Читать книгу Wolfsklingen - Julia Adamek - Страница 11

Kapitel 5

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Die Sonne war gerade erst aufgegangen, doch Jessy hatte für ihren Umzug absichtlich diese frühe Stunde gewählt. Die Chance, so früh der Königin zu begegnen, war mit Sicherheit sehr gering, denn in der Großen Halle war lange gefeiert worden. Bestimmt hatte auch Sílean sich nicht so schnell zurückziehen können, wie sonst. Sebel half ihr, das wenige Gepäck in den Palast zu bringen. Als Jessy feststellte, dass tatsächlich noch keine einzige Hofdame anwesend war, atmete sie auf. Nur Frau Dhanea befand sich im Salon vor Amileehnas Schlafzimmer. Wie immer tadellos gekleidet und mit strenger Miene erhob sie sich von ihrem Stuhl und trat Jessy entgegen. Heute versperrst du mir garantiert nicht den Weg, du alte Hexe, dachte sie. Frau Dhanea musterte sie von Kopf bis Fuß und als ihr missgünstiger Blick auf Schwert und Dolch an Jessys Gürtel fiel, presste sie die Lippen noch fester aufeinander. Eine Frau, die Waffen trug, war mehr als unüblich in Westland. Doch anstatt irgendetwas zu sagen, nickte sie nur knapp und machte den Weg frei.

Täusche ich mich, oder war da ein Hauch von Respekt in ihrem Gesicht zu sehen?“ raunte Jessy Sebel zu. Sebel grinste.

Jessy hob die Hand, doch noch bevor sie klopfen konnte, riss Amileehna die Tür auf. Sie strahlte.

Na endlich!“ rief sie und zerrte Jessy ins Zimmer. „Endlich bist du da! Ich bin so aufgeregt!“

Lächelnd stellte Jessy ihre Taschen ab und ließ Amileehnas Redeschwall über sich ergehen. Sie war unendlich erleichtert. Also war da doch noch ein fröhliches Mädchen in diesen Gemächern, das morgen seinen sechzehnten Geburtstag feiern, sich hübsch machen und bewundern lassen würde. Und das sich darüber freute. Morgen war der große Tag. Der Umzug durch die Stadt würde am Vormittag stattfinden, danach gab es ein großes Fest im Händlerviertel. Die wohlhabenden Bewohner dieser Gegend hatten vor vielen Jahrzehnten mitten im belebten Herzen von Ovesta einen schönen Park anlegen lassen. Dort waren Zelte und Tribünen errichtet worden und den ganzen Tag würde die Oberschicht dort mit den Burgbewohnern feiern. Am nächsten Tag dann das sagenhafte Bankett in der Eisenfaust, das schon am Nachmittag begann und wahrscheinlich bis zum Morgen dauern würde. Darauf folgte ein Tag, an dem Bürger aus Ovesta und ganz Westland Zutritt zur Großen Halle bekamen und der Prinzessin ihre Glückwünsche aussprechen konnten. Am Abend das nächste Fest…

Jessy wusste selbst nicht, wie sie diese ganze Woche überstehen sollte. Sie hoffte, dass Amileehnas Enthusiasmus lange genug anhielt. Wenn ihr das ständige Lächeln und Winken irgendwann zuwider wurden und sie genug hatte, wer war da wohl diejenige, die das lustlose Mädchen motivieren musste? Die treue Leibwächterin…

Sie verbrachten den ganzen Tag in Amileehnas Gemächern, wo letzte Hand an die festliche Garderobe der Prinzessin gelegt wurde. Die Schneiderinnen hatten sich selbst übertroffen und Jessy war tief beeindruckt.

Es ist fantastisch, Herrin“, sagte Astri und betrachtete das letzte Kleid, das Amileehna vorführte, mit großen Augen. Ehrfürchtig zupfte die Zofe an dem kostbaren Stoff herum. „Sie werden Lieder über Eure Schönheit schreiben.“ Obwohl es wie eine Schmeichelei klang, waren die Worte des Mädchens ernst gemeint. Und Jessy konnte dem nichts hinzufügen. Das Kleid war aus einem fließenden, metallisch glänzenden Material und zeigte alle farblichen Facetten von grün und blau. Es funkelte wie ein Edelstein. Die Kleider der Westländer waren auch bunt, aber die Farben waren natürlichen Ursprungs und wurden in sorgfältiger Handarbeit in die Stoffe eingearbeitet. Ein derart schillerndes Türkis konnte nicht einmal der erfahrenste Färber herstellen. Und doch hatte Jessy so etwas schon in dieser Welt gesehen.

Die Handelsstraßen nach Südland sind also noch offen“, murmelte sie.

Der Stoff kommt direkt aus Samatuska und hat ein Vermögen gekostet“, berichtete Astri. „Keine Dame in der Eisenfaust wird auch nur ansatzweise so prachtvoll aussehen.“

Sie raffte Amileehnas schulterlanges Haar zusammen und hielt es nach oben. Mit einer festlichen Frisur, die auch noch den schwanengleichen Hals der Prinzessin und ihre zarte, weiße Haut zur Geltung brachte, würde sie wirklich die Schönste von allen sein.

Jessy befühlte noch immer fasziniert den Stoff zwischen ihren Fingern. Die Westländer hatten Magie gänzlich aus ihrem Land verbannt. Bei Luxusgütern aus dem Südland, die offensichtlich mit Hilfe von Zauberei hergestellt wurden, machte man wohl eine Ausnahme. Aber das hatte wahrscheinlich bald ein Ende.

Fabesto hatte nach seiner Audienz beim König sofort Albin Bericht erstattet. Der König wollte abwarten, wie sich die Spannungen zwischen den beiden Ländern entwickelten. Wie immer zögerte er, aggressive Schritte einzuleiten. Aber sobald die Kaufleute besorgt genug waren, um sich offen an ihren Herrscher zu wenden, würde ihm nichts anderes mehr übrig bleiben, als zu handeln. Jessy hatte keine genaue Vorstellung, was das bedeutete. In ihrer eigenen Welt gab es Gipfeltreffen und zähe Verhandlungen, Demonstrationen und Machtspielchen, die sich fern von dem alltäglichen Leben der Bürger abspielten. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es hier ganz anders ablaufen würde. Sie kannte Futush, den impulsiven und unberechenbaren Fürsten aus Samatuska. Und sie konnte sich vorstellen, dass er nicht lange verhandelte, wenn er etwas wirklich haben wollte. Der Gedanke beunruhigte sie.

Nach dem Abendessen kehrten sie in Amileehnas Zimmer zurück. Jessy war müde. Es ging ihr auf die Nerven, den ganzen Tag im Haus zu sein. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und nahm etwas Brot von dem bereitgestellten Teller. Als Amis Leibwächterin saß sie natürlich nicht an der Tafel und speiste mit den Gästen, sondern stand hinter ihrem Stuhl und behielt den Saal im Auge. Zum Glück richtete sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden komplett auf Amileehna und niemand beachtete Jessy. Sie hatte versucht, all die Anweisungen zu beherzigen, die man ihr gegeben hatte, doch schon nach einer Stunde stellte sie fest, dass es schwer war, konzentriert zu bleiben. Alle in der Halle waren fröhlich und guter Dinge. Nicht der Hauch einer Gefahr lag in der Luft. Rheys saß ziemlich weit unten an der Tafel und Jessy wusste genau, dass er sie ständig beobachtete. Also gab sie sich Mühe, ihre Langeweile und Unruhe nicht nach außen dringen zu lassen. Der kühle Wein linderte nun ihre Anspannung und sie lauschte auf das gedämpfte Gespräch zwischen Astri und Amileehna, die im Nebenraum dabei waren, die Prinzessin bettfertig zu machen. All der Lärm und die Aufregung, die die Eisenfaust fest im Griff hatten, schienen weit weg zu sein, wenn man sich hinter diesen Türen verbergen konnte. Schließlich erschien Amileehna mit offenem Haar und in ein dünnes bodenlanges Nachthemd gehüllt, durch das sich ihr schlanker Mädchenkörper deutlich abzeichnete. Astri sagte ihnen gute Nacht und schloss leise die Tür hinter sich. Weil Jessy nun hier war, brauchte die Zofe nicht in Amileehnas Zimmer zu schlafen und räumte ihren Schlafplatz bereitwillig. Erleichtert zog Jessy ihre Stiefel aus.

Es ist unerträglich heiß hier drin“, sagte sie und zerrte an ihrem dicken Lederharnisch. Sie schwitzte entsetzlich. „Müssen wir so viele Kerzen haben?“

Nachdem sie zwei der fünf vielarmigen Leuchter gelöscht hatte, stieß sie das Fenster auf und stolperte plötzlich rückwärts. Ein erschrockenes Keuchen drang aus ihrer Kehle. Vor dem Fenster hockte ein dunkler Schatten. Jessy zückte ihren Dolch ohne darüber nachzudenken. Da tauchte ein bekanntes, sommersprossiges Gesicht aus der Dunkelheit auf.

Spinnst du?“ rief sie. „Ich hätte dich fast abgestochen!“

Während sie mühsam Atem holte, hörte sie hinter sich Amileehna aus dem Bett springen.

Albin!“

Guten Abend, Prinzessin“, sagte er und grinste. „Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt.“

Natürlich nicht“, antwortete Amileehna glücklich. „Es ist noch früh.“

Dann bist du nicht müde? Das ist gut. Ich komme um dich zu entführen.“

Amileehna lachte. „Mich entführen! Ich glaube, dafür bin ich nicht passend angezogen.“

Erst jetzt erinnerte sich Jessy an Amileehnas durchsichtiges Hemd. Sie hatte sich weitgehend von ihrem Schrecken erholt und stellte sich zwischen die beiden.

Was soll denn das, Albin?“ fragte sie wütend. „Machst du das öfter? Dich hierherein schleichen? Wenn dich jemand sieht…“

Keine Sorge“, beschwichtigte er sie. „Das ist das erste Mal. Allzu oft werde ich diesen Aufstieg sicher nicht wagen. Immerhin komme ich über das Dach und warte seit geraumer Zeit auf dem Fenstersims.“

Wohin gehen wir?“ fragte Amileehna neugierig. Sie war bereits dabei, sich Schuhe anzuziehen.

Das werde ich dir zeigen, wenn es soweit ist“, antwortete Albin geheimnisvoll.

Moment mal“, fuhr Jessy dazwischen und nahm den Arm der Prinzessin. „Du gehst überhaupt nirgends hin. Dachtest du ernsthaft, dass ich das erlaube?“

Albin zuckte die Schultern und grinste weiterhin spitzbübisch. Sicher hatte er sich das von Dennit abgeschaut.

Du sagst doch immer, du hältst nichts von den westländischen Anstandsregeln.“

Das tue ich auch nicht! Ich bin die letzte, die zwei jungen Leuten ihren Spaß verdirbt. Aber ich bin verantwortlich für Amis Sicherheit. Und bestimmt wollt ihr nicht, dass ich mitgehe.“

Ich würde sie niemals in Gefahr bringen“, sagte Albin ernst.

Jessy seufzte. „Das weiß ich doch. Trotzdem. Bringt mich bitte nicht in Schwierigkeiten.“

Jessy hat recht“, meinte Amileehna. „Es wäre dumm, aus dem Zimmer zu gehen. Obwohl ich es gern tun würde. Aber wenn uns jemand sieht, wäre das der Anfang vom Ende.“

Vielen Dank! Du hast es gehört, Albin. Verschwinde.“

Das würde ich ja“, sagte Albin und blickte über die Schulter in die Dunkelheit. „Aber es gibt ein kleines Problem.“

Und das wäre?“

Das Abendessen ist zu Ende und der ganze Hof ist voller Leute. Der Wehrgang ist erleuchtet, damit die Gäste sich nicht verirren. Wenn ich jetzt wieder auf’s Dach klettere, sieht mich jeder.“

Jessy kniff die Augen zusammen. „Das hast du dir wirklich geschickt ausgedacht.“

Sie packte seinen Arm und zog ihn durchs Fenster. „Komm schon rein, du Schwachkopf.“

Amileehna juchzte leise, als Albin ins Zimmer purzelte und half ihm auf die Füße.

Aber seid bloß leise!“

Damit nahm Jessy ihr Weinglas und zog sich in Amileehnas Ankleidezimmer zurück. Sie war nicht die Anstandsdame der Prinzessin und für Albin legte sie ihre Hände ins Feuer. Außerdem konnte sie von hier aus jeden Besucher abwimmeln, der sich jetzt noch hierher vorwagte. Wenn alles still wurde, konnte sie Albin unbemerkt hinaus schleusen. Sollten die beiden doch ein paar Stunden miteinander haben.

Sie setzte sich in einen Sessel und legte die Füße auf einen Hocker. Wenn sie so streng daher redete, hörte sie sich an wie Rheys. Wüsste er, was sie gerade getan hatte, würde er ihr den Hals umdrehen. Noch am Nachmittag hatte er ihr ausdrücklich aufgetragen, Albin in der nächsten Zeit von Amileehna fern zu halten, damit keine Gerüchte entstanden.

Gönnst du den beiden nicht mal ihre Freundschaft? Du weißt, Albin ist absolut vertrauenswürdig“, hatte sie ein wenig wütend entgegnet.

Das weiß ich natürlich. Aber wir sprechen immer noch von der zukünftigen Königin. Ihre Ehre darf nicht einmal ansatzweise in Frage gestellt werden. Und Albin ist kein standesgemäßer Umgang mehr für sie.“

Du bist wirklich ein Eisklotz“, sagte Jessy spitz.

Bin ich das?“ Plötzlich schien er belustigt und die Strenge wich aus seiner Stimme. Das Sonnenlicht ließ seine Augen verführerisch blitzen. Er saß so nah neben ihr, dass sie den Puls an seinem Hals sehen konnte. Am Nachmittag zeigten sich erste dunkle Barstoppeln auf seinen Wangen.

Jedenfalls bist du herzlos“, meinte sie, doch es klang schon nicht mehr gereizt.

Glaub mir, ich würde es den beiden ebenso gönnen wie du“, antwortete er. „Aber es geht nun einmal nicht.“

Er trank einen Schluck Wasser aus seiner Flasche und verkorkte sie.

Steh auf, wir sind noch nicht fertig.“

Jessy ergriff seine Hand und ließ sich aufhelfen. Zu gerne wäre sie sitzen geblieben, hätte die Ruhe des Waldes und den warmen Sonnenschein genossen. Doch wie immer war es kein Spaziergang, zu dem Rheys sie hierher gebracht hatte. Einige Meter entfernt rauschte ein Bach durch sein steiniges Bett, das beständige Murmeln und Plätschern begleitete sie schon seit einer Stunde. Jessy ging zu Gemma hinüber und löste den Strick, mit dem sie die Stute an einem Baum festgebunden hatte. Rheys’ Hengst war nicht angebunden. Er wäre niemals davon gelaufen und kam nun bereitwillig auf seinen Herrn zu. Jessy hatte mit Gemma den Bach durchquert, zuerst an einer flachen Stelle mit wenigen Steinen und sie hatte das Pferd geführt. Rheys wollte, dass die Stute noch mehr Vertrauen zu Jessy aufbaute.

Natürlich kannst du sie zwingen, dich überall hin zu tragen“, erklärte er. „Aber es ist besser, wenn sie es bereitwillig tut, weil sie weiß, dass du sie nicht in Gefahr bringst. Du musst ihr Ruhepol sein.“

Aber vielleicht bringe ich sie irgendwann in Gefahr“, wandte Jessy ein und erinnerte sich an die schrecklichen Schlachten, die sie mit ihrer treuen Lia durchgestanden hatte.

Ja und bis dahin muss sie gelernt haben, dass du das Leittier bist, dem man folgen kann. Tiere sind loyal bis ins Mark. Ihre Hingabe ist absolut bedingungslos und ohne Hintergedanken. Sie haben keine Launen und sind immer ehrlich. Wenn sie einem blind vertrauen, sollte man sie niemals enttäuschen.“

Du kennst dich mit der Liebe von Tieren gut aus“, neckte sie. „Viel besser als mit menschlicher.“

Dieser Bach ist übrigens eiskalt“, antwortete er trocken. „Du solltest dir deinen Spott sparen, sonst könnte es passieren, dass du nass wirst.“

Das würdest du nicht wagen!“

Doch er war bereits in den Sattel gestiegen und trieb sein Pferd weiter flussabwärts. Raba schoss aus dem Unterholz hervor und trabte an seiner Seite. Mit Tieren besaß er tatsächlich eine Engelsgeduld, wohingegen Menschen sich mit nur einem unbedachten Wort seinen Zorn zuzogen. Jessy wurde tatsächlich nass, denn ihre nächste Aufgabe bestand darin, mit Gemma durchs Wasser zu reiten.

Ich werde ertrinken“, wandte sie skeptisch ein, als Rheys auf die Stelle deutete, die er für die Durchquerung des Baches ausgesucht hatte. Ungerührt neigte er den Kopf.

Sicher nicht. Die Strömung ist hier sehr schwach. Und du sitzt auf dem Pferd, das tausendmal mehr Kraft hat als du. Wenn sie dich hinüber tragen will, wird sie es auch tun.“

Gemma wollte nicht und das machte sie auch sehr deutlich. Sie scheute und drehte sich im Kreis. Rheys ritt voraus, damit die Stute sich sicherer fühlte. Das Wasser reichte ihm bis knapp unter die Knie. Jessy schwappte es bis zu den Oberschenkeln, als sie schließlich doch in die Fluten ritt. Die Kälte durchdrang sofort ihre Hose und ließ sie keuchen. Gemma warf den Kopf hoch und weigerte sich, weiter zu gehen, als sie die Gewalt des Wassers fühlte, das ihre Beine umspülte. Jessy beruhigte sie und schließlich erreichten sie das andere Ufer. Sie freute sich über den Erfolg und lächelte Rheys zu. Er nickte zufrieden.

Und nun?“

Wir suchen uns eine sonnige Stelle, wo du deine Hose trocknen kannst.“

Jessy gab ihm einen Stoss. „Also darauf läuft das ganze hinaus!“

Er lachte und etwas in ihrer Brust zog sich zusammen. „Du wirst eine Woche bei der Prinzessin wohnen. Und ich bin immerhin kein Eisklotz.“

Trotz der friedlichen Stimmung und der herrlichen Mischung von Sonnenschein und Rheys’ Atem auf ihrer Haut gerieten sie später doch in Streit. Rheys erzählte ihr von dem berühmten Schwertkämpfer, der die Eisenfaust heimsuchen wollte. Er war der festen Überzeugung, dass der Mann Amileehna treffen und womöglich sogar unterrichten wollte.

Das ist doch großartig“, sagte Jessy. So wie Rheys über den Mann sprach, empfand er tiefen Respekt und Bewunderung für ihn und das kam bei Rheys selten vor. „Bestimmt kann sie eine Menge lernen.“

Sie ist keine Kriegerin“, wandte er ein. „Was auch immer er sie lehren will - sie wird es nicht brauchen.“

Jessy starrte ihn an. „Woher willst du das wissen? Was, wenn es irgendwann Krieg gibt? Soll sie dann in der Burg warten, bis irgendwelche Männer das für sie klären? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie das tun würde.“

Rheys Miene verfinsterte sich. „Bis sie Königin ist, werden noch Jahre vergehen. Wenn sie erwachsen ist, wird sie anders denken. Und verstehen, dass sie als Frau…“

Jessy setzte sich auf. „Was? Dass sie als Frau - was? Ich bin auch eine Frau und du lässt mich all das hier lernen, weil du denkst, ich kann es. Warum sollte sie es nicht können?“

Es wird nicht ihre Aufgabe sein. Sie hat andere, die für sie kämpfen.“

Jessy schüttelte den Kopf. „Alle maßen sich an, für sie zu entscheiden. Was sie tun und lassen soll, wen sie heiraten soll, wie sie sich benehmen soll. Das ist doch zum Kotzen.“

Rheys runzelte die Stirn, wie immer, wenn sie Ausdrücke gebrauchte, die er nicht kannte.

Sie ist die Prinzessin“, sagte er schroff. „Es gehört sich nun einmal so, dass andere für sie entscheiden.“

Sag du mir nicht, was sich gehört und was nicht“, zischte sie und zog ihre Hose an.

Er kniff die Augen zusammen. „Gibt es irgendetwas, was du mir sagen möchtest?“

Plötzlich spürte sie wieder eine Spur von der Kälte, die sie anfangs so schrecklich an ihm gefunden hatte. Alles in ihr strebte mit einem Mal von ihm fort, obwohl sie noch vor ein paar Minuten seine Nähe so sehr genossen hatte. Als sie nicht antwortete, klang seine Stimme eisig. Zu allem Überfluss schien er ihre Gedanken zu lesen.

Ich glaube nicht, dass ich dir jemals irgendetwas aufgezwungen habe. Und du hast immer gewusst, worauf du dich einlässt.“

Jessy antwortete immer noch nicht, sondern fuhr fort, sich hastig anzuziehen. Ein dicker Kloß saß in ihrer Kehle.

Vergiss es“, sagte sie lahm und ging zu ihrem Pferd. „Lass uns heim reiten.“

Schweigend kehrten sie in die Eisenfaust zurück. Jessy fühlte sich elend. Nein, er hatte sie nie gezwungen. Sie war es gewesen, die mit all dem angefangen hatte. Noch immer spürte sie Hitze in ihrem Körper aufsteigen, wenn sie an die schicksalhafte Nacht in Grimmstadt dachte, als sie in sein Schlafzimmer gekommen war. Wochenlang hatte er versucht, sie von sich fern zu halten. Ihm war immer klar gewesen, dass es kein Zurück mehr gab, wenn er seiner Begierde einmal nachgegeben hatte. Und schon nach kurzer Zeit war das auch Jessy bewusst geworden. Doch dass er kein Mensch für eine romantische Beziehung war, hatte sie ebenfalls gewusst. Und sie hatte es akzeptiert. Warum jetzt nicht mehr? Wenn er so abweisend und ruhig war, hasste sie ihn auf eine so leidenschaftliche Art und Weise, wie sie ihn auch liebte. Wie konnte man diese beiden Gefühle gleichzeitig für einen Menschen haben?

Sie hörte Amileehna und Albin im Nebenzimmer lachen. Ein gutes Zeichen. Stille hätte sie bedenklich gefunden. Eins war jedenfalls sicher. Sie würde dafür sorgen, dass Amileehna mit diesem Bran Borunpan kämpfen durfte. Ganz egal, wer etwas dagegen hatte.


Am nächsten Morgen jagte ein kalter Wind dicke, weiße Wolkenberge über den blauen Himmel. Jessy war schon beim Anziehen ihrer Uniform dankbar dafür, dass es kein sonnig heißer Tag werden würde. Sie schwitzte vor Nervosität und Anspannung. Im Innenhof der Eisenfaust drängten sich Menschen und Pferde und warteten auf den Beginn des Festzuges, an dessen Spitze Amileehna - gefolgt von ihren Eltern - durch die Stadt reiten und sich dem Volk präsentieren würde. Alle hatten sich herausgeputzt, Kleider und Hüte leuchteten in den verschiedensten Farben, Schmuck und Sattelzeug blitzten im Morgenlicht. Keiner der adligen Gäste ließ es sich nehmen, den Tross zu begleiten.

Da haben die Leute in der Stadt ja viel zu sehen“, brummte Bosco, der soeben Gemma aus dem Stall führte. „Sehen aus wie bunte Dschungelvögel, die edlen Herrschaften. Und machen ebensolchen Lärm.“

Jessy lächelte. Obwohl er es niemals deutlich sagte, war es für Bosco schwer, nicht mehr als Mitglied der Garde reiten zu können. Er blieb zwar ein Wolf bis zu seinem Tod und würde auch niemals den Respekt der Menschen verlieren, aber sein Schwert würde er nicht mehr erheben um irgendjemanden zu beschützen. Zumindest nicht bei offiziellen Anlässen wie diesem.

In Wirklichkeit bist du doch froh, dass du heute nicht mitreiten musst“, sagte sie leichthin. „Du kannst schon vor allen anderen auf der Festwiese sein und ein paar Krüge Bier trinken. Ist das nichts?“

Er warf ihr einen düsteren Blick zu und verschwand wieder im Stall um sich „den ganzen Blödsinn“ nicht länger anschauen zu müssen. Jessy konnte sich im Augenblick nicht auf seinen verletzten männlichen Stolz konzentrieren. Sie überprüfte Gemmas Sattelgurt und Zaum, nur um ihre Hände mit irgendetwas zu beschäftigen. Dass sie so aufgeregt sein würde, war eine Überraschung. Sie hatte geglaubt, sich völlig im Griff zu haben und dass es kaum etwas gab, was sie aus der Ruhe bringen konnte. Aber scheinbar lag sie damit völlig falsch.

Während die Gäste schwatzend beisammen standen und die Diener neugierig das Schauspiel im Hof beobachteten, versuchte Rheys zusammen mit Althan und dem Hauptmann der Palastwache, Ordnung in das Chaos zu bringen. Sie diskutierten und gestikulierten und Rheys gab seinen Männern knappe Anweisungen, die sofort befolgt wurden. Das Königspaar fuhr in einer offenen Kutsche aus dunklem, polierten Holz mit hellen Einlegearbeiten, die von vier Rappen gezogen wurde. Niemand anders als die Männer der Wolfsgarde durften sich während des Rittes diesem Gefährt nähern. Vor ihnen sollte Amileehna reiten, nur flankiert von Jessy und Rojan. Jessy war froh, dass ausgerechnet er dazu ausersehen war, an ihrer Seite zu sein. Wie immer ohne große Worte trat er nun zu ihr und nickte ihr zu.

Es wird schon gut gehen“, murmelte er ruhig, doch sie sah an dem seltsamen Glanz in seinen rauchgrauen Augen, dass er höchst konzentriert war und wahrscheinlich bereits tausend Dinge um sie herum wahrnahm, die sie nicht bemerkte. Wohlwollendes Gemurmel schwoll an, als der König und die Königin auf den Hof traten, beide in farblich abgestimmten rotgoldenen Gewändern, und ihre Kutsche bestiegen. An diesem Freudentag sah der König gar nicht so gebrechlich aus, wie in der letzten Zeit. Sein Haar und Bart waren frisch gestutzt und er bemühte sich, ohne seinen Gehstock zu laufen. Sicher hätte er sich seinen Untertanen gerne hoch zu Ross, als starker und ungebrochener Herrscher gezeigt. Aber die Menschen in Ovesta kannten die Wahrheit und wussten, dass Tychons Tod ihn gezeichnet hatte. Außerdem sollte Amileehna im Mittelpunkt stehen und man hatte daher auch zugestimmt, dass sie reiten durfte. Nun applaudierten die wartenden Gäste und jubelten fröhlich, als die Prinzessin auf den Steinstufen vor dem Palast erschien. Sie strahlte wie die Sonne selbst, ein Inbegriff von Jugend, Schönheit und Energie. Ihr rotes Reitkleid war mit goldenen Stickereien verziert und Edelsteine glitzerten in ihrem Haar, das in kunstvoll verschlungenen Locken auf ihre Schultern drapiert lag. Ihre Wangen leuchteten und ihr Lächeln war etwas unsicher, aber voller echter Freude auf diesen Tag. Jessy und Rojan kamen sofort an ihre Seite und brachten sie zu ihrer schlanken, hellbraunen Stute, deren silberweiße Mähne mit roten und goldenen Bändern geschmückt war. Jessy half Amileehna in den Sattel und drückte beiläufig ihre Hand. Doch Amileehna schien keine mentale Unterstützung zu brauchen. Dann jedoch wurde ihre Miene plötzlich starr und ihre Augen trüb. Die Menge teilte sich und Lando führte einen prächtigen, schneeweißen Hengst herbei, der nur ein Zaumzeug aber keine Sattel trug. Das war Tychons Pferd. Amileehna würde es am Zügel mit sich führen, als Zeichen, dass sie Tychon noch immer bei sich trug. Diese Geste war ihre eigene Idee gewesen und hatte den König sehr gerührt. Sicher würde auch das Volk die Prinzessin umso mehr lieben, wenn es sah, wie sehr sie noch immer um den Bruder trauerte, dessen Platz sie einnehmen sollte. Auch Lando schien tief bewegt, als er den silbernen Zügel locker um Amileehnas Sattelknauf schlang.

Der Zug formierte sich und als die Kapelle die ersten Takte eines fröhlichen Marsches anstimmte, öffneten sich die Tore und alle setzten sich in Bewegung. Kaum hatten sie die Burgmauern verlassen, ertönte ein heftiges, peitschendes Knallen. Jessy erschrak und zog instinktiv den Kopf ein. Waren das Kanonenschüsse? Schüsse, die es hier nicht geben durfte? Ihre Gedanken rasten, als sie versuchte, die Ursache des Lärms ausfindig zu machen. Doch dann nahm sie ein kaum merkliches Nicken von Rojan wahr. Er wies mit dem Kinn nach oben und Jessy erkannte, dass es nur der Wind war, der sich in den unzähligen bunten Bannern und Fahnen gefangen hatte und diese schnalzen ließ. Erleichtert stieß sie die Luft aus. Für einen Moment hatte sie sich an einen anderen Tag erinnert, als Kampfflugzeuge über die Eisenfaust hinweg gedonnert waren - unsichtbar in der nächtlichen Dunkelheit. Doch das war nun vorbei. Es würde keine unvorhergesehenen Überraschungen mehr aus ihrer Welt geben.

Die festlich geschmückte Straße, die Lebensader von Ovesta, war gesäumt von Tausenden von Menschen. Sie standen dicht gedrängt hinter den hölzernen Absperrungen, jubelten und schwenkten Fahnen und Hüte. An jedem Fenster und auf jedem Balkon hatten sich Zuschauer eingefunden. Jessy war schier überwältigt von der Menschenmenge. Die Zahl der Wachen, die die Straße freihalten sollten, war verschwindend gering im Vergleich zu der Masse an Stadtbewohnern. Jeder war gekommen um sich dieses einmalige Spektakel anzusehen. Ein Anflug von Panik überkam Jessy und sie ergriff die Zügel fester. Gemma warf ein wenig den Kopf hoch, als sie die Anspannung ihrer Reiterin spürte. Wie sollte Jessy hier irgendeinen Überblick behalten? Plötzlich stürzten alle Ratschläge und Anweisungen in ihrem Kopf durcheinander wie die Steine einer zusammenbrechenden Mauer. Wenn irgendjemand jetzt auf die Straße lief, Amileehnas Pferd erschreckte und ihr ein Messer in die Brust stieß - Jessy würde es nicht verhindern können. Kalter Schweiß stand auf ihrer Haut. Amileehna schien ebenso überwältigt.

Sind sie alle wegen mir gekommen?“ fragte sie staunend, doch Jessy erahnte ihre Worte mehr, als dass sie sie hörte. Der Jubel und Applaus vermengte sich mit der Marschmusik und dem Hufschlag dutzender Pferde auf dem blank polierten Pflaster zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Rojan lehnte sich im Sattel vor und zog so ihren Blick auf sich. Mit zwei Fingern deutete er auf seine Augen und beschrieb einen kleinen Kreis, der ihn, Jessy und Amileehna einzuschließen schien. Jessy nickte. Nur was direkt in ihrer Nähe war, bedeutete Gefahr. Zu beiden Seiten der Straße lagen mehrere Meter zwischen ihnen und den wogenden Menschenmassen. Erst wenn jemand diese verbotene Zone betrat, musste sie handeln. Hinter ihr ritt die komplette Königsgarde und prüfte die Fenster und Dächer auf mögliche Bogenschützen. Wenn jemand sich Amileehna näherte, würde es nur wenige Sekunden dauern, bis die anderen bei ihr waren. Dieser Gedanke ließ Jessy schlagartig zur Ruhe kommen. Zum ersten Mal verstand sie, was die Wölfe an ihrem Rudel so sehr schätzten. Nichts verschaffte einem ein größeres Gefühl völliger Sicherheit als das blinde Vertrauen, das sie verband.

Sie bewegten sich im Schritttempo vorwärts und mit jedem Meter schien sich Amileehna wohler zu fühlen. Ihr Lächeln wurde entspannter und sie begann zu winken. Jessy gelang es, einzelne Wörter aus dem Stimmengewirr heraus zu hören und dabei ging es ausnahmslos um die Schönheit und Pracht der zukünftigen Königin. Jessy hatte jedes Zeitgefühl verloren, sie konzentrierte sich nur noch darauf, die unmittelbare Umgebung im Auge zu behalten. Erst als sie zu der von Rheys so oft angesprochenen Stelle kamen, wo die Häuserreihen sich zueinander neigten, hob sie den Kopf und bemühte sich, einen durchdringenden Blick in jedes einzelne Fenster zu werfen. Doch alles, was sie sah, waren lachende Gesichter. Als plötzlich die laute Musik der vor ihnen marschierenden Kapelle verstummte, blinzelte Jessy überrascht. Aber sie waren tatsächlich schon am Ziel angekommen. Vor ihnen lag der Park mit seinen grünen Wiesen, Teichen und hohen Bäumen. Dazwischen standen die Festzelte und Buden. Das größte Zelt war nach einer Seite hin offen, so dass die königliche Familie mit ihren Gästen während des Essens das Treiben draußen beobachten konnte. Jessy hatte gehofft, dass sie sofort hineinschlüpfen konnten, Amileehna sich brav auf ihren Stuhl setzte und dort für den Rest des Tages sitzen blieb. Doch es hatten sich bereits mindestens hundert Städter eingefunden um auf das Eintreffen der Prinzessin zu warten. Als diese nun erschien und vom Rücken ihres Pferdes stieg, strömten sie aus allen Richtungen herbei. Jessy schob sich vor Amileehna und zog ihr Schwert, doch bevor jemand ihnen zu nahe kommen konnte, hatten die Männer von der Stadtwache, die hier zuständig waren, bereits eine Kette gebildet und hielten die Leute zurück. Die Enttäuschung auf den Gesichtern ließ Jessy plötzlich innehalten. Peinlich berührt steckte sie ihre Waffe ein. Was für ein Unsinn, sich gegen diese netten und friedlichen Menschen mit blanker Klinge verteidigen zu wollen.

Können wir sie nicht etwas näher herankommen lassen?“ fragte Jessy. „Amileehna könnte doch ein paar Hände schütteln.“

Ja, das würde ich gerne“, rief die Prinzessin.

Rojan schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Anordnung“, sagte er nur.

Ich kann mir schon denken, wer das angeordnet hat“, murmelte Jessy. Und da kam Rheys in gewohntem Laufschritt auf sie zu. Bevor Jessy ihre Idee vorbringen konnte, versuchte er schon, sie in das Zelt zu schieben. Inzwischen waren auch alle anderen Reiter abgestiegen und die adligen Gäste begannen, sich ihre Plätze für den Festschmaus zu suchen. Jessy beobachtete, wie die Wachen die Besucher immer weiter zurückdrängten, um Platz zu schaffen und dabei fiel ihr Blick auf ein kleines Mädchen, das einen Blumenstrauß an die Brust drückte. Sowohl das hübsche Kleid als auch der Strauß hatten unter dem Geschiebe und Gezerre in der Menge schon gelitten, doch am meisten rührte Jessy das traurige Gesicht, des Kindes, das sich so auf diesen Moment gefreut hatte. Sie versuchte, Rheys zurück zu halten, doch er hörte sie nicht. Da löste sich ein hochgewachsener Mann aus der Menge der Edelleute und ging mit zielstrebigen Schritten auf das Mädchen zu, schob den Wachmann zur Seite und kniete vor dem Mädchen nieder. Jessy hatte ihn noch nie gesehen, er trug schlichte, aber edle Lederkleidung und ein weißes Hemd. Das kleine Mädchen nickte und seine Augen strahlten plötzlich. Der Mann hob es hoch und trug es zu ihnen herüber. Amileehna, die ebenfalls alles beobachtet hatte, schob Rheys und Rojan zur Seite und kam dem Kind freundlich lächelnd entgegen. Jessy warf Rheys einen erschrockenen Blick zu. Hoffentlich verdarb er diese schöne Situation jetzt nicht. Wütend verschränkte er die Arme, sagte aber nichts. Amileehna nahm den Strauß entgegen und gab dem Kind einen Kuss auf die Wange. Die umstehenden Menschen lachten und applaudierten und der Zorn der zurückgewiesenen Menge schien sich zu legen. Freudestrahlend rannte das Mädchen mit flatternden Röcken zurück zu seiner Familie.

Darf ich erfahren, was das sollte?“ fuhr Rheys den fremden Mann an.

Dieser schien nicht im Mindesten eingeschüchtert, obwohl Rheys seine bedrohlichste Miene aufgesetzt hatte. Wenn er in solcher Stimmung war, wich Jessy immer noch instinktiv vor ihm zurück. Obwohl sie selten der Grund für seine Wut war.

Das Mädchen wollte der Prinzessin Blumen bringen“, antwortete der Mann. Er war ebenso groß wie Rheys und hatte dunkelblondes Haar, das ihm bis auf den Hemdkragen fiel. Auf seinen Lippen lag ein verschmitztes Lächeln. Jessy fühlte sich an irgendjemanden erinnert, kam aber nicht darauf, wer es war.

Das habe ich selbst gesehen“, schnauzte Rheys. „Die Prinzessin empfängt Gratulationen aus dem Volk erst übermorgen. In der Burg. Jeder, der sich ihr nähert, muss vorher überprüft werden.“

Völlig ungerührt von dem gefährlichen Tonfall legte der Mann Rheys freundschaftlich den Arm um die Schulter. „Es war doch nur ein kleines Mädchen, Mann. Sie sah mir nicht aus, als hätte sie einen Dolch unter ihrem Kleidchen versteckt. Sei mir nicht böse. Hast du nicht gesehen, wie sie sich gefreut hat?“

Nein, schoss es Jessy durch den Kopf. Natürlich hat er das nicht gesehen. Oder doch, und es war ihm einfach egal. Eilig schob sie den Gedanken beiseite. Rheys schüttelte den Arm ab.

Wenn ich eine Anweisung gebe, die der Sicherheit der Prinzessin dient, wird jeder sie befolgen“, sagte Rheys. „Das gilt auch für Euch. Keine Ausnahmen.“

Dann wandte er sich brüsk ab und dirigierte Amileehna in das Zelt, die jetzt willig folgte. Jessy blieb zurück. Drinnen würde Ami sicher nichts geschehen und sie brauchte einen Moment um sich zu sammeln.

So wie wir ihn kennen und lieben“, murmelte sie und fühlte plötzlich, wie großen Hunger und Durst sie hatte und wie anstrengend die letzten Stunden für sie gewesen waren.

Ihr seid die Leibwächterin der Prinzessin“, sagte der Mann neben ihr, den sie schon fast vergessen hatte. „Ist es wirklich so schlimm, was ich getan habe?“

Jessy wandte sich zu ihm um. Er lächelte noch immer. „Unsinn“, sagte sie. „Es war doch nur ein Kind. Ich fand es sehr nett, dass Ihr das gemacht habt. Rheys ist ein bisschen… übervorsichtig.“

Im Grunde hat er ja recht“, fuhr er fort. „Aber manchmal denke ich nicht so viel nach und dann tue ich ziemlich dumme Dinge.“ Er hob entschuldigend die Schultern. Jessy lächelte. Er war so sympathisch, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. „Aber es hätte mir das Herz gebrochen, wenn das kleine Mädchen geweint hätte. Übrigens ist es mir eine große Ehre, Euch kennen zu lernen. Mein Vater hat viel von Euch gesprochen. Nur in den höchsten Tönen versteht sich.“

Und wer ist Euer Vater, wenn ich fragen darf?“ Jessy hatte keine Ahnung, was die vielen unterschiedlichen Wappen zu bedeuten hatten und sie kannte auch dieses nicht, das auf seinem Wams zu sehen war.

Ihr habt ihn auf Eurer Reise kennen gelernt. Alle nennen ihn nur Herr Efrem. Ich bin sein Sohn, Mael.“

Ich dachte schon, dass mir irgendetwas in Eurem Gesicht bekannt vorkommt. Ihr seht ihm ähnlich. Vielleicht kann ich ihn in den nächsten Tagen treffen. Es würde mich freuen, ihn wieder zu sehen.“

Sie hatte tatsächlich nur gute Erinnerungen an den offenen, lustigen Mann aus den Wäldern.

Er wird sich bestimmt darum bemühen. Aber ich glaube, Ihr werdet Tag und Nacht an der Seite der Prinzessin sein“, sagte Mael. „Und somit für jedermann ständig zu sehen.“

Jessy zog eine gequälte Grimasse. „Das befürchte ich auch. Und jetzt sollte ich, glaube ich, auf meinen Posten hineingehen. Macht Euch keine Gedanken wegen Rheys. Er beruhigt sich wieder.“

Ich bewundere ihn sehr“, sagte Mael plötzlich ernst. „Er hat Euch angeführt im Kampf gegen Skarphedinn. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.“

Jessy musterte ihn erneut. Seine Worte waren so unverstellt ehrlich, sein Blick so offen und freundlich. Er erinnerte sie an Tychon. Nur dass Tychon ein Junge gewesen war, gerade zwanzig. Mael war ein erwachsener Mann.

Wünscht Euch das lieber nicht“, sagte sie bitter, denn die Erinnerung senkte sich wie ein finsterer Schatten auf ihr Gemüt.

Verzeiht mir“, sagte Mael leise. „Ich wollte nicht respektlos erscheinen.“

Schon gut. Ich muss jetzt wirklich gehen.“

Eilig ging sie in das inzwischen gut gefüllte Zelt und versuchte die düsteren Bilder abzuschütteln. Warum musste sie ausgerechnet an diesem wichtigen und schönen Tag an Tychons Tod und die schrecklichen Kämpfe erinnert werden? An all das Blut und die Angst? Sie schüttelte heftig den Kopf, um die Gedanken daran zu verscheuchen. Mael traf keine Schuld, er hatte nicht gewusst, was er mit seinen Worten auslöste. Jessy widerstand dem Wunsch, sich noch einmal nach ihm umzuschauen. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie in ganz Westland noch keinem so durch und durch netten Menschen begegnet war.

Wolfsklingen

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