er ihren forschenden Blick. Schnell schüttelte er den Kopf. Jessy kam näher.
„Lüg mich nicht an! Was ist mit dir?“
Albin wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Eine kindliche Geste, die er in Momenten höchster Unsicherheit noch immer nicht unterdrücken konnte. Jessy kniff die Augen zusammen. Ein Teil von ihm wollte sofort alles erzählen und sie endlich ins Vertrauen ziehen. Er musste einfach mit jemandem darüber sprechen. Aber seine Vernunft hielt ihn zurück. Jessy lehnte sich gegen seinen Tisch und warf einen Blick auf die Seite, an der er gerade arbeitete. Erst jetzt fiel ihm ihre ungewöhnliche Kleidung auf. Sie trug eine dunkelgraue Hose, ein weißes neues Hemd und darüber ein schwarzes Wams aus dickem Leder, in das ein schlichtes Muster eingekerbt war. Albin staunte.
„Du trägst die Uniform der Wölfe?“
Jessy richtete sich auf und sah an sich hinunter. „Nur die Farben, nicht das Wappen. Ich glaube, Rheys wollte mir bloß den Rücken stärken. Mir zeigen, dass die Wölfe hinter mir stehen. Viele in der Burg glauben, es wäre unpassend und unnötig, was ich tue.“
Albin nickte. Er hatte schon bemerkt, dass die Hofdamen Jessy das Leben schwer machten.
„Du siehst jedenfalls sehr respekteinflößend aus“, meinte er und wies auf das schlanke Schwert, das an ihrer Seite hing. Zärtlich strich sie über den silbernen Knauf, der wie eine sich öffnende Knospe geformt war. Sie liebte diese Waffe, nicht nur, weil Rheys sie ihr geschenkt hatte. Sondern weil sie ein Teil ihres Körpers war.
„Ich hoffe, dass ich es nicht brauchen werde. Am besten niemals.“ Sie seufzte. „Alle lieben Amileehna. Niemand wird ihr Schaden zufügen wollen. Es wird bestimmt nichts passieren.“
„Ich könnte mir vorstellen, dass Rheys diese Denkweise nicht gutheißen würde…“, meinte Albin. „Jedenfalls ist das mit der Kleidung eine nette Geste.“
„Das ist wohl das Mindeste dafür, dass ich sein Bett wärme.“
Albin stieg wieder die Röte ins Gesicht. Gleichzeitig wunderte er sich. Klang da eine Spur von Bitterkeit in ihren Worten mit? Eigentlich sprach sie niemals über ihre Beziehung zu Rheys und bisher hatte er immer den Eindruck gehabt, dass die beiden sich sehr gern hatten. Doch dieses Thema behagte ihm ebenso wenig wie ihre forschenden Fragen nach seinem Gemütszustand. Jessy kicherte leise und strich ihm über das rote Haar.
„Schon gut, entschuldige. Was machst du da?“
Sie wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu. Erleichtert begann Albin zu erzählen.
„Ich möchte gerne alle Details der verschiedenen Gegenstände festhalten, die wir gefunden haben. Hier und in den anderen Ländern. Ich beschreibe auch die Orte und Umstände, wie wir sie gefunden haben.“
Gerade wollte er ihr weitere Seiten seines Buches zeigen, als er merkte, wie sich ihr Körper versteifte. Auf der anderen Seite des Arbeitstisches stand auf einem Hocker eine kleine Truhe mit geöffnetem Deckel. Er hatte sich die Kiste bringen lassen und ihren Inhalt sorgsam katalogisiert. Dass sie noch dort stand, hatte er völlig vergessen. Jessy ging langsam hinüber und schaute hinein.
„Meine Güte“, murmelte sie. Plötzlich schien sie in Gedanken sehr weit entfernt zu sein. „Das habe ich schon solange nicht mehr gesehen.“
Sie griff hinein und hob eine grüne verbeulte Flasche aus einem eigenartigen Material heraus, das halb fest und halb weich war und sich nicht zerstören ließ. Jessy nannte es Plastik. Nun hielt sie das Ding ohne Scheu in den Händen und strich über die Beschriftung und das Flammensymbol - Hinweise, die für Albin unleserlich waren. Nur Jessy hatte gewusst, was all die Dinge zu bedeuten hatten. Sie roch an dem Flaschenhals und rümpfte die Nase. Dann lächelte sie.
„Morian hätte damit fast die Burg angezündet“, sagte sie leise. „Erinnerst du dich?“
„Ja. Du bist im Kerker gelandet, weil du ihn geschützt hast.“
Jessy nahm jeden einzelnen Gegenstand aus der Truhe, betrachtete und befühlte ihn und Albin störte sie nicht dabei. Er sah Tränen in ihren Augen glitzern, aber sie weinte nicht.
„Eins verstehe ich immer noch nicht“, murmelte sie schließlich. „Warum konnte nicht eine verdammte Kaffeemaschine hier landen?“
Sie lächelte und Albin erwiderte das Lächeln, obwohl ihre Stimmung ihn beunruhigte.
„Was ist nur so besonders an diesem Getränk?“ fragte er. „Wirst du mir das jemals erklären können?“
„Eigentlich gar nichts. Es tut der Seele gut, glaube ich.“
„Was fehlt dir noch? Ich würde so gerne mehr über deine Welt hören. Aber ich will dein Heimweh nicht verstärken“, platzte er heraus.
„Vielleicht tut es ganz gut, darüber zu sprechen“, meinte Jessy. „Mal sehen. Ich vermisse natürlich Grundlegendes wie fließendes Wasser, Strom, eine anständige medizinische Versorgung. Schlimmer sind aber die vielen kleinen Dinge. Mein Bett, meine Kleider. Mein Föhn, mein Gott, wie sehr ich den vermisse. Die Möglichkeit mit jedem Menschen zu sprechen, wann immer ich es will.“
Sie stockte. Die Erinnerung an ihre Familie war natürlich ein wunder Punkt. Schon schalt er sich dafür, dass er sie auf den Gedanken gebracht hatte.
„Aber es gibt auch viele Sachen, die ich nicht vermisse. Den Lärm, die schlechte Luft. Die Hektik. Alles in meiner Welt muss schnell gehen und alle bemühen sich darum, möglichst viel gleichzeitig zu schaffen. Jede neue Erfindung versucht, das Leben zu vereinfachen, damit man mehr in weniger Zeit erledigen kann. Aber am Ende bleibt gar keine Zeit übrig. Verrückt, oder?“
„Klingt ziemlich verrückt, wenn du mich fragst“, meinte Albin. „Was ist mit diesen Maschinen, die einen schnell von Ort zu Ort bringen?“
Jessy winkte ab. „Das Reiten ist so viel schöner und gesünder. Dann dauert es eben etwas länger, bis man ankommt.“
„Also ich würde eine schnelle Reise vorziehen, wenn ich noch einmal nach Südland oder Ostland gehen müsste.“
„Tja, dann musst du einen freundlichen Magier finden, der dir weiterhilft. Ich kann leider kein Auto bauen. Und du willst doch nicht verreisen, oder? Gerade jetzt braucht Amileehna dich hier.“
„Natürlich gehe ich nirgendwo hin. Aber die Welt ist groß. Du weißt das selbst am besten. Es gibt unzählige Orte, an die man gehen kann. Und irgendwann wird Amileehna mit anderen Dingen beschäftigt sein.“
„Du meinst, mit ihrem Ehemann?“
„Deine Art, die schmerzhafte Wahrheit auszusprechen, ist wirklich nicht besonders rücksichtsvoll“, sagte er niedergeschlagen. „Aber ja, genau das habe ich gemeint.“
„Ach Albin.“ Jessy legte ihm den Arm um die Schulter und drückte ihn fest. Sie war der einzige Mensch, der ihn jemals berührte und erst seit sie hier war, hatte er gelernt, wie tröstlich eine Umarmung sein konnte. Vorher hatte es so etwas in seinem Leben nicht gegeben.
„An diesen Ehemann glaube ich erst, wenn ich ihn vor mir sehe. Die kleine Prinzessin wird uns wieder mal alle überraschen.“
Albin wünschte, er hätte ebenso optimistisch sein können. Aber er ahnte auch, dass er niemals fortgehen würde, solange er Amileehna weiterhin sehen und ab und zu mit ihr sprechen konnte.