Читать книгу Wolfsklingen - Julia Adamek - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеAlbin richtete sich auf und streckte die Arme zur Decke. Seine Rückenwirbel knackten und sofort entspannten sich die Muskeln. Den ganzen Morgen hatte er über dem Tisch gekauert und geschrieben, jetzt sehnte er sich nach etwas Bewegung. Auch die staubige Kammer voller Bücher, in der er saß und deren kleines Fenster nur wenig Tageslicht hereinließ, beengte ihn nun. Entschlossen streute er Sand auf den letzten Abschnitt seines Schriftstücks, um die Tinte aufzusaugen. Als er das Blatt hob und vorsichtig schüttelte, rieselte der Sand zu Boden und ein einziges, ordentlich geschriebenes Wort fiel ihm ins Auge. Birkenhain. Er lächelte und legte das Blatt beinahe zärtlich zwischen die ledernen Buchrücken zu den anderen Bögen. Erst wenn seine Aufzeichnungen über ihre Reise komplett waren, würde er alles mit Schnur und Stoff zu einem Buch binden. Sie hatten so viele Dinge gesehen und erfahren, von denen man in Westland keine Ahnung gehabt hatte. Es wäre Verschwendung gewesen, all das nicht niederzuschreiben. Und er hatte seine Zeichnungen, getrocknete Blätter von unbekannten Pflanzen und konservierte Insekten aus allen Gegenden, in denen sie gewesen waren. All das ergab eine Sammlung, die das Wissen der Westländer ungemein bereichern würde. Auch wenn mancher in der Eisenfaust das für Unsinn hielt, Albin war stolz darauf. Er wusste, dass Tychon sein Tun gefördert hätte. Der Gedanke machte ihn froh und schmerzte gleichzeitig.
Vor ihrem gemeinsamen Abenteuer war Albin ein Schatten gewesen und bis dahin hatte er nicht einmal gewusst, ob Tychon von seiner Existenz wusste. Doch dann waren sie Freunde geworden. Tychon hatte ihn immer unterstützt und Albin hatte sich auf seine Zukunft als Kronrat an der Seite des Prinzen wirklich gefreut. Sein Leben hatte einen neuen Sinn bekommen, denn zum ersten Mal wurde er geschätzt. Aber dann war alles anders gekommen. Und jedes Mal, wenn Albin schrieb wurde er daran erinnert. Tychon war tot und jeden Tag vermisste Albin ihn aufs Neue. Nur einmal wollte er hören, wie sein Freund mit energischen Schritten in die Kammer trat und sagte: „Sehr gut, Albin!“ Aber es blieb still und nur die alten Bücherregale knackten ab und zu in der trockenen Luft. Doch es gab auch Erinnerungen, die Albin seinen Schmerz vergessen ließen. In Birkenhain, einem Waldläuferdorf mitten in den Ostländischen Wäldern, hatte er Ami zum ersten Mal geküsst. Niemals würde er vergessen, wie sie ausgesehen hatte. Der Mond hatte ihr helles Haar zum Leuchten gebracht und sich in ihren Augen gespiegelt wie in dem stillen Teich, an dessen Ufer sie gestanden hatten. Und ihre Lippen hatten so süß geschmeckt. Sein ganzes Leben lang würde er sich daran erinnern. Er hatte den Arm um sie gelegt und die Zartheit ihres Körpers gespürt, in dem so viel Stärke schlummerte.
Er stand auf und löschte die Kerzen auf dem Tisch, die er anzünden musste, obwohl draußen heller Tag war. Dann schloss er die Tür hinter sich und stieg die schmale Treppe hinauf. Draußen blendete ihn der Sonnenschein und die frische Luft belebte ihn sofort. Manchmal konnte er es nicht glauben, dass er früher jede freie Minute in dieser Kammer verbracht hatte. Bald würde das Mittagessen in der Großen Halle aufgetragen und im Hof wurde es allmählich ruhiger. Doch anstatt sich zum Palast zu wenden, ging er hinüber zum Bergfried. Hier aß er meistens zu Mittag. Unter den Edelleuten war er nicht mehr gern gesehen. Auch wenn das Essen in der Halle eine Möglichkeit war, einen Blick auf Ami zu werfen, vermied er es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hatte seinen Platz im Kronrat verloren, der ihm aufgrund seiner Abstammung zugestanden hatte, und eigentlich keine Aufgabe am Hof. Sein Vater hatte an der Verschwörung zum Mord an Tychon Anteil gehabt und war als Verräter hingerichtet worden. Das bedeutete für Albin, seinen Erben, eigentlich ein Leben im Exil. Doch der König duldete ihn in der Burg, weil er sich durch seine Tapferkeit im Kampf gegen Skarphedinn ausgezeichnet hatte.
In den letzten Monaten hatte er an seinen Aufzeichnungen gearbeitet, doch im Hintergrund tat er noch mehr. Unauffällig versuchte er ständig die Stimmung im Kronrat auszuloten und die verschiedenen Mitglieder einzuordnen. Waren sie Ami wohl gesonnen oder würden sie versuchen, ihr das Leben schwer zu machen? Er trieb sich auch viel in der Hauptstadt Ovesta herum, die zu den Füßen des Burgberges lag, und versuchte die Meinung des Volkes zu ergründen. Alles, was er erfuhr, berichtete er Ami. Meistens in Briefen, denn die Königin tat alles, um ihn von ihrer Tochter fernzuhalten. Albin würde vielleicht nicht Kronrat an Tychons Seite sein, aber er würde Ami dabei helfen, eine gute Königin zu werden. Und sie vor ihren Feinden schützen. In Wahrheit wollte er noch viel mehr tun, doch all diese Wünsche waren so unerfüllbar wie eine Reise zu den Sternen. Während sie zusammen geritten waren, hatte er manchmal geglaubt, seine Träume könnten wahr werden und Ami würde mit ihm fortgehen, ihre Prinzessinnenwürde hinter sich lassen und an seiner Seite ein anderes Leben führen. Doch das war nun natürlich nicht mehr möglich. Früher hatte er sie aus der Ferne angehimmelt und obwohl sich alles geändert hatte, war dieser Umstand genau wie vor ihrem Abenteuer. Im Augenblick wurde nicht über eine Heirat der Prinzessin gesprochen und das erleichterte Albin. Doch er wusste auch, dass dieser Tag kommen und dass er hier an ihrer Seite bleiben würde. Ganz egal, wen sie heiratete. Denn er kam dafür natürlich nicht in Frage. Er war vernünftig genug, all das einzusehen. Seiner Liebe zu ihr tat das jedoch keinen Abbruch.
Mit einem kurzen Nicken begrüßte er Kaj und Rojan, die bereits an dem langen Tisch im Schatten des Turmes saßen und aßen. Dann ließ er sich nieder und streichelte Raba. Rheys’ Hündin lebte seit ihrer Rückkehr aus dem Norden im Bergfried und nicht mehr im Zwinger bei den anderen Hunden, die von der Königsgarde für Jagd und Kampf gezüchtet wurden. Sie war sozusagen im Ruhestand und lag nun entspannt unter der Bank, wo sie den Sonnenschein genoss. Dennit schob ihm einen Bierkrug herüber. Meistens aßen sie schweigend, doch das machte Albin nichts aus. Die Männer waren seine Freunde und der Bergfried war der einzige Ort in der Burg, wo er sich wirklich wohl fühlte. Beim Ausspionieren der Kronräte und der geschwätzigen Höflinge kam ihm sein jahrelanges Dasein als unscheinbarer Winzling gelegen. Obwohl er größer geworden war, konnte er sich immer noch in stille Winkel drücken und so unauffällig in Räumen bewegen, dass niemand ihn wahrnahm. Aber man beobachtete ihn und er musste immer damit rechnen, von jemandem angegriffen zu werden. Trotz der Hinrichtung der Verräter von damals, gab es noch immer Männer in der Eisenfaust, denen alles zuzutrauen war. Hier bei den Wölfen jedoch wusste Albin, dass er sicher war.
„Ich habe heute Nachmittag keine Wache“, sagte Dennit. „Gehen wir ins Kriegerlager und suchen uns ein paar Jungen zum Würfeln?“
Albin wischte die letzten Reste Bratenfett auf seinem Teller mit einem Stück Brot auf und stopfte es sich in den Mund. In letzter Zeit hatte er unglaublichen Hunger. Trotzdem nahm er nicht zu. Er übte sich regelmäßig mit Dennit im Schwertkampf, saß häufig im Sattel und half manchmal auch im Stall mit. Seine Muskeln wurden immer stärker und sein Körper schien kein Fett mehr anzusetzen, nachdem er es erst einmal verloren hatte.
„Eigentlich wollte ich in die Stadt“, antwortete Albin.
Abends unternahm er häufig etwas mit Dennit. Sie gingen in Gasthäuser in Ovesta oder spielten und tranken im Kriegerlager. Dennit war immer gut gelaunt und sein Charme lockte Männer und vor allem junge Frauen an, die gerne mit den beiden jungen, kampferprobten Helden von den Nebelklippen ihre Zeit verbringen wollten. Albin hielt sich dabei stets zurück und überließ Dennit das Reden - und auch die Frauen. Aber es machte ihm trotzdem Spaß. Heute hatte er jedoch andere Pläne.
„Es gibt eine Versammlung in der Stadt. Die Eigentümer der wichtigsten Handelshäuser treffen zusammen um irgendwelche Abkommen mit dem Südland zu besprechen. Da möchte ich mich umhören.“
„Sei bloß vorsichtig bei deiner Schnüffelei“, sagte Talis. Albin hatte bereits gelernt, seine grimmige Miene nicht misszuverstehen. Er war ein ebenso aufrechter Kerl wie die anderen. „Irgendwann findest du dich im Straßengraben wieder - mit einem eingeschlagenen Schädel.“
„Ich passe schon auf“, antwortete Albin. Er klopfte auf den Dolch an seinem Gürtel. Ein Schwert trug er nicht, wenn er sich in der Stadt herumtrieb, das wäre zu auffällig gewesen. Und er ritt auch nicht auf seinem prächtigen schwarzen Hengst Arro, sondern ging zu Fuß. So konnte er ohnehin besser hören, worüber die Menschen in den Straßen sprachen. Im Großen und Ganzen war man in Ovesta sehr angetan von der Idee, dass eine Frau auf dem Thron sitzen sollte. Die Leute mochten Amileehna und achteten ihren Mut beim Kampf gegen Skarphedinn. Er hörte kaum jemals etwas Schlechtes über sie. Aber bis zu Tychons Tod hatte man die Prinzessin kaum wahrgenommen. Jetzt konnte niemand genau einschätzen, wie sie war und ob sie eine gute Königin sein würde. Diese Ausgangslage fand Albin eigentlich günstig und das hatte er ihr auch schon gesagt. Er nutzte jede Gelegenheit um sie zu bestärken, denn die Aufgabe, die sie erfüllen musste, machte ihr große Angst. Das wusste er, auch wenn sie es niemals zugeben würde. Und er würde alles tun, um ihr Mut zu machen.
Die Große Halle war bereits voller Menschen, als Albin durch das Eingangsportal eintrat. Nach seinem Ausflug nach Ovesta hatte er sich in seiner kleinen Wohnung im Prinzenbau noch gewaschen und umgezogen und nun bahnte er sich einen Weg durch die Menge zu seinem Platz am unteren Ende der Tafel. Hier saßen die Wölfe, die keinen Dienst hatten zusammen mit ein paar jungen Männern, die gerade ihre letzten Monate im Kriegerlager verbrachten. Jeder von ihnen, ganz egal ob von edler Herkunft oder nicht, hoffte, in die Königsgarde aufgenommen zu werden. Deshalb nutzten sie jeden Moment um Althan von ihren Qualitäten zu überzeugen. Albin wusste, dass es aber nicht der bald ausscheidende Anführer der Garde war, sondern Rheys, der sich gewissenhaft die Männer aussuchte, die in Zukunft Amileehna und ihre Familie schützen würden. Die meisten wagten es aber nicht, Rheys ungefragt anzusprechen.
Während alle Anwesenden sich langsam zu ihren Sitzen begaben, ertönte Trommelklang und man erhob sich, als der König eintrat. Die Gespräche verstummten und die Köpfe neigten sich voller Ehrerbietung. Albin sah jedoch auf. Seit er nicht mehr an den Sitzungen des Kronrats teilnehmen durfte, sah er den König nur selten. Der einst so respekteinflößende Mann hatte sich stark verändert. Der Verlust seines Sohnes hatte ihn altern lassen. Er wirkte beinahe gebrechlich, sein Haar war schütter geworden, seine Wangen grau und eingefallen. Vor einiger Zeit hatte ihn eine mysteriöse Krankheit heimgesucht, die seine linke Körperseite zeitweise lähmte und ihn zwang, am Stock zu gehen. Jessy sagte, das Blut in seinem Gehirn fließe womöglich nicht mehr richtig und deshalb seien darin gewisse Bereiche beschädigt worden. Albin fand das alles hochinteressant. Die Menschen in Jessys Welt schienen unheimlich viel über den menschlichen Körper zu wissen. Trotzdem gab es für so ein Leiden auch dort keine Heilung. Zu diesem Schluss konnte auch jeder einfache Westländer kommen, wenn er den König ansah. Ami würde wahrscheinlich früher die Krone tragen müssen, als sie ahnte…
Der König verharrte einen Moment, wie er es immer tat. Die Königin trat in den Saal und Albin hörte die Hofdamen anerkennend murmeln, wie immer, wenn sie Kleid und Frisur ihrer Herrin bewunderten. Ihr Mann rückte ihr den Stuhl zurecht, eine liebevolle Tradition, die er trotz seiner Schwäche nicht aufgegeben hatte. Königin Sílean verzog keine Miene, ließ den Blick ihrer kalten schmalen Augen aber abschätzend über die versammelten Menschen wandern, als wolle sie prüfen, ob sich auch ja kein unerwünschter Gast eingeschlichen hatte. Albin zog instinktiv den Kopf ein, aber sein rotes Haar ließ sich nur schlecht verbergen. Dann betrat die Prinzessin die Halle und das Wispern und Murmeln schwoll noch einmal an. Ob es wohlwollend war oder nicht konnte Albin nicht genau beurteilen. Seine Konzentration kam ihm in diesem Moment immer etwas abhanden, denn sein Blick hing an Ami und er konnte kaum etwas anderes wahrnehmen. Heute trug sie ein hellgrünes Kleid mit goldenen Stickereien. Die Farbe ließ sie blass wirken, aber das Gold brachte ihre Augen zum Strahlen. Das Kleid war eng aber hochgeschlossen und sie sah darin aus wie eine Puppe. Ihr Haar war aufgesteckt und Diamanten glitzerten darin. Sie war wunderschön, doch Albin interessierte sich nur für den müden und angestrengten Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie sah niemanden an und setzte sich still auf ihren Platz. Das Essen begann, doch Albin merkte kaum, wie die Teller vor ihm abgestellt wurden. Wie immer aß Ami kaum und beteiligte sich so wenig wie möglich am Tischgespräch. Er sah genau, wie oft ihre Mutter ihr etwas zuflüsterte und dabei immer ärgerlicher wurde. Natürlich sollte die Prinzessin mit den Kronräten und deren Frauen an der Hohen Tafel eine Unterhaltung führen und ihre Intelligenz und gute Erziehung präsentieren. Doch sie wusste nie, was sie sagen sollte und hasste das Essen, bei dem sie angestarrt wurde wie Ware an einem Marktstand. Jeden Abend schaute Albin zu ihr hin, bis sie irgendwann den Blick von ihrem Teller hob und sich in der Halle umsah. Sie schaute hinüber zu Jessy und als nächstes zu ihm, als wollte sie jeden Tag aufs Neue sichergehen, dass ihre Freunde hier waren. Albin lächelte ihr zu und sie erwiderte es, doch dann wurde sie von einem Tischnachbarn abgelenkt. Als sie das nächste Mal herüber sah, schnitt er eine Grimasse. Ami kniff die Lippen zusammen um ein lautes Lachen zu unterdrücken. Ihr Gesicht entspannte sich. Obwohl zwischen ihnen hundert Menschen saßen, hatte Albin das Gefühl, dass sie ganz allein waren und ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. Sie brauchte kein Wort zu sagen, er konnte all ihre Gefühle und Gedanken an ihrem Gesicht ablesen, so gut kannte er es. Er hob den Finger um ihr zu zeigen, dass sie einen Moment warten sollte. Dann zog er ein kleines Glas mit einem Korken aus seiner Tasche. Schnell versicherte er sich, dass Ami noch immer herüber sah. Sie beugte sich ein wenig vor und runzelte die Stirn, wie immer wenn sie neugierig oder gespannt war. Albin schüttelte das Glas ein wenig, um den Insassen etwas zu beleben. Dann öffnete er es und heraus flatterte ein kleiner gelb-blauer Schmetterling. Er hatte ihn an diesem Nachmittag gefangen. Kaum jemandem fiel das kleine Tier auf, das sich wie ein schillerndes Blütenblatt durch die stickige Luft bewegte und zur Decke aufstieg. Albin schaute nur auf Ami. Er sah, wie Überraschung und Freude ihre Miene erhellten und sein Herz zog sich zusammen. Wie gerne hätte er diese Freude für immer in ihr Gesicht gezaubert. Damit sie jede Minute ihres Lebens glücklich sein konnte. Aber dazu gehörte viel mehr, als einen Schmetterling fliegen zu lassen. Ami hatte ihre Tischnachbarn völlig vergessen und beobachtete, wie er nun immer höher flatterte und schließlich durch eine der Fensteröffnungen nach draußen verschwand. Sie schaute zu Albin zurück und ihre Lippen formten das Wort „Danke.“
Albin nickte ihr zu und lächelte. Frau Dhanea erschien hinter Amileehna wie ein düsterer Schatten. Es war Zeit für die Prinzessin zu gehen, denn das Essen war vorbei. Bis sie sich von der Tafel abwandte, ruhte ihr Blick auf Albin. Dann verschwand sie.
„Du wirst noch einen elenden Hungertod sterben, wenn du während jeder Mahlzeit nur die Prinzessin anstarrst“, sagte Dennit und schob ihm einen Teller zu. Die Stimme riss Albin aus seinen Gedanken und plötzlich hörte er wieder den Lärm und der Halle. Der Geruch des Essens stieg verführerisch in seine Nase und sein Magen rumorte. Er machte sich wortlos über seine Mahlzeit her.
„Ich glaube nicht, dass die Gefahr besteht“, sagte Rheys spöttisch. „Wenn sie nicht mehr zu sehen ist, schlingt er alles in sich hinein, was auf dem Tisch steht.“
Es störte Albin nicht, dass sich die Wölfe über ihn lustig machten. Sie alle wussten, dass seine Liebe zu Amileehna alles andere als Schwärmerei war. Sie hatten gesehen, wie er mehr als ein Mal sein Leben für sie riskiert hatte. Deshalb respektierten sie ihn um so mehr und sahen ihn als Mitglied ihrer Truppe an, auch wenn sie das niemals laut ausgesprochen hätten. Albin spürte hinter ihren höhnischen Worten keine Bosheit. Während er aß und trank, verließ auch das Königspaar die Tafel und die Stimmung in der Halle löste sich spürbar. Ein paar junge Hofdamen kamen an ihren Tisch herüber und schäkerten mit den Männern. Die meisten der Gardisten waren von niederem Stand, doch irgendetwas an ihnen zog die Frauen an wie der Fackelschein die Nachtfalter anzog. Auch Jessy, die in ihrer Männerkleidung auffälliger war als im buntesten Kleid, setzte sich zu ihnen. Das Gelächter und der lauter und schneller werdende Rhythmus von Trommel und Flöte machten Albin müde. Außerdem hatte er viel Wein getrunken und das führte immer dazu, dass er sich wie ein Zuschauer fühlte, der gar nicht Teil dieser gut gelaunten Gruppe war. Er ertappte sich dann dabei, wie er die weiten Ausschnitte der Damen betrachtete und darüber nachdachte, wie sich diese weiße Haut wohl anfühlen mochte. Er beobachtete, wie sie lachten und sich bewegten, während sie mit Männern sprachen und wusste nicht genau, ob er es abstoßend oder faszinierend fand. Jessy war ganz anders, nicht nur, weil sie sich nicht herausputzte, wie die anderen. Albin fand sie sehr hübsch mit ihrem langen braunen Haar und den dunklen Augen. Aber für ihn war sie so etwas wie eine Schwester - viel mehr als eine Freundin. Sie konnte er nicht so ansehen wie die anderen Frauen. Nun stand sie von der Bank auf und beugte sich herunter um Rheys etwas zu sagen. Er antwortete nicht, schaute sie nicht einmal an, aber irgendetwas passierte zwischen ihnen, das Albin noch sehr viel interessanter fand als das offenkundige Getändel der anderen. Es war fast unsichtbar, manchmal flüsterten sie oder warfen sich Blicke zu. Es gab kaum jemals eine Berührung, die jemandem hätte auffallen können. Trotzdem bestand eine Vertrautheit zwischen ihnen, die er nicht verstehen konnte. Kyra und Bosco ließen kaum die Finger voneinander, meistens saß sie auf seinem Schoß und Bosco machte schmutzige Witze und vergrub das Gesicht in ihrem üppigen blonden Haar. Die beiden lachten zusammen, tanzten und neckten sich. So etwas konnte er nachvollziehen. Falls er Amileehna jemals nahe genug kam, würde er sie mit Zärtlichkeiten überschütten, so viel wusste er.
Langsam wurden der Lärm und die Hitze von Kerzen und Feuerschalen erdrückend und Albin wollte gerade aufstehen, da setzte sich eine junge Frau neben ihn. Er blinzelte verwirrt über die plötzliche Nähe. Ihr schweres Parfum stieg ihm in die Nase.
„Guten Abend, Herr Albin“, sagte sie und lächelte. Ihre Lippen glänzten. Albin konnte sich nicht erinnern, ob er sie kannte. Seine Gedanken steckten in einem zähen Morast aus zu viel Wein und ungestillten Sehnsüchten fest.
„Guten Abend“, antwortete er, ohne es wirklich zu merken. Sie rückte noch ein Stück näher. Er konnte die Sommersprossen auf ihren Brüsten sehen. Ruckartig stand er auf und stieß dabei so heftig gegen den Tisch, dass ein paar Becher umfielen. Sein Gesicht brannte und war bestimmt tief rot verfärbt.
„Ich wollte gerade gehen“, murmelte er und versuchte, seine zu langen Beine unter der Bank herauszuziehen.
„Wie schade“, antwortete das Mädchen. „Ich hatte auf einen Tanz mit Euch gehofft.“
Ohne ein weiteres Wort floh Albin aus der Halle. Er hatte das Gefühl, zu ersticken und erst die kühle Nachtluft linderte die Panik ein wenig. Schwer atmend lief er ein paar Schritte und lehnte sich dann an die Mauer. Er hatte keine Angst vor Frauen, im Gegenteil. Nichts reizte ihn mehr, als ihren sämtlichen Geheimnissen endlich auf den Grund zu gehen. Aber er liebte Amileehna und allein der Gedanke daran, ein anderes Mädchen zu berühren, schmerzte ihn. Niemals würde er ihr wieder in die Augen schauen können. Die große Schwierigkeit bestand nur darin, dass sein Körper mit diesem ehrbaren Vorsatz ganz und gar nicht einverstanden war.
Früh am nächsten Morgen ging Albin gedankenverloren über den Hof. Die Sonne schickte gerade die ersten zaghaften Strahlen über die Zinnen. Ein barfüßiges Dienstmädchen fütterte die Hühner und der Duft von frisch gebackenem Brot wehte ihm entgegen. Doch viel regte sich noch nicht um diese Zeit, besonders nicht im Palast, den er jetzt betrat. Die Große Halle war frisch gefegt, die Tische gereinigt und nichts erinnerte mehr an den gestrigen Abend. Die Diener waren schon in der Morgendämmerung aufgestanden um die Spuren des abendlichen Gelages zu beseitigen und eventuelle Übernachtungsgäste, die den Weg in ihre Betten nicht mehr gefunden hatten, hinaus zu werfen. Der Hof würde erst in etwa einer Stunde hier zum Frühstück erscheinen. Wer vorher etwas essen wollte, ging direkt in die Küche. Dort war Albin bereits gewesen und hatte sich von Kyra mit noch warmen Brötchen und süßer Marmelade füttern lassen. Er stand immer früh auf. Während ihrer Reise hatte er ein sicheres Gespür dafür entwickelt, wann der Morgen graute und wachte davon auf, auch wenn die Vorhänge in seinem Fenster das Licht aussperrten. Als er nun durch die menschenleeren Gänge wanderte, war er sich sicher, dass der Mann, den er aufsuchen wollte, auch schon seit geraumer Zeit wach war. Die Palastwachen nickten ihm freundlich zu. Hier im ersten Stock, wo die Kronräte ihre Wohnungen hatten, durfte er sich frei bewegen. Schließlich erreichte er sein Ziel und klopfte an die Tür. Drinnen hörte er eine gedämpfte Unterhaltung, und dann ertönte eine laute Stimme.
„Nur herein!“
Albin öffnete und betrat das karg eingerichtete Arbeitszimmer von Fabesto. Der Mann hob überrascht die buschigen grauen Augenbrauen, als er Albin sah.
„Guten Morgen, mein Junge“, sagte er. „Du bist früh auf den Beinen.“
„Ich wollte etwas dringendes mit dir… Euch besprechen“, antwortete Albin und warf einen Blick zu Fabestos Gesprächspartner hinüber. Es handelte sich um Terent, ein anderes Mitglied des Kronrats aus einem alten Adelsgeschlecht. Albin wusste nicht genau, wo er ihn einordnen sollte. Er hatte alle Kronräte genau beobachtet und konnte einschätzen, ob sie Amileehna einmal nützlich sein oder gegen sie arbeiten würden. Aus Terent wurde er jedoch nicht schlau.
„Guten Morgen, Herr“, sagte er höflich und verneigte sich leicht. Er spürte den amüsierten Blick des fein gekleideten Mannes auf sich und war wieder einmal froh darüber, dass die meisten Menschen in der Burg ihn für einen dummen Jungen hielten.
„Waren wir fertig, Terent?“ fragte Fabesto nun.
„Bitte, ich möchte dich nicht länger aufhalten“, sagte er und wandte sich der Tür zu. Dabei klopfte er Albin im Vorbeigehen auf die Schulter. Obwohl Albin groß genug war, um ihm in die Augen zu schauen, tat er es nicht, sondern blickte respektvoll zu Boden. „Sicher hat unser kleiner Archivar hier wichtiges mit dir zu besprechen.“
Terent verließ das Zimmer und Albin ging zu Fabestos großem Arbeitstisch hinüber, der mit Papieren überhäuft war. Ansonsten gab es nur ein paar harte Stühle und Regale mit Büchern und Schriftrollen an den Wänden. Keine Teppiche oder Wandbehänge und nur einen einzelnen Kerzenständer auf dem Tisch um das Lesen bei Dunkelheit zu erleichtern. Der Kamin war kalt und sauber geschrubbt. Fabesto war ein Krieger durch und durch und auch in fortgeschrittenem Alter gestattete er sich keinen Luxus. Für Albin war er ein wichtiger Vertrauter, denn er hatte Einfluss im Kronrat und war gleichzeitig ein bedingungslos loyaler Gefolgsmann von König Bairtlímead und seiner Tochter. Außerdem mochte er Albin und nahm seine Meinung ernst. Fabesto würde den Kronrat irgendwann verlassen und bis dahin wollte Albin noch möglichst viel von ihm lernen. Auch wenn Fabesto zu jenen erbitterten Feinden der Magie gehörte, die Albin eigentlich für dumm und engstirnig hielt - seine Weitsicht und Vernunft bewunderte er sehr.
Nachdem Skarphedinn geschlagen und die wieder auferstandene Magiergilde vernichtet worden war, hatte sich der Hass der Westländer auf Magie und alles, was damit zusammen hing, noch vertieft. Viele junge Menschen waren bereit gewesen, sich ihre eigene Meinung über Magie zu bilden. Doch nun hatten auch jene, die den Nordlandkrieg nicht erlebt hatten, eine schmerzhafte Erfahrung gemacht. Ein Magier hatte ihren Prinzen vernichtet und das nur aus purer Bosheit. Tychon wäre sehr traurig darüber gewesen, denn sein Ziel war es, die guten Seiten der Magie zum Wohle Westlands zu nutzen. Als König hätte er viele Dinge im Land verändert. Doch auf Amileehna würden genug andere Probleme zukommen, wenn sie einst den Thron bestieg.
„Was gibt es, Albin?“ fragte Fabesto und wies auf einen Stuhl. Albin setzte sich auf die Kante.
„Gestern habe ich eine Versammlung von Händlern unten in der Stadt besucht“, begann er. „Sie sprachen über ihre Probleme mit den Südländern. Bisher waren es nur die Seeräuber, die ihnen zu schaffen gemacht haben, weil sie die gesamte Seeroute zwischen Westland und Samatuska kontrollieren. Doch nun scheinen auch die Karawansereien, die Waren durch die Öde Ebene bringen, Schwierigkeiten zu machen. Die Händler sehen es als Schikane an, dass sie so hohe Schutzgebühren zahlen und lächerliche Auflagen erfüllen müssen. Viele Warenlieferungen geraten ins Stocken, die Händler verlieren Unsummen. Die Stimmung war ziemlich hitzig. Du weißt, wie Kaufleute sind, wenn sie den Inhalt ihrer Börsen in Gefahr sehen. Aber ich glaube, es steckt mehr dahinter. Die Südländer haben immer von dem Handel mit uns profitiert. Was für Gründe sollten sie haben, dieses Verhältnis derart zu strapazieren? Sie wollen doch auch nur Geld verdienen. Irgendwas ist da faul.“
Nachdenklich begann er, sein Kinn zu kneten. Fabesto hatte ihm aufmerksam zugehört. Nun beugte er sich über den Tisch und wühlte in seinen Papieren.
„Das ist in der Tat eine interessante Neuigkeit“, murmelte er. „Denn es passt genau zu einem Brief, den ich erhalten habe. Von Kristap.“
Albin horchte auf. Also hatte ihn sein Gefühl nicht getrogen. Wenn Kristap Toleyan, der westländische Botschafter in Samatuska Fabesto einen Brief schrieb, hatte das etwas zu bedeuten.
„Hier ist er!“ Fabesto zog einen schmutzigen Bogen hervor, dem man die lange Reise aus dem Süden deutlich ansah. Er reichte Albin den Brief und dieser überflog die unordentlich geschriebenen Zeilen. Was er las, war beunruhigend. Kristap berichtete davon, dass Fürst Futush, der exzentrische Herrscher des benachbarten Südlandes, es scheinbar zur Mode hatte werden lassen, die Westländer - und damit auch die importierten Produkte - als minderwertig anzusehen. Im ganzen Südland breite sich eine feindliche Stimmung aus und Geschichten darüber waren im Umlauf, wie respektlos sich Tychon und Amileehna bei ihrem Besuch damals verhalten hätten. Eine glatte Lüge, denn Albin hatte selbst gesehen, wie tadellos die beiden das Protokoll befolgt hatten. Doch er erinnerte sich auch daran, wie Tychon den Fürsten angriff, weil dieser sich von den Magiern wie eine Marionette steuern ließ. Und schließlich hatten Bosco und Rheys auch noch Jessy entführt, die Futush gerne für sich behalten hätte. Konnte es sein, dass er deshalb noch immer grollte? Oder steckte etwas anderes dahinter?
„Besorgniserregend“, murmelte Fabesto. Er stand sehr aufrecht und hatte die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt. Albin wusste, dass er seine Gedankengänge nicht darlegen musste, weil Fabesto längst die selben Ideen gehabt hatte.
„Sollte der König nicht davon erfahren?“ fragte er nun.
„Der König hat alle politischen Beziehungen zum Südland abgebrochen“, erklärte Fabesto. „Immerhin ist es eine schreckliche Kränkung, dass Futush damals befohlen hat, Tychon in seinem eigenen Haus ermorden zu lassen. Ob es nun sein eigener Wille war, oder der von jemand anderem, spielt keine Rolle. Der König kann und darf so eine Beleidigung nicht vergessen - auch wenn der Prinz tot ist. Kristap sollte schon vor Monaten nach Ovesta zurückkehren und sein Haus und seinen Posten dort aufgeben. Aber er ist der Meinung, dass es wichtig ist, Samatuska weiter im Auge zu behalten. Und damit hat er offenbar völlig recht. Ich werde mit dem König sprechen. Aber wenn es stimmt, was du beobachtet hast, werden die Kaufleute selbst bald bei ihm vorsprechen.“
Albin nickte. Er war froh, dass Fabesto bereit war, sofort zu handeln.
„Sobald ich weiß, wann ich ihn sprechen kann, lasse ich es dich wissen“, fuhr Fabesto fort. „Du solltest mitkommen und ihm selbst berichten, was du denkst.“
Albin zog die Schultern hoch, eine instinktive Geste der Abwehr, die er wohl niemals ablegen würde.
„Ich weiß nicht“, murmelte er. „Der König wird sicher nicht hören wollen, was ich zu sagen habe. Ich bin immerhin in Ungnade.“
„Blödsinn“, fuhr Fabesto ihn an. „Hör auf damit, dein Licht unter den Scheffel zu stellen, Albin. Das Schicksal hat dir übel mitgespielt, aber jeder weiß, dass du ein hervorragender Kronrat geworden wärst. Und du bist nicht in Ungnade, der König hat dir verziehen und dich am Hof willkommen geheißen.“
„Trotzdem. Es ist mir lieber, ich falle niemandem besonders auf. Für meine Nachforschungen ist das von Vorteil.“
Fabesto seufzte. „Na gut, wenn du meinst. Dann werde ich nicht erwähnen, dass du mein Informant bist. Aber wenn du noch ein bisschen weiter wächst, wird es schwer sein, nicht aufzufallen. Übst du dich noch im Schwertkampf?“
„Fast jeden Tag“, antwortete Albin stolz. Fabesto nickte anerkennend. „Das sieht man. Du bist kräftiger geworden. Vielleicht sollte ich Rheys vorschlagen, dich in die Garde aufzunehmen.“
Albin grinste. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“
„Ich auch nicht“, antwortete Fabesto und lächelte. „Wie macht sich Jessy? Ich komme kaum dazu, dieses elende Zimmer zu verlassen und höre nicht, wie es unten zugeht. Haben die Wölfe sie schon zum Aufgeben gebracht?“
„Nein, sie macht es wirklich gut“, sagte Albin schnell. „Sie wird bestimmt nicht aufgeben.“
„Das hätte ich auch nicht von ihr erwartet.“
Arro tänzelte ein wenig zur Seite und schnaubte erregt. Albin strich ihm mit der flachen Hand über den schweißbedeckten Hals.
„Ganz ruhig, Junge“, murmelte er und beobachtete, wie die schwarzen Ohren beim Klang seiner Stimme zuckten. „Wir sind die nächsten.“
Zusammen mit etwa zehn anderen jungen Reitern wartete Albin darauf, sich endlich an der hölzernen Attrappe versuchen zu dürfen, die Bosco für sie auf dem Übungsplatz aufgestellt hatte.
Die Holzfigur hatte den Umfang eines kräftigen Mannes und thronte auf einem weiteren hölzernen Aufbau, der ein Pferd darstellen sollte. Aufgabe war es, den Gegner mit einem gezielten Schwertschlag vom Rücken seines Reittiers zu stoßen. Der hölzerne Krieger war jedoch mit starken Seilen an seinem Pferd befestigt, sodass man ihn mit größter Wucht treffen musste. Bosco hatte seinen Schülern demonstriert, dass es möglich war, ihn herunter zu stoßen. Doch Albin selbst hatte nach den ersten Versuchen das Gefühl, dass sein Arm schwach wie ein Strohhalm war. Mehrmals hatte er sein Schwert verloren und seine Schulter schmerzte entsetzlich. Aber wenigstens war er nicht aus dem Sattel gestürzt, wie einige andere. Nun betrachtete er seinen leblosen Feind aus zusammen gekniffenen Augen und versuchte, ihn mit reiner Willenskraft zum Fallen zu bringen. Jedes Mal, wenn einer der Jungen scheiterte, bedachte Bosco ihn mit Beleidigungen und schien sich dabei prächtig zu unterhalten.
„Nächster!“ brüllte er nun und Albin richtete sich im Sattel auf. Arro reagierte auf die kleinsten Hilfen und wenn der Hengst aus dem Stand angaloppierte, hob die Schwungkraft Albin fast aus dem Sattel. Auch jetzt preschte er vorwärts und Albin umklammerte sein Schwert, obwohl seine Finger von den Schlägen bereits taub waren. Doch jetzt ließ er die Klinge sinken und anstatt sie mit voller Kraft gegen den Leib der Puppe zu schleudern, durchtrennte er die Seile, mit denen sie an dem Holzpferd befestigt war. Der Körper kippte zur Seite und landete polternd auf der Erde.
Albin stieß einen triumphierenden Schrei aus und brachte Arro zum Stehen. Er lächelte Bosco zu. Dieser nickte.
„Gut gemacht.“
„Das gilt nicht!“ rief einer der Jungen aus der Reihe. „Das war nicht die Aufgabe!“
„Aufgabe war es, die Attrappe aus dem Sattel zu werfen“, rief Bosco. „Wäre das ein echter Mensch, würde er jetzt verblutend auf dem Boden liegen, nachdem Albin seinen Oberschenkel in Scheiben geschnitten hat. Ich würde sagen, das reicht.“
Die Jungen murrten, beschwerten sich aber nicht mehr. Am Ende zählte bei all ihren Übungen nur eines. Der Gegner musste wehrlos am Boden liegen. Schwer verletzt oder tot - zumindest durfte er keine Gefahr mehr darstellen. Obwohl Albin allen anderen Schülern im Kriegerlager voraus hatte, dass er bereits in echte Schlachten geritten war, musste er noch viel lernen. Jeder Junge in Westland kam nach Ovesta um das Handwerk des Kämpfens zu erlernen, falls einmal Krieg ausbrechen sollte. So war auch Albin dazu verpflichtet gewesen, ein paar Monate im Lager zu leben und zu lernen. Damals war es eine reine Qual für ihn. Er war schwach, schüchtern und ängstlich und hatte gleichermaßen unter den anstrengenden und oft schmerzhaften Übungen wie unter dem Spott der anderen jungen Männer gelitten. Heute schien ihm das eine Ewigkeit her zu sein. Er kam nun wieder freiwillig hierher um sich weiter ausbilden zu lassen. Und mittlerweile war er einer der besten und angesehensten Schüler.
„Kann ich es mit einer Axt versuchen?“ fragte er nun. Bosco kniff die Augen zusammen.
„Werd nicht übermütig, du halbe Portion“, sagte er. „Wenn du versuchst, eine Streitaxt mit voller Wucht zu schwingen, schleuderst du dich selbst aus dem Sattel. Dafür braucht man eine ganz andere Statur.“
„Dann warte ich noch ein paar Monate“, sagte Albin.
„Ich sage dir etwas“, meinte Bosco. „Wenn du diesen hölzernen Burschen hier auf deiner Schulter bis hinauf in den Stall tragen kannst, dann lasse ich dich mit einer Axt kämpfen.“
Albin zog eine Grimasse. Dieser Tag würde wahrscheinlich niemals kommen. Zum Aufstellen der Figur waren zwei starke Männer notwendig gewesen.
„Sehr witzig.“
„Tja, so bin ich. Hilf mir jetzt, das Ding wieder aufzubauen, damit die anderen dir dieses Kunststückchen nachmachen können.“
Als Albin später sein Pferd in den Stall brachte, zitterten seine Arme vor Anstrengung, aber er fühlte sich gut. Es war Nachmittag und er würde noch ein wenig an seinem Buch arbeiten, bevor es Zeit zum Essen war. Als er Arro durch die Stallgasse führte, sah er schon von Weitem eine weibliche Gestalt. Sein Herz klopfte schneller. Es war Astri, die dort auf ihn wartete, Amileehnas Zofe.
„Guten Tag, Herr Albin“, sagte sie höflich, doch er sah das verschmitzte Lächeln auf ihrem Gesicht. Arro schnaubte und schubste seinen Reiter, der stehen geblieben war, von hinten mit dem großen Kopf an. Er wusste, dass sein Futter auf ihn wartete und duldete keine Verzögerungen.
„Große Mutter“, sagte Astri und wich ein wenig zurück. „Wie könnt Ihr nur auf diesem Ungeheuer reiten?“
Albin war zu atemlos vor Aufregung, um ihr eine Antwort zu geben. Er schaute sich nach allen Seiten um, doch niemand war da, der sie hätte belauschen können.
„Was treibt dich hier in die Ställe, Astri?“ fragte er. Nun lächelte sie noch breiter.
„Es ist ein schöner, klarer Tag“, sagte sie dann und beugte sich ein wenig vor. „Sicher kann man heute Abend nach dem Essen die Sterne sehen. Was meint Ihr?“
„Das mag wohl sein“, antwortete Albin.
„Der Wehrgang wäre wohl ein guter Platz dafür. Um die Sterne zu sehen, meine ich.“
Albin schluckte. „Das ist der beste Platz.“
„Fein. Dann werde ich das versuchen. Nach dem Abendessen“, wiederholte sie und nickte Albin vielsagend zu. Dann spazierte sie davon und Albin verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sein Buch.
Die Minuten schienen sich wie Stunden auszudehnen, während er wartete. Die Sterne waren tatsächlich zu sehen und glitzerten über ihm wie Diamanten auf einem schwarzen Tuch. Es war ziemlich dunkel, denn der Mond war nur eine schmale Sichel und auf dem Wehrgang brannten nur wenige Fackeln, die den Wachen ihren Weg erhellten. Albins Herz schlug laut und heftig gegen seinen Brustkorb. Beim Abendessen hatte er kaum einen Bissen herunter bekommen, doch er verspürte keinen Hunger. Als plötzlich eine Tür aufging und ein heller Lichtschein auf die Steinquader fiel, schnappte er nach Luft und richtete sich auf. Ihre Schritte waren kaum zu hören und sie trug einen weiten dunklen Umhang. Beinahe hatte sie ihn erreicht und Albin sah die einzelnen Haarsträhnen unter dem Saum der Kapuze, die im schwachen Licht wie flüssiges Gold schimmerten. Er kam auf sie zu und wollte etwas sagen, doch sie stürzte ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Hals. Albins Herz drohte zu explodieren. Heiße und kalte Schauer rannen über seine Haut. Sie duftete so gut.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie leise und er spürte ihren Atem an seinem Hals. Dann löste sie sich von ihm und schien sich zu sammeln.
„Wie geht es dir, Ami?“ fragte er und forschte in ihrem Gesicht, obwohl es ihn alle Mühe kostete, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie lächelte ein wenig.
„Es geht mir gut. Jetzt, wo wir uns endlich sprechen können“, sagte sie. „Danke für den Schmetterling.“
„Gern geschehen“, sagte Albin heiser. Er nahm ihre Hand, die so klein und zart in seiner war und zog sie in den Schatten der Mauer, wo die Wachen sie nicht sehen würden. „Jessy sagte mir, du hattest Streit mit deiner Mutter?“
„Ich will nicht darüber reden“, sagte Ami. „Erzähl mir lieber etwas von euch. Wie geht es allen? Und wie kommst du mit deinen Aufzeichnungen voran?“
Albin begann zu erzählen was sich in der letzten Zeit im Bergfried und im Kriegerlager zugetragen hatte. Ab und zu lachte Ami leise. Er beobachtete ihr Gesicht und versuchte, sich jede Einzelheit einzuprägen. Diese heimlichen Treffen gab es nur sehr selten und Ami ging ein hohes Risiko ein, sich davon zu schleichen. Außerdem brachte sie Albin in Gefahr. Aber manchmal schien ihre Einsamkeit so übermächtig zu werden, dass sie alle Bedenken beiseite schob. Das war Albin nur recht. Er hätte sich jeden Tag mit ihr getroffen, Gefahr hin oder her.
„Heute habe ich über den Birkenhain geschrieben. Erinnerst du dich?“ fragte er. Ami senkte den Blick, ihre langen Wimpern warfen Schatten auf die hellen Wangen. Sie wusste genau, worauf er anspielte.
„Ja, ich erinnere mich. Es war sehr schön. Ein verzauberter Ort.“ Sie seufzte. „Was gäbe ich darum, noch einmal dort sein zu können.“
„Dann gehen wir wieder dorthin“, sagte Albin leichthin.
„Ach Unsinn“, antwortete sie. „Wie sollte das den gehen?“
„Es ist mein Ernst! Wenn du Königin bist, reisen wir dorthin. Einfach so, ohne vor irgendetwas zu fliehen.“
Amileehna lachte. „Das sagst du doch nur, um mich aufzuheitern. Du weißt selbst, dass es unmöglich ist. Ich habe dann viel zu viele Aufgaben und kann nicht einfach so durch die Gegend reiten. Trotzdem würde ich es gerne noch einmal sehen.“
„Ich nicht“, sagte Albin. Die ganze Zeit über hatte er ihre Hand gehalten und ein Großteil seines Denkens konzentrierte sich auf diese winzige Berührung zwischen ihnen. Er streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Für mich ist jeder Ort verzaubert, an dem du bist.“
Hatte er das wirklich gesagt? Seine Kehle war ausgetrocknet. Amileehna schaute auf, das Licht ließ ihre Augen riesengroß und unendlich tief erscheinen.
„Ach, Albin“, murmelte sie. „Sag doch solche Dinge nicht.“
Er drückte ihre Hand noch fester, sagte aber nichts mehr. Sie in Verlegenheit zu bringen war nicht seine Absicht. In Wahrheit wusste er nichts über ihre Gefühle und ob sie in ihm mehr sah, als nur einen Freund. Und er hätte es niemals gewagt, sie zu bedrängen. Trotzdem spürte er, dass sie unruhig geworden war und ihre Finger von seinen löste.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie traurig.
Albin half ihr auf die Füße und ging ein paar Schritte mit ihr in Richtung der Tür. Sie schlug die Kapuze über ihr verräterisch helles Haar.
„Gute Nacht“, sagte er.
Amileehna zögerte einen Moment und schien hin und her gerissen zu sein. Dann gab sie ihm einen schnellen Kuss auf die Wange und huschte durch die Tür ins Innere der Burg. Albin blieb reglos zurück. Die Berührung ihrer Lippen brannte auf seiner Haut. Und doch erfüllte ihn wieder jene trostlose Leere, die er immer empfand, wenn sie ging.
Seufzend wandte er sich zur Mauer und stützte sich auf den Ellbogen ab. Unter ihm lag Ovesta, hell erleuchtet aus Tausenden von Fenstern. Weit in der Ferne sah er die nachtschwarzen Fluten des Alten Mannes, der die Stadt mit dem Meer im Westen verband. Das Wasser glitzerte im Schein der Sterne. Eine kalte Brise trug die Geräusche der Burg und den Geruch aus der Küche zu ihm heran. Lange Jahre hatte er sich nach nichts mehr gesehnt, als diesen Ort zu verlassen. Dann hatte ihn das Schicksal an die entlegensten Orte geführt und ihn jedes nur erdenkliche Abenteuer erleben lassen. Und nun war die Eisenfaust mehr denn je sein Zuhause, wo er sich wohl fühlte. Es schien ihm, dass er alles hier erst hatte verlassen müssen um seinen wahren Platz zu erkennen. Hier bei Amileehna zu sein und ihr zu helfen war richtig und wenn es der ganze Sinn seines Daseins sein sollte, war er damit mehr als zufrieden. Doch manchmal spürte er Rastlosigkeit. Dann blickte er wie jetzt über das weite Land hinweg und fragte sich, ob es nicht noch mehr dort draußen gab, das er sehen und erforschen musste. Vielleicht existierte noch eine andere Aufgabe für ihn, irgendwo hinter dem Horizont, in einer Welt, die er sich nicht einmal im Ansatz vorstellen konnte. Er hatte bereits so viel Unglaubliches gesehen und dennoch hatte er manchmal das Gefühl, dass das noch nicht alles war. Dass etwas auf ihn wartete. Nicht nur um Amileehna zu trösten erzählte er ihr die schönen Lügen von gemeinsamen Reisen, wenn sie einst Königin war. Es zog ihn fort. Doch das bedeutete, Amileehna zu verlassen.
Es war spät geworden und Albin wurde allmählich müde. Er stieg die schmalen Treppen im Inneren der Mauer hinunter und ging über den Hof zum Prinzenbau. Die Große Halle leerte sich langsam und viele Menschen spazierten im Fackelschein umher auf dem Weg in ihre Schlafräume. Doch im Prinzenbau herrschte Ruhe. Gedankenverloren wanderte Albin durch die Gänge, als er plötzlich die Stimme einer Frau hörte. Erschrocken über das Geräusch blieb er stehen. Doch der Gang vor ihm war menschenleer und auch hinter sich sah er niemanden. Hatte er sich womöglich nur eingebildet, jemanden sprechen zu hören? Er schauderte und wollte mit hochgezogenen Schultern weitergehen. Doch erneut erklang die Stimme direkt in seinen Gedanken. Er konnte keine Worte verstehen, doch er hörte an ihrem Klang die verschiedensten Gefühle. Wer auch immer da sprach, war voller Sorgen und Ängste. Verwirrt drehte Albin sich um die eigene Achse.
„Wer ist da?“ rief er. Seine Stimme hallte von den Steinwänden wieder.
Zuerst kam keine Antwort. Dann öffnete sich plötzlich weiter vorne in dem langen Gang eine Tür und ein Dienstmädchen kam heraus. Sie trug einen Korb über dem Arm und senkte sofort demütig den Blick, als sie Albin sah. Dann eilte sie an ihm vorbei. Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch ihr Gesicht spiegelte jene Verzweiflung wider, die Albin gespürt hatte.
„Was wenn er mich nicht liebt? Wenn er nur mit mir spielt? Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll…“
Albin wich an die Wand zurück. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Während die Schritte des Mädchens verhallten, stolperte er zu seinem Zimmer, flüchtete hinein und schob den Riegel vor, als könne er damit aussperren, was er befürchtete.
Man kann die Gedanken eines anderen Menschen nicht hören! Es ist einfach nicht möglich!
Doch es war möglich und obwohl es Albin noch nie zuvor passiert war, wusste er, dass es stimmte. Denn es passte zu all den anderen Dingen, die geschahen. Irgendetwas an ihm veränderte sich. Manchmal konnte er Dinge sehen, die viel zu weit entfernt für seine Augen waren. Ganz plötzlich trafen ihn Gerüche oder Geräusche wie Blitzschläge, denn sie waren viel zu intensiv für seine Sinne. Er hörte das Kratzen der Fledermäuse im uralten Gebälk des Bergfrieds - wenn er unten im Hof stand. Er roch die verwesende Maus, die eine Katze im Keller des Prinzenbaus vergessen hatte - von seinem Zimmer aus. Er sah die großen kreisrunden Augen einer Eule im Mondlicht schimmern, die hunderte Meter entfernt am Waldrand in einer Tanne saß. Jedes Mal, wenn es geschah, war Albin wie gelähmt von der Empfindung. Anfangs war es ihm gelungen, so zu tun, als wäre es nur ein Traum oder eine Einbildung gewesen. Es erfüllte ihn mit ohnmächtigem Schrecken, denn er hatte keinerlei Einfluss darauf und fühlte sich erschöpft und zerschlagen, wenn die seltsamen Eindrücke wieder von ihm wichen. Es schien, dass seine Sinne schärfer wurden, je mehr er seinen Körper stärkte. Warum sein Geist plötzlich dazu in der Lage war, all diese unmöglichen Dinge zu erfassen - dafür hatte Albin auch in der Bibliothek keine Erklärung gefunden. Denn er ging nicht nur so oft dorthin um sein Buch zu schreiben. Er suchte auch in den alten Schriften nach irgendwelchen Hinweisen. War es womöglich eine Krankheit, die ihn heimsuchte? Bisher hatte er mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Jessy. Und nun, da er offenbar sogar in der Lage war, die Gedanken anderer zu hören, war er froh darüber. Ein solches Geheimnis war gefährlich und konnte ihm mächtige Schwierigkeiten bereiten. Die Menschen sahen in ihm sowieso schon einen Außenseiter, dem man nicht trauen konnte. Solange er diese seltsamen Schübe jedoch in keiner Weise kontrollieren konnte, würde er damit sicher keinen Schaden anrichten.
Mit zitternden Fingern schenkte er sich einen Becher Wasser ein und führte ihn an die Lippen. Er fühlte sich wie ein Eindringling, weil er die intimen Gedanken des Mädchens belauscht hatte - auch wenn es gar nicht seine Absicht gewesen war. Am liebsten hätte er alles sofort vergessen. Doch das war unmöglich, denn so erschreckend all diese Veränderungen auch waren, sie machten ihn neugierig. Wie gerne hätte er mit jemandem darüber gesprochen, der weise und klug war. Meister Leoniss zum Beispiel, dem Oberhaupt der ostländischen Magier. Sicher hätte er Antworten gekannt oder zumindest einen Ratschlag für ihn gehabt. Doch Albin hatte keine Ahnung, ob ein Brief die Zitadelle im Ostland jemals erreichen würde und wie lange das dauerte. Womöglich blieb ihm doch nichts anderes übrig, als eine Reise zu machen…
Das Scheppern der beiden blechernen Topfdeckel, die Lando in unregelmäßigem Rhythmus gegeneinander schlug, hallte durch das gesamte Kriegerlager. Es hatte bereits unzählige Zuschauer angelockt, als Albin den Reitplatz erreichte und schnell war auch er seltsam gefesselt von der Darbietung. Er kannte diese Übung zu gut. Lando stand in der Mitte des Platzes und tat sein Möglichstes, die schwarze Stute zu erschrecken. Währenddessen war es die Aufgabe der Reiterin, Kontakt zu dem Tier zu halten. Jessys Blick war hochkonzentriert und nach innen gerichtet. Sicher hatte sie die vielen Augen gar nicht bemerkt, die sie beobachteten. Die Stute schnaubte und tänzelte, Schaum tropfte von ihrem Maul in den Sand. Doch auch ihr sah man an, dass sie versuchte, auf die Zeichen ihrer Reiterin zu achten und sich nicht von der angeborenen Panik überwältigen zu lassen. Albin beobachtete, wie Jessy die Lippen bewegte, konnte aber nicht hören, was sie sagte. Sie hielt die Zügel straff und saß aufrecht. Sie durfte in ihrer Entschlossenheit, das Pferd zu kontrollieren keine Sekunde lang wanken, sonst würde die Stute sicher durchgehen.
Lando verstärkte seine Bemühungen, das Paar aus der Fassung zu bringen, indem er anfing zu brüllen und einen Stock durch die Luft kreisen zu lassen. Die Stute wich zurück und warf den Kopf hoch. Jessy verlagerte ihr Gewicht und zog ihr Schwert. Das Pferd musste sich auch daran gewöhnen, wie ihre Reiterin sich verhielt, wenn sie kämpfte. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht und nun wusste das Tier plötzlich nicht mehr, in welcher Richtung es den Feind vermuten sollte. Lando traf es beinahe mit seiner stumpfen Waffe am Hals und sah, dass er dabei war, eine wichtige Grenze zu überschreiten. Die Stute rollte die Augen und begann, sich gegen das Gebiss zu sträuben. Der Stallmeister warf den Stock zu Boden und wich zurück. Er gab Jessy eine Anweisung und sie ließ die Stute antraben und ein paar entspannte Runden um den Platz drehen. Pferd und Reiterin wirkten sichtlich gelöst, als sie schließlich anhielten. Lando strich der Stute über den Hals und redete mit eindringlichem Blick auf Jessy ein, die ihm gebannt zuhörte. Dann war die Übungsstunde beendet.
Jessy stieg aus dem Sattel und kam auf Albin zu. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, doch sie lächelte.
„Es geht ganz gut, nicht wahr?“ meinte Albin, als sie nahe genug heran gekommen war. Sie nickte.
„Ja, ich glaube, er ist halbwegs zufrieden. Ich hätte nie gedacht, dass es so sein würde.“ Zärtlich strich sie dem Pferd über die Stirn. „Jetzt verstehe ich die Verbindung, die die Wölfe zu ihren Pferden haben.“
Sie wandten dem Kriegerlager den Rücken zu und gingen nebeneinander den Weg hinauf zur Burg. Es war ein sonniger Tag, aber eine kühle Brise trieb hellgraue Wolkenberge über den Himmel, die Regen bringen würden.
„Was gibt es Neues?“ fragte Jessy. Sie schien immer zu ahnen, wenn ihm etwas auf dem Herzen lag. Für einen Moment überkam Albin wieder das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen und über die Dinge zu sprechen, die mit ihm passierten. Sie war seine beste Freundin und kannte all seine Geheimnisse. Sie hatte ihn niemals verraten und würde ihn auch jetzt nicht im Stich lassen. Und trotzdem hielt ihn etwas zurück. Immerhin bestand die Gefahr, dass sie Rheys davon erzählte. Rheys legte immer Wert auf Ehrlichkeit aber noch mehr bedeutete ihm die Sicherheit von Amileehna und dem König. Wenn er eine Gefahr für sie witterte - und sei sie auch noch so klein - zögerte er nicht, sie auszumerzen.
„Beunruhigende Nachrichten aus Südland“, sagte Albin. Während er Jessy von seinem Gespräch mit Fabesto berichtete, verlangsamten sie ihren Schritt und setzten sich schließlich am Wegesrand nieder. Gemma begann zu grasen, während Albin die Situation erklärte. Wie immer lauschte Jessy ihm aufmerksam, während sie einzelne Grashalme ausrupfte. Ihre Hände waren schmutzig und unter den aufgekrempelten Ärmeln sah er, dass ihre Unterarme bereits von der Sonne gebräunt waren. Auch die Sommersprossen auf ihrer Nase, die im Winter fast verblasst waren, traten jetzt wieder hervor. Das lange dunkelbraune Haar hatte sie wie immer zurück gebunden, doch während des Reitens hatten sich einzelne Strähnen gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Sie war dünner geworden während des Winters und das mochte auch an dem Kummer liegen, der sie so sehr gequält hatte. Wie alle anderen hatte Albin versucht, ihr zu helfen und hatte doch warten müssen, bis die Wunden von selbst heilten. Im Nachhinein fand er es nur natürlich, dass sie irgendwann das Heimweh einholen musste. Immerhin war sie abgeschnitten von allen Menschen, die sie liebte. Trotzdem fand sie sich hier in Westland zurecht, obwohl alles, was sie erlebt hatte, die Grenzen ihres Verstandes überstieg. Die Welt aus der sie kam war völlig anders und doch bewegte sie sich mittlerweile in der Eisenfaust, als habe sie nie irgendwo anders gelebt. Er bewunderte sie immer für ihre Stärke. Schon oft hatte er den Gedanken gehabt, fortzugehen und ein neues Leben anzufangen. Jessy hatte das getan - wenn auch unfreiwillig. Und bis auf jene finsteren Wochen hatte sie noch keinen Moment lang mit ihrem Schicksal gehadert. Zumindest nicht nach außen hin. Jetzt wirkte sie erschöpft von ihrer Übungsstunde, aber auch lebendig und fröhlich. Es freute ihn, sie so zu sehen.
„Fabesto wird also um eine Audienz ersuchen und dem König alles berichten“, endete Albin. „Es ist besser, mit ihm unter vier Augen darüber zu sprechen, als die Sache im Kronrat vorzubringen.“
„Zu viele Geschäftemacher unter den werten Räten, ich weiß“, antwortete Jessy nickend. „Wird der König diese Neuigkeiten auch verkraften? In letzter Zeit wirkt er so, als kippe er in Kürze aus den Schuhen.“
Albin schmunzelte. Er wusste, dass sie nur mit ihm so daher redete und es niemals wagen würde, sich derart respektlos zu äußern, wenn sie jemand hören konnte.
„Du hast recht, er ist ziemlich angeschlagen“, stimmte er ihr zu. „Alle munkeln darüber und beobachten jeden seiner Schritte.“
„Was passiert, wenn er nicht mehr regieren kann? Kann er den Platz für Amileehna frei machen?“ fragte Jessy.
„Das könnte er, aber ich denke, er weiß selbst, dass das keine gute Idee ist“, meinte Albin. „Alle sehen, dass sie noch nicht soweit ist, den Thron zu besteigen. Sollte sie die Regierungsgeschäfte übernehmen, weil er es nicht mehr kann, wird das nur eine Formalie sein und in Wahrheit übernimmt der Kronrat alle Befugnisse.“
„Also hat sie erst freie Hand, wenn sie offiziell die Königin ist.“
„So ist es. Lass uns also hoffen, dass der König noch eine Weile in seinen Schuhen stehen bleibt.“
Jessy rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn.
„Dieser verrückte Futush… Was kann er nur wollen? Oder anders gesagt: Was wollen seine Magier?“ Jessy schauderte. Die Magier am Hof von Fürst Futush hatten sie mit einem Zauber belegt um sie in Samatuska zu halten. Diese schreckliche Erfahrung würde sie sicher niemals vergessen.
„Was hast du sonst gehört?“ fragte sie nun und schien ihre Erinnerung beiseite zu schieben. „Irgendwelche Intrigen gegen Ami?“
„Nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen“, meinte er. „Die Kronräte verhalten sich ruhig und umschmeicheln sie immer noch. Sie werden ihre wahren Gesichter erst zeigten, wenn es sein muss.“
„Die Hofdamen halten sie für ein hübsches Püppchen“, sagte Jessy mit leisem Zorn in der Stimme. „Ihr Geschwätz kann einen wahnsinnig machen. Wenn auch nur ein Mensch wüsste, wozu sie in der Lage ist…“
Auf ihrer gefährlichen Reise hatte Amileehna sich zuerst versteckt gehalten und den Tross heimlich verfolgt. Als man sie entdeckte und ihr Bruder Tychon eingewilligt hatte, sie mit zu nehmen, war sie geritten wie alle anderen, hatte gekämpft und alle Unannehmlichkeiten der Reise klaglos ertragen wie jeder Mann. Sie hatte die Entführung durch Banditen überstanden und mit blanker Klinge gegen Ungeheuer gekämpft, die Albin noch jetzt in seinen Albträumen heimsuchten. Viele in der Eisenfaust unterschätzten sie bei Weitem.
„Ich glaube, momentan ist ihr das selbst nicht mehr ganz klar“, sagte er besorgt. „Hoffentlich erinnert sie sich daran, was in ihr steckt, wenn es notwendig werden sollte.“
„Bestimmt“, sagte Jessy und lächelte ihm zu. „Und wenn nicht, sind wir beide ja da, um sie daran zu erinnern.“