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Kapitel 3

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Wenn man das Haupttor der Eisenfaust durchschritt, gelangte man auf eine breite gepflasterte Straße, die den Burgberg hinab nach Ovesta führte. Das Tor war den ganzen Tag geöffnet, denn König Bairtlímead wollte sich von seinem Volk nicht abschotten und zeigen, dass jeder Bürger in der Burg willkommen war. Am späten Nachmittag jedoch wurden die schweren Holzflügel geschlossen und für die Nacht verriegelt. Als Jessy sich im Laufschritt dem Tor näherte, sah sie, dass Rheys mit einem Mann von der Palastwache sprach. Sie war also gerade noch rechtzeitig gekommen. Raba erhob sich und kam schwanzwedelnd auf sie zu. Jessy streichelte das borstige Fell des großen Hundes. Rheys blickte ihr entgegen ohne sein Gespräch zu beenden. Er trug nie etwas anderes als die Uniform der Wolfsgarde, schwarze Hosen, graues Hemd, lederner Brustharnisch. Sie konnte ihn sich gar nicht anders vorstellen. Nur das eindrucksvolle große Schwert mit dem silbernen Knauf in Form eines Wolfskopfes hatte er nicht bei sich, wenn er mit ihr allein unterwegs war. Seine Kleidung und die Begleitung der großen Hündin reichten aus, um allen Respekt einzuflößen, die ihnen begegneten.

Du kommst spät“, sagte er.

Sie durchquerten das Tor und hinter ihnen schlossen sich die Türen mit lautem Knarzen. Die Eisenfaust zu verlassen und durch die Straßen Ovestas zu wandern hatte etwas Befreiendes. Hier gab es so viele Menschen. Niemand beachtete sie. In Gedanken bezeichnete Jessy die Abende mit Rheys in der Stadt immer als „Date“. Er betonte allerdings stets, dass es keinen romantischen Hintergrund hatte, was sie taten.

Du musst dich in Ovesta auskennen und wissen, wo die sicheren und die gefährlichen Orte sind“, erklärte er. „Du musst die Stimmung der Menschen kennenlernen, denn sie kann in manchen Situationen ausschlaggebend sein. Nichts kann einen so schnell in Bedrängnis bringen wie eine wütende Menschenmenge.“

Er führte sie also durch die Gassen und zeigte ihr jedes Viertel und Jessy genoss es, in diese Welt einzutauchen. Anfangs fühlte sie sich wie in der Kulisse eines historischen Films, doch das änderte sich schnell. Denn es gab echte Bettler, echte Ratten und echte Beutelschneider. Aus den unzähligen Tavernen drangen Musik, Gelächter und schlechte Gerüche und an manchen Straßenecken häuften sich Abfall und Pferdedung. Andernorts spazierten die Reichen in herrlichen Kleidern zwischen den herrschaftlichen Häusern von Edelleuten und Händlern umher und aus den Gärten drang der Duft blühender Sträucher. Am Hafen sah Jessy Seemänner, die mit stark geschminkten Huren flirteten und hörte das stete Gluckern des Flusses an den Landungsstegen. Die Stadt war laut und lebendig, manche Ecken waren verwahrlost und schmutzig, andere zauberhaft schön. Je öfter Jessy hierher kam, die Menschen reden hörte und die Atmosphäre spürte, desto mehr liebte sie Ovesta.

Und sie liebte es, mit Rheys unterwegs zu sein. Natürlich schlenderte er nicht herum und hörte auch niemals auf, die Umgebung genau zu beobachten. Aber sie hatte trotzdem den Eindruck, dass auch er gerne mit ihr hier war. Die Sonne stand schräg und die weiß getünchten Wände der schönen Fachwerkhäuser leuchteten in Rot- und Orangetönen.

Dort vorne findet der Gerichtstag statt“, erklärte Rheys. Sie befanden sich auf einem gepflegten, kreisrunden Platz. Die Türen der umstehenden Häuser waren geöffnet und einige Frauen unterhielten sich und genossen die ruhigen Stunden. Kinder spielten Fangen und ein Ochsenkarren rumpelte vorbei und verlor aus einem zerrissenen Sack die Hälfte seiner Ladung - verschrumpelte kleine Äpfel - auf die sich die Kinder sofort stürzten. In der Mitte des Platzes stand ein sehr großer Baum mit weit ausladenden Ästen, die nun schwer waren von saftigen jungen Blättern und weißen Blüten. Um den dicken Stamm war eine hölzerne Bank errichtet worden. Der Baum wirkte wie ein friedlicher Wächter über die Bewohner dieser Häuser.

Wer lebt hier?“ fragte Jessy neugierig. Die entspannte Stimmung war herrlich einladend.

Reiche Handwerker und auch ein paar Generäle mit ihren Familien“, antwortete Rheys. „Es ist eine gute Gegend.“

Jessy setzte sich ohne zu zögern auf die Bank und auch Raba ließ sich nieder um auszuruhen. Rheys blieb stehen und verschränkte die Arme. Jessy kicherte.

Warum fällt es dir eigentlich so schwer, Pausen zu machen? Ich glaube, ich habe noch nie gesehen, dass du dich irgendwo anlehnst.“

Er zuckte die Schultern. „Ich will weiter, das ist alles. Ich möchte dir noch mehr zeigen.“

Aber es ist schön hier“, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus. „Komm, setz dich doch nur einen Moment hin.“

Widerstrebend setzte er sich und seine innere Unruhe bei dieser Zeitverschwendung war so deutlich spürbar, dass Jessy seufzte. Aber sie nahm es ihm nicht übel, denn genau so kannte sie ihn. Ein wenig ähnelte er darin ihrem Pferd. Wenn sie im Sattel saß, spürte sie die mühsam kontrollierte Kraft des Tieres und zu gerne wollte sie es einfach los galoppieren und sich von dieser Kraft tragen lassen. Auch Rheys hatte sie mit seiner Stärke weiter getragen, als sie geglaubt hatte, in den eisigen Bergen des Nordlandes zu erfrieren.

Also gut, gehen wir“, sagte sie schließlich und stand auf. „Sei froh, dass du nicht mit mir in Straßencafés sitzen musst.“

Was ist das nun wieder?“ fragte er.

Ein schöner Ort, wo man sich entspannt. Nichts für dich“, spottete sie.

Rheys legte den Arm um ihre Schulter und zog sie ein wenig grob an sich.

Ich möchte überall mit dir sitzen, das weißt du doch“, brummte er. „Nur nicht zu lange.“

Jessy lächelte in sich hinein, als ihr plötzlich etwas ins Auge fiel. Auf der anderen Seite des Platzes gab es einen kleinen Schrein. Es war ein Standbild, aus einem rohen Holzstamm geschnitzt, das das Gesicht eines jungen Mannes zeigte. Kein Kunstwerk, sondern einfache Schnitzarbeit, doch jeder wusste, wen die Abbildung darstellen sollte.

Warte einen Moment“, sagte Jessy und kehrte zu dem schönen Baum zurück. Sie stieg auf die Bank und pflückte eine der weißen Blüten ab. Zaghaft legte sie sie auf das Pflaster vor dem Standbild. Dort lagen unzählige weitere Blumen und Kerzenstummel klebten auf dem Stein. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrer Kehle gebildet. Sie strich mit dem Finger über die grob geschliffene Fläche und spürte die Wärme des Holzes. Doch der Stamm war tot, genauso wie der Mann.

Überall in Ovesta hatten die Menschen diese Bilder von Tychon errichtet. Es waren Mahnmale, die an seine Tapferkeit erinnern sollten. Und an die Gefahr, in der das ganze Land geschwebt hatte. Die Menschen sangen Lieder über ihn und über ihren Kampf gegen Skarphedinn. Er war zu einer Legende geworden, der schöne Königssohn, der sterben musste, bevor er den Thron besteigen konnte.

Jessy hob den Blick und sah, dass Rheys’ Miene sich verdüstert hatte. Seine Lippen waren zusammen gepresst und seine Kiefermuskeln arbeiteten. Tychon war nicht nur wie ein kleiner Bruder für ihn gewesen. Nach seinem Tod hatte Rheys derart an sich und seinen Fähigkeiten gezweifelt, dass er sein Amt in der Leibgarde beinahe aufgegeben hätte. Tychon zu beschützen war sein Lebenssinn gewesen und darin hatte er versagt. Dies und seine tiefe Trauer machten ihm noch immer schwer zu schaffen. Aber Jessy wusste, es machte keinen Sinn, ihm tröstende Worte zu sagen. Also schob sie stumm ihre Hand in seine und spürte, dass er ihre Finger fest drückte.

Lass uns gehen“, sagte sie leise und zog ihn fort.

Rheys kannte die Stadt in- und auswendig und führte Jessy oft auf so verschlungenen Wegen durch das Gassengewirr, dass sie völlig die Orientierung verlor. Nun jedoch erkannte sie schnell, dass er sie zur Hauptstraße führte, die Ovesta wie eine Schlucht durchschnitt. Dort herrschte immer Gewimmel, egal zu welcher Tageszeit. Jetzt schlossen die Marktstände und die Händler räumten ihre Waren ein, während die Tavernen ihre Türen öffneten. Sie befanden sich am unteren Ende der ansteigenden Straße und sahen die Eisenfaust herrschaftlich über der Stadt thronen. Die ganze Stadt lag zwischen ihnen und der Burg und auf dieser Straße würde Amileehna sie auch durchqueren. In der nächsten Woche begannen die Feierlichkeiten zu ihrem Geburtstag und wenn alle Gäste versammelt waren, würde es einen großen Festzug geben. An vielen Ecken in Ovesta bereitete man sich schon darauf vor. Überall wurden Gerüste für Girlanden errichtet und man konnte bereits unzählige Fahnen und Wimpel an den Fenstern und Balkonen der Häuser sehen. Die Stadt freute sich auf das Fest, denn es bedeutete ausschweifende Genüsse, die allesamt vom König selbst spendiert wurden. In den Straßen würden Wein und Bier ausgeschenkt werden und die königlichen Ställe stellten über fünfzig Schweine zur Verfügung, die am Spieß braten sollten, während das Volk die Prinzessin feierte. Der Geburtstag selbst sollte ein Feiertag sein, an dem die Arbeit ruhte und es überall in der Stadt Musik und Tanz gab. All das diente nicht nur dazu, die Westländer milde zu stimmen und auf ihre zukünftige Herrscherin einzuschwören. Amileehna sollte auch den versammelten Edelleuten vorgestellt werden, die aus allen Landesteilen kamen. Endlich würde sich jeder ein Urteil bilden können. Und damit auch das Volk sie zu sehen bekam, sollte sie durch die Straßen reiten und sich präsentieren. Nicht nur für Amileehna war das alles eine Bewährungsprobe, die sie um den Schlaf brachte. Jessy sollte zum ersten Mal als ihre Leibwächterin auftreten und nicht von ihrer Seite weichen. Einerseits fühlte sie sich bereit dafür, andererseits war sie schrecklich aufgeregt und hatte Angst, Fehler zu machen. Die Wölfe hatten sie jedoch gewissenhaft geschult und sämtliche Szenarien mit ihr durchgespielt, vom Messerangriff bis zum pöbelnden Trunkenbold - Jessy würde die Prinzessin verteidigen können. Dessen waren sich alle sicher und das bestärkte auch sie selbst. Doch dieser Ritt durch die Stadt war Rheys ein Dorn im Auge und er brachte sie ein ums andere Mal hierher und ging mit ihr die Straße auf und ab. Sie sollte jeden Meter des Weges genau kennen und die gefährlichen Stellen rechtzeitig abschätzen, wenn sie daran vorbei kamen.

Nun erreichten sie einen Abschnitt, wo zu beiden Seiten der Straße mehrstöckige Häuser standen. Die Fenster waren um diese Zeit noch dunkel, aber bald würden sie hell und freundlich erleuchtet sein. Für Rheys blieben es jedoch die Todesfallen.

Ein einzelner Pfeil genügt, das weißt du“, sagte er. „Wie viele Fenster sind es?“

Jessy hatte mit dieser Frage gerechnet. „Links vier auf jedem Stockwerk und beim nächsten Haus zwei. Rechts drei und vier.“

Sie spürte Rheys prüfenden Blick. „Und eine Dachluke“, fügte sie hinzu. Er nickte zufrieden.

Wie viele sind das insgesamt?“

Genau vierzig.“

Richtig. Ich will, dass du jedes Fenster anschaust, jedes einzelne. Dein Blick soll nicht darüber hinweg schweifen. Schau hinein. Es werden Menschen heraus sehen und winken, das wird dich ablenken. Aber umso auffälliger wird es sein, wenn nur eine einzelne Person dort steht.“

Ich weiß, Rheys“, sagte sie ein wenig spitz. „Du erklärst es mir zum hundertsten Mal.“

Sie schaute über die Häuserfronten hinweg und ganz plötzlich schossen ihr Bilder von der Kennedy-Ermordung durch den Kopf, die sie schon so oft im Fernsehen gesehen hatte. Ihr wurde ein wenig übel, wie immer, wenn sie so ganz plötzlich in ihre eigene Welt zurück gerissen wurde. Manchmal lösten Kleinigkeiten eine Erinnerung in ihr aus, die ihr dann mit voller Wucht aufzeigte, wie falsch und verrückt das alles war, was sie hier tat. Ihr wurde schwindelig und sie verlor für einige Momente den Bezug zur Wirklichkeit. War das alles wirklich echt oder träumte sie? Rheys spürte ihre Unsicherheit und selbst der starke Griff seiner Hand an ihrem Arm konnte die Benommenheit nicht auslöschen. Er zog sie an den Straßenrand, wo Jessy sich gegen die Hausmauer lehnte. Er runzelte die Stirn.

Du kannst das, Jessy. Hör auf, daran zu zweifeln.“

Sie nickte. „Schon in Ordnung. Es ist nicht so, dass ich es mir nicht zutraue. Ich werde die Fenster zählen und ich werde alles so machen, wie ihr es mir beigebracht habt. Aber manchmal habe ich Angst, dass mich meine Nerven im Stich lassen. Bei euch ist das anders. Euch bringt nichts aus der Ruhe.“

Wenn es soweit ist, wirst du die Nervosität ablegen“, meinte er. Jessy konnte daran noch nicht ganz glauben..

Und da ist noch etwas“, sagte sie. „Was, wenn ich die Gefahr nicht gleich erkenne? Wenn ich sie nicht spüre? Ich glaube nicht, dass man das lernen kann.“

Gut, dass du es ansprichst“, sagte Rheys und sein Gesicht wurde von dem seltenen Lächeln erhellt, das seine Augen so verführerisch aufleuchten ließ. „Ich hoffe, du bist nicht zu müde. Wir gehen in den Keller.“


Jessy schluckte mühsam gegen die Trockenheit in ihrer Kehle an. Obwohl die Luft kalt und feucht war, schwitzte sie und umfasste den hölzernen Griff ihrer Waffe fester. Ihr eigener Atem klang überlaut in ihren Ohren. Die Dunkelheit um sie herum war erdrückend. Sie wusste, dass sie in einem weiten Gewölbe stand und dass die Decken hoch waren. Und doch fühlte sie sich wie in einer winzigen Kammer eingesperrt. Das lag nur daran, dass sie überhaupt nichts sehen konnte. Rheys hatte die Fackel gelöscht, für einen Moment hatten Lichtpunkte vor ihren Augen getanzt und nun war sie völlig blind. Rheys hatte die Tür hinter sich geschlossen, aber sie war nicht allein.

Warte einen Augenblick“, sagte Rojan leise. „Du wirst gleich etwas sehen.“

Seine ruhige Stimme nahm ihr etwas von ihrer Aufregung, sie wirkte beinahe hypnotisch. Wie ein Rettungsanker im Nichts. Also wartete sie und tatsächlich schälten sich Umrisse aus der Dunkelheit. Sie konnte zumindest erahnen, wo die Stützpfeiler waren.

Sag mir, was du siehst“, sagte Rojan. Sie war sich völlig sicher, dass er im Dunkeln sehen konnte wie eine Eule und deshalb war er auch genau der Richtige für diese Aufgabe. Hier unten wollte Rheys sie „ihre Instinkte spüren lassen“, wie er es nannte. Die leer stehenden Kellergewölbe unter der Eisenfaust eigneten sich perfekt, denn sie lagen tief unter der Erde und keine Geräusche oder Gerüche drangen bis hierher.

Die Steine glänzen ein wenig. Ich sehe die Pfeiler.“

Geh darauf zu. Du weißt, dass der Boden sicher ist. Keine Abgründe. Du kannst einfach losgehen.“ Jessy überwand ihren inneren Widerstand und machte ein paar zögerliche Schritte.

Spürst du, wo ich bin?“

In dem Gewölbe hallte Rojans Stimme wider, so dass es unmöglich war, daran zu erkennen, wo er stand. Doch Jessy war sich sicher, dass er rechts hinter ihr sein musste. Von dort ging etwas aus, eine Wärme oder eher eine Art Lebendigkeit, die sie auf der Haut fühlen konnte. Sie ging einen Schritt in diese Richtung und streckte die Hand aus. Ihre Finger berührten seinen Arm.

Gut. Jetzt finde die Pfeiler.“

Sie sind anders“, murmelte Jessy und ganz plötzlich wurden ihre Augen überflüssig. Sie konnte sich den Raum vorstellen. „Kalt und hart.“ Zielstrebig ging sie in eine andere Richtung und legte ihre Hand auf den festen Stein. Die Dunkelheit verlor ihre Bedrohlichkeit und Jessy wusste, dass sie sich frei bewegen konnte, ohne zu stolpern oder gegen die Wand zu laufen.

Gut“, wiederholte Rojan. „Dann fangen wir an. Talis!“

Jessy schluckte und hob ihre Waffe hoch. Es war nur ein Stock, aber sie hatte gelernt, jemanden damit kampfunfähig zu machen. Das hier war jedoch etwas völlig Neues. Sie spürte, wie Rojan an die Wand zurück wich um nicht im Weg zu sein und wurde ganz still. Talis würde sich bewegen und das verursachte Geräusche. Sie stellte sich so, dass eine Säule ihren Rücken schützte und lauschte. Sie hörte ein Rascheln, konnte es aber nicht orten und noch bevor sie wusste, was geschah, spürte sie einen Luftzug auf dem Gesicht. Ihre Reflexe funktionierten und sie riss den Arm hoch. Holz traf auf Holz und verursachte ein lautes Scheppern. Talis war so nah, dass sie ihn sogar riechen konnte. Sein nächster Schlag traf ihren Oberschenkel und sie stolperte aus ihrer Deckung heraus mitten in den Raum hinein. Er umrundete sie und traf sie erneut am Bein, doch obwohl es schmerzte, wusste Jessy nun, wo er war und fuhr herum. Ihr Hieb ging nicht ins Leere und sie hörte, wie Talis erstickt keuchte. Sie kannte das Geräusch eines Holzstocks auf einem ledernen Brustharnisch, also hatte sie seinen Oberkörper getroffen. Noch einmal schwang sie ihre Waffe, diesmal tiefer und hörte Talis’ Stiefel über den Boden schlittern, als er auswich. Jessy war so völlig auf ihren Gegner konzentriert, dass sie der Schubs von hinten zunächst völlig verwirrte. Das Bild, das ihr Geist in der Dunkelheit gezeichnet hatte, verschwamm und die Blindheit traf sie wieder mit voller Wucht. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Ihr nächster Hieb ging ins Leere und sie versuchte krampfhaft, den zweiten Gegner auszumachen, aber es gelang ihr nicht mehr. Deckung, Deckung, hallte es in ihrem Kopf wieder. Geh in Deckung. So hatte sie es gelernt. Mach dich unsichtbar. Schnell fand sie den nächsten Pfeiler und ließ sich in die Hocke sinken. Obwohl ihr Puls raste, gelang es ihr, den hektischen Atem zu beruhigen. Es wurde völlig still. Die beiden Angreifer suchten nach ihr. Sie sind auch blind, rief Jessy sich ins Gedächtnis. Sie war nur leicht aufzuspüren, weil sie unvorsichtig war. Doch nun hatte sie kostbare Sekunden um sich zu sammeln. Angespannt wartete sie und erst, als sie ganz sicher war, dass jemand links neben ihr war, ließ sie den Stab hochschnellen. Talis stolperte darüber, wie sie es geplant hatte und brauchte einen Moment um sich zu fangen. Doch das genüge Jessy, um hochzuspringen. Sie wollte sich auf ihn stürzen, da spürte sie hartes Holz vor ihrem Bauch. Es war kein Schlag, doch dass der Stab sie dort berührte, war genug um den Kampf zu beenden. Ein Schwert hätte sie auf der Stelle getötet.

Eine Fackel flammte auf und Jessy blinzelte ins Licht. Talis hockte vor ihr auf dem Boden und grinste. Rojan hielt die Fackel in die Höhe und kam auf sie zu. Rheys stand neben ihr und ließ seine Waffe sinken, mit der er ihr den vermeintlichen Todesstoß versetzt hatte.

Jessy war außer Atem.

Das war unfair! Ihr habt gesagt, es wäre nur Talis, gegen den ich kämpfen muss. Mit zwei Gegnern habe ich nicht gerechnet!“

Sei still, du hast es gut gemacht“, sagte Talis grob und stand auf. Er war meistens sparsam mit Lob, doch Jessy war zu ärgerlich um sich jetzt darüber zu freuen.

Sollen wir es nochmal versuchen?“ fragte sie.

Nein“, antwortete Rheys. „Man darf es nicht zu oft machen, sonst gewöhnt man sich daran. Es soll ja eine Herausforderung sein. Es war gut, dass du in Deckung gegangen bist. Die richtige Entscheidung.“

Ich habe gar nicht darüber nachgedacht“, murmelte Jessy und wunderte sich über sich selbst.

Genau“, sagte Rheys. „Und was zeigt dir das?“

Dass ich eine gute Schülerin bin?“

Er grinste schief. „Gute Schüler gibt es viele. Aber dir ist es in Fleisch und Blut übergegangen, was wir dir beigebracht haben. Du wirst die Gefahr erkennen, wenn sie da ist.“

Jessy atmete tief durch. Jetzt, wo das Adrenalin aus ihren Adern wich, fühlte sie sich sehr müde.

Gehen wir in die Halle“, brummte Talis, jetzt wieder griesgrämig wie eh und je. „Dieses Herumstochern im Dunkeln macht mich immer durstig.“


Jessy ließ ihre Fingerspitzen über den herrlichen cremefarbenen Stoff wandern, der vor ihr ausgebreitet war. Sie betrachtete die feine Stickerei aus Silber- und Goldfäden, die das Mieder schmückte, die weichen Seidenbänder, die hauchdünnen Rüschen an Ausschnitt und Ärmeln. Es war ein wunderschönes Kleid. Sebel sah das genauso. Die Zofe war völlig außer sich vor Begeisterung.

Es ist perfekt“, schwärmte sie. „Du musst es anprobieren, damit wir es noch rechtzeitig ändern können.“

Jessy blickte an sich hinunter. Ihr Hemd war schmutzig und ihre Fingernägel schwarz gerändert.

Ich bin dreckig, ich werde es verderben.“

Sebel nickte und hob das kostbare Kleid von Jessys Bett auf, um es ordentlich aufzuhängen.

Dann eben später. Aber die Schneiderinnen haben alle Hände voll zu tun“, meinte sie. „Jede Dame am Hof lässt sich neu einkleiden.“

Kannst du es nicht ändern?“ fragte Jessy und begann in der kleinen Waschschüssel, die auf ihrer Kommode stand, ihre Hände zu schrubben. Die Seife duftete nach Rosen und Lavendel und hinterließ ein weiches Gefühl auf ihrer Haut.

Große Mutter, ich würde es nie wagen, Hand an so ein Kleid zu legen“, sagte Sebel und bewunderte das gute Stück weiterhin. Jessy hatte die Auswahl ihrer Garderobe vollständig in die Hände ihrer Freundin gelegt. Es widerstrebte ihr, sich von Sebel bedienen zu lassen, obwohl das offiziell ihre Pflicht war. Die Aufgabe, Jessys Kleiderschrank für das große Fest zu bestücken, kam Sebel daher sehr gelegen. Normalerweise kümmerte sie sich um die Wäsche und half Jessy, ihre Haare aufzustecken, wenn es nötig war. Sie räumte Jessys Zimmer auf, sorgte für frisches Wasser zum Waschen und zündete Feuer an. Wie ein guter Geist kam und ging sie, ohne das Jessy es recht bemerkte.

Ich werde noch Bänder für dein Haar beschaffen“, sagte sie gedankenverloren. „Und eine schöne Kette. Meinst du, die Prinzessin leiht dir etwas von ihren Juwelen?“

Das würde sie sicher“, antwortete Jessy. Zwar konnte sie sich nicht recht mit dem Gedanken anfreunden, ihre Aufgaben als Leibwächterin in einem bodenlangen Kleid erfüllen zu müssen. Trotzdem freute sie sich darauf, sich in Schale zu werfen. „Aber ich habe eine Kette, die ich tragen werde.“

Sie schaute unwillkürlich in den kleinen Spiegel auf ihrem Waschtisch. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass die alte Gauklerin ihr das Amulett geschenkt hatte. Seitdem trug sie den runden Anhänger mit dem leuchtend roten Stein in der Mitte Tag und Nacht. Sie war der festen Überzeugung, dass er sie beschützte - ganz so, wie es die Frau prophezeit hatte, die ihn ihr schenkte - und würde ihn nicht für ein paar Juwelen ablegen.

Wenigstens Ohrringe“, fuhr Sebel fort. „Frag die Prinzessin, wenn du zu ihr gehst, ja?“

Jessy befeuchtete einen Waschlappen und reinigte ihr Gesicht und ihren Hals von Staub und Schweiß. Sie hatte vor, Amileehna gleich jetzt zu besuchen und der angewiderte Blick der Königin, den sie beim letzten Mal hatte ertragen müssen, war ihr noch deutlich in Erinnerung. Heute wollte sie keine Angriffsfläche bieten. Zumindest ihr Äußeres konnte sie anpassen. Amileehna war aufgeregt genug wegen des ganzen Spektakels. Noch mehr Ärger konnte sie nicht gebrauchen.

Ich werde schon anfangen, dir ein paar Sachen einzupacken“, sagte Sebel nun und betrachtete prüfend die Stapel sauberer Hemden in Jessys Schrank. „Wirst du morgen umziehen oder übermorgen?“

Amileehna hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass Jessy während der Festwoche in ihren Gemächern wohnen sollte. Jessy freute sich darauf, so konnte sie endlich wieder einmal mehr Zeit mit ihr verbringen. Und für Amileehnas Sicherheit wäre dann auch bestens gesorgt.

Das werde ich jetzt herausfinden“, antwortete Jessy.

Der Palast summte wie ein Bienenstock. Die Aufregung der Höflinge stand der ihrer Prinzessin in nichts nach, vor allem die Damen hatten kein anderes Gesprächsthema mehr. Es waren mehr Menschen als sonst in den Vorräumen der Prinzessin und Jessy hatte schon Angst, dass man sie nicht durchlassen würde. Zum Glück hatte sie sich spontan entschieden, ein Kleid anzuziehen und fiel nun nicht sofort auf. Direkt vor Amileehnas Tür stand Dennit. Eine der ersten Sicherheitsmaßnahmen, die Rheys angeordnet hatte. Eigentlich war es nicht üblich, dass ein Mann der Königsgarde vor dem Schlafzimmer der Prinzessin postiert war. Aber wahrscheinlich benötigte sie im Augenblick ein besonders scharfes Schwert und den bedrohlichen Gesichtsausdruck eines Wolfes um sich von den vielen Leuten abzuschotten.

Ist sie allein?“ fragte Jessy leise. Dennit nickte und öffnete die Tür für sie.

Amileehna sprang von ihrem Stuhl auf, als sie Jessy sah. Noch bevor sie ein Wort miteinander sprechen konnten, ertönte draußen der energische Schritt der Königin. Jessy wappnete sich und Sekunden später stand Sílean, hoch aufgerichtet wie eine schlanke Tanne, im Raum. Jessy verneigte sich höflich.

Meine Liebe“, sagte die Königin ohne Jessy anzusehen. „Bitte sorg dafür, dass eine Zofe den Nebenraum angemessen herrichtet. Frau Dhanea wird in deiner Nähe wohnen, während…“

Nein“, sagte Amileehna schnell. Die Königin hielt überrascht über diesen prompten Widerspruch inne. „Wir haben das besprochen. Jessy wird hier bei mir wohnen. Sie ist meine Leibwächterin.“

Ich sagte bereits“, zischte die Königin, „dass ich von dieser Idee nichts halte. Vielmehr habe ich es ganz deutlich untersagt!“

Bei allem Respekt, Herrin“, sagte Jessy ruhig. „Ich habe auch mit Althan darüber gesprochen. Er hält es für notwendig, dass ich immer in der Nähe der Prinzessin bin.“

Sie sprach bewusst vom alten Anführer der Königsgarde und nicht von Rheys, der in Zukunft diese Rolle innehaben würde. Sie wollte die Königin nicht unnötig provozieren.

Das entscheidet nicht Althan“, fuhr diese sie an. Erste rote Flecken bildeten sich in ihrem Ausschnitt.

Das stimmt“, sagte Amileehna kühl. „Ich entscheide es. Jessy wird hier wohnen. Ich lasse bereits ihr Gepäck herüberbringen.“

Jessy blickte ihre Freundin mit leiser Verwunderung von der Seite an. Noch nie hatte sie erlebt, dass Ami sich so offen und vor allem so ruhig ihrer Mutter widersetzte. Auch die Königin schien überrascht, was sich darin äußerte, dass sie noch mehr rote Flecken bekam.

Das muss ein Ende haben, Amileehna“, flüsterte sie bedrohlich. „Ich dulde nicht, dass du diese Frau den edelsten Damen des Landes vorziehst. Es ziemt sich nicht.“

Jessy beschützt mich“, antwortete Amileehna.

Das ist doch nur ein Vorwand, den ihr euch ausgedacht habt. Eine Frau? Lächerlich!“ Síleans Augen blitzten böse.

Und sie hat mehr für dieses Land getan als alle feinen Damen da draußen zusammen.“

Die Röte stieg in die hageren Wangen der Königin und Jessy befürchtete, dass ihr Haar jeden Moment in Flammen aufgehen würde.

Du bist respektlos“, zischte sie ihrer Tochter zu. „Tychon würde…“

Ich weiß selbst, was Tychon getan hätte und was nicht“, antwortete Amileehna. Ihre Stimme zitterte leicht, aber es war Zorn und nicht Kummer, der darin mitschwang. „Ich kannte ihn viel besser als du. Und Jessy ebenfalls.“

Nun wandte sich die Königin endlich Jessy zu und durchbohrte sie mit ihren kalten Augen. Ein spöttisches Lächeln verzog ihre Lippen.

Das kann ich mir vorstellen. Sicher kannte sie ihn besser als die meisten.“ Sie ließ den Blick über Jessys Körper in dem figurbetonten Kleid wandern.

Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte Jessy und kniff die Augen zusammen.

Tu nicht so. Eine kleine Hure wie du. Sicher hast du ihn verführt, ansehnlich bist du ja.“

Mutter!“ schrie Amileehna.

Jessy hielt dem Blick der Königin stand, doch die Wut, die in ihre kochte, konnte sie nur mühevoll unterdrücken. Wenn sie dieser Frau jemals die Meinung sagte, waren ihre Tage in der Eisenfaust gezählt. Sílean kam langsam auf sie zu.

Habe ich nicht recht?“

Jessy presste die Lippen aufeinander. Sag nichts. Lass dich nicht auf ihre Stufe herab. Du wirst Amileehna nur schaden!

Nichts als eine Soldatenhure“, flüsterte die Königin.

Der Zorn trieb Jessy die Tränen in die Augen.

Ich möchte, dass du dieses Zimmer sofort verlässt.“

Amileehnas Stimme klang so fremd, dass sowohl Jessy als auch die Königin aufblickten. Die Prinzessin stand mitten in ihrem Zimmer und wirkte auf einmal größer und kräftiger als sonst. Ihr Blick war eiskalt und ihre Miene entschlossen.

Und du wirst es nicht mehr betreten, bis ich dich rufen lasse. Hast du mich verstanden, Mutter?“

Jessy starrte ihre Freundin an. Das war sie also, die Frau, die dieses Land regieren würde.

Die Königin wurde nun blass wie ein Leichentuch.

So sprichst du nicht mit mir“, drohte sie.

In ein paar Monaten werde ich deine Königin sein“, sagte Amileehna ruhig. „Ich spreche mit dir, wie ich es will.“

Ohne ein weiteres Wort drehte Sílean sich um und ging aus dem Zimmer.

Die eisige Atmosphäre im Raum veränderte sich nur langsam. Jessy ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und ihre Finger lösten sich nur zögerlich aus der verkrampften Haltung. Die Nägel hatten helle Halbmonde in ihren Handballen hinterlassen. So groß war die Anstrengung gewesen, ihre Gefühle zu unterdrücken.

Das hättest du nicht tun dürfen“, sagte sie kopfschüttelnd. „Jetzt kocht sie vor Zorn und wird dir alles noch schwerer machen.“

Amileehna war ganz ruhig. Ein seltsamer Glanz lag in ihren Augen. Triumph. „Ich konnte es nicht dulden, dass sie so mit dir spricht.“

Das darfst du nicht ernst nehmen“, sagte Jessy. „Sie wollte mich nur provozieren.“

Du konntest sie nicht zurecht weisen. Ich schon.“

Aber doch nicht wegen so einer Kleinigkeit! Das ist den Ärger doch nicht wert.“

Amileehna schaute sie neugierig an. „Ich finde nicht, dass es eine Kleinigkeit ist.“

Ist mir doch völlig egal, was sie denkt“, murmelte Jessy. „Oder was irgendjemand denkt. Du weißt, dass Tychon und ich Freunde waren und sonst nichts. Und das ich nicht…“

Hör auf damit“, sagte Amileehna und setzte sich neben Jessy auf den weichen Teppich. Sie nahm ihre Hände in ihre eigenen. „Natürlich weiß ich das. Lass uns jetzt nicht mehr davon sprechen bitte.“

Während Amileehna davon redete, wie sehr sie sich über Jessys Einzug freute, lagen Jessys Hände kalt und taub in ihrem Schoß. Auch ihr Gesicht fühlte sich taub an. Und in ihrer Brust war ein stechender Schmerz aufgetaucht, der mit jedem Schlag ihres Herzens intensiver wurde. Ein mühsam unterdrücktes Schluchzen nahm ihr den Atem. Sie verabschiedete sich schon nach kurzer Zeit und verließ schnell das Zimmer und den Palast. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, zu rennen. Ja, es war ihr egal, was die Menschen über sie dachten. Zumindest gab sie sich alle Mühe, es so zu sehen. Aber nun hatte die Königin es offen ausgesprochen, was sonst nur hinter Jessys Rücken gemunkelt wurde und was sie vorgab, nicht zu hören. Sie war so wütend auf diese dummen rückständigen Menschen und ihr Misstrauen. Sie war eine Fremde aus einer gefährlichen unbekannten Welt. Keiner hatte bis jetzt verstehen können, wie sie hierher gelangt war. In kürzester Zeit hatte sie das blinde Vertrauen beider Königskinder erlangt. Und wurde von den Männern der Wolfsgarde derart hoch geschätzt, dass sie beinahe als ein Teil davon gelten konnte. Wen wunderte es da, dass niemand sie mochte? Zumindest niemand aus der Oberschicht.

Erschöpft erreichte sie ihr Zimmer im Prinzenbau und schloss den Riegel hinter sich. Am Schrank hing das herrliche Kleid. Bestimmt würde sie großartig darin aussehen. Verkleidet als eine Hofdame, die sie niemals sein würde. Damit konnte sie leben. Aber was, wenn die Königin doch recht hatte? War ihre Beziehung zu Rheys wirklich mehr als nur eine Bettgeschichte? Oder hatten ihre romantischen Fantasien sich nur verselbstständigt und sie verschloss die Augen vor der Wahrheit - weil es so schön war? Unbewusst tastete sie nach dem Ring an ihrem Finger - wie so viele Male am Tag - um sicherzugehen, dass sie ihn nicht verloren hatte. Der Ring bedeutete doch irgendetwas oder nicht? Also Schluss damit. Diese böse, missgünstige Frau sollte keinen Zweifel in ihr sähen. Am besten dachte sie gar nicht mehr darüber nach. Aber es fiel ihr immer schwerer, sich gegen all die Feindseligkeiten abzuschotten. Jessy ärgerte sich über sich selbst. In ihrer eigenen Welt war sie niemals Opfer von Lästereien geworden. Solche Dinge prallten an ihr ab. Sie war selbstbewusst und wusste, wo sie im Leben stand. Doch hier war sie fremd und angreifbar und - trotz der vielen wertvollen Freundschaften - allein. Dabei war sie doch so viel stärker als früher. Nicht nur körperlich. Es war schwer, all die Veränderungen zu benennen. Konnte man wirklich zu einem anderen Menschen werden? Und wie viel von der alten Jessy war noch übrig? In jedem Fall musste sie sich ein dickeres Fell zulegen. Wenn Amileehna Königin war und sie an ihrer Seite stehen musste, durfte sie sich nicht von so etwas aus der Fassung bringen lassen.

Gerade hatte sie einen Becher Wein getrunken um ihre Nerven zu stärken, als es an der Tür klopfte. Ein Mädchen aus der Küche trat zögernd ein.

Kyra schickt mich“, sagte es. „Sie benötigt ein paar besondere Gewürze und in der Küche gibt es so viel zu tun, dass sie niemanden entbehren kann. Deshalb bittet sie Euch, in die Stadt zum Laden von Frau Tesuna zu gehen.“

Das mache ich gern“, sagte Jessy und war in der Tat froh über diese Ablenkung. „Ich kenne den Laden.“

Sie nahm Kyras Liste und eine kleine Börse mit Münzen entgegen und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Sie war noch nie allein in Ovesta unterwegs gewesen und hatte einen Dolch in ihre Rocktasche geschoben - nur zur Sicherheit. Doch der Laden von Frau Tesuna lag in einer guten Gegend und sie erreichte ihr Ziel, ohne behelligt zu werden.

Das Geschäft war klein und eingeklemmt zwischen einem Laden für Seife und Parfum und einer Bäckerei. Die verschiedenen Gerüche, die hier aufeinander prallten, verursachten ihr Übelkeit. Jessy stieß die kleine Tür auf und trat ins Halbdunkel. Die niedrigen Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Regalen bedeckt, auf denen hunderte Töpfe und Gläser in unterschiedlichen Größen standen. Alles war ordentlich beschriftet und Jessy verbrachte einen Moment damit, die verschiedenen Namen der Gewürze zu lesen. Dann hörte sie ein Rumoren und eine gebückte Gestalt kam aus den dunklen Innereien des Ladens hervor. Wenn es jemanden gab, der alle Klischees einer Kräuterhexe erfüllte, dann war es Frau Tesuna. Sie war alt und ihr Haar lang und steingrau. Trotz der unzähligen Runzeln in ihrem Gesicht waren ihre Augen wach und scharf. Sie stützte sich auf einen Stock und auf ihrer Schulter saß tatsächlich ein Rabe. Als Jessy das erste Mal mit Kyra hier gewesen war, hatte sie ihren Augen nicht getraut. Das Tier war riesig und pechschwarz mit einer einzigen roten Feder in jedem Flügel.

Guten Tag“, sagte Jessy höflich und trat näher. „Frau Kyra aus der Eisenfaust schickt mich. Sie braucht ein paar Gewürze.“

Sie reichte der Frau die Liste.

Ah, ich sehe“, sagte Frau Tesuna. „Die Gäste werden mit dem Besten vom Besten versorgt.“ Sie schenkte Jessy ein Lächeln voller Zahnlücken. „Warte eine Sekunde, Kind, ich suche alles zusammen.“

Es dauerte nur einen kurzen Moment. Die alte Frau bewegte sich erstaunlich schnell und behände durch ihr Reich, kletterte auf Schemel und Leitern, wenn die Behältnisse zu hoch standen, die sie brauchte und murmelte die ganze Zeit vor sich hin. Zuerst dachte Jessy, dass sie Selbstgespräche führte um sich zu konzentrieren. Dann erkannte sie, dass Frau Tesuna mit dem Raben sprach.

Du hast recht“, sagte sie nun leise. „Ein bisschen mehr kann nicht schaden.“

Schließlich hatte sie alle Zutaten abgefüllt und in Jessys Korb gepackt.

Aber du benötigst noch etwas, oder?“ fragte sie dann und sah Jessy forschend an. Sie zog die Schultern hoch und war sich sicher, dass die Frau ihre Gedanken lesen konnte.

Das stimmt. Ich brauche Mondtee“, sagte Jessy leise.

Frau Tesuna tätschelte ihre Hand. „Wusste ich’s doch“, sagte sie zufrieden und verschwand durch einen dunklen Vorhang.

Jessy stieß die Luft aus. In Westland war Verhütung nicht verboten, trotzdem aber verpönt. Der Tee, den sie jeden Monat trank um eine Schwangerschaft zu verhindern, war das übliche Mittel, das so ziemlich jede ledige Frau in der Eisenfaust anwandte. Selbst einige verheiratete Frauen taten es, wenn sie schon genug Kinder hatten oder verhindern wollten, weitere vom falschen Mann zu bekommen. Trotzdem wurde nicht laut darüber gesprochen. Jessy hätte sich ihre Ration auch bei der Hebamme in der Burg besorgen können. Doch nach ihrem letzten Besuch hatte Jessy genug von der Frau. Sie hatte die Arznei zuerst kommentarlos herausgegeben und, als Jessy schon auf dem Weg aus dem Zimmer war, hinter ihrem Rücken gesagt: „Recht hat sie. Rennen schon genug vaterlose Welpen durch die Burg.“

Die Worte hatten Jessy geärgert und auch ein wenig verletzt. Also musste sie eine andere Quelle finden und war erleichtert, dass Frau Tesuna offenbar sehr viel diskreter war. Sie überreichte Jessy den Beutel mit einem Grinsen, als wollte sie ihr viel Vergnügen damit wünschen.

Auf dem Rückweg in die Burg ließ Jessy sich Zeit. Noch immer nagten Zweifel an ihr und sie war froh, dass die kommenden Tage und Wochen ihr viel Ablenkung bieten würden. Sie musste sich eine Strategie zurechtlegen, wie sie den Anfeindungen entgegentreten konnte. Auf Dauer würde sie die Beleidigungen nicht ertragen, das musste sie sich eingestehen. Der schmerzliche Gedanke drängte sich ihr auf, dass ihre Lage ohne das Verhältnis zu Rheys sehr viel einfacher wäre. Wenn sie die nächste Woche über bei Amileehna wohnte, konnte Rheys nicht zu ihr kommen. Sie würden sich wahrscheinlich überhaupt nicht viel sehen. Vielleicht war das ganz gut so. Dann konnte sie ihre Gedanken ein wenig ordnen. Mach dir doch nichts vor, raunte ihr eine Stimme zu. Du wirst jeden Tag umkommen vor Sehnsucht. Wie willst du dir da irgendwelche rationalen Gedanken machen? Wieder seufzte sie und beschleunigte ihren Schritt um die Burg zu erreichen, bevor die Tore geschlossen wurden.>

Wolfsklingen

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