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Kapitel 2

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Wie in Trance stieg Falk unter dem lauten Rufen und Johlen des versammelten Mobs die Stufen zum Blutgerüst hinauf. Ein Priester hielt ihm ein Kruzifix entgegen und plapperte unaufhörlich das Vaterunser vor sich hin, ohne den Verurteilten dabei wirklich anzublicken. Nachdem sein Onkel gegangen war, hatte er die gesamte Nacht auf dem Boden gesessen und vor sich hingestarrt, jegliche Gedanken vollkommen aus seinem Bewusstsein ausschließend. Er spürte nicht, wie die Kälte sich in seine Knochen fraß. Sein Inneres war regelrecht eingefroren und nicht mehr empfänglich für irgendwelche Reize von außen. Als sie ihn am Morgen aus seiner Zelle holten, ließ er sich widerstandslos nach draußen führen. Er hatte mit der Welt abgeschlossen und sämtliche Gefühle aus seiner Brust verbannt.

Die Waffenknechte zerrten an seinen Stricken, mit denen man ihm Hände und Füße zusammengebunden hatte. Sie stießen ihn vor einen Holzblock, der bereits von tiefen Scharten gezeichnet war. Nikel Jobst, der Amtmann des Gaugrafen, stand in einiger Entfernung vom Richtblock. Mit einem kurzen Wink seiner rechten Hand gebot er einem Gerichtsdiener die Trommel zu schlagen, so dass die Menge langsam verstummte.

„Habt Ihr noch etwas zu sagen, Falk von Schellenberg?“, fragte er mit dröhnender Stimme, nicht wirklich eine Antwort erwartend. Ohne den Mann anzusehen, schüttelte Falk stumm den Kopf. Langsam ließ er unter gesenkten Lidern heraus den Blick über den Platz schweifen. Die Hinrichtungen in Louny fanden auf dem Marktplatz des Fleckens statt, der von einfachen Fachwerkhäusern begrenzt wurde. Bei einem steinernen Haus, dass, etwas losgelöst von den anderen, direkt gegenüber der Richtstätte stand, verharrte er. An einem geöffneten Fenster im oberen Stockwerk des Gebäudes erkannte Falk Miro. Hier residierte der Gaugraf, wenn er zu Geschäften in Louny weilte. Langsam kam wieder Leben in Falk. Er hob stolz den Kopf und starrte seinen Erzfeind so eindringlich an, dass diesem ein Schauer über den Rücken lief. Ärgerlich gab Miro dem Amtmann ein Zeichen, endlich mit der Hinrichtung fortzufahren. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Es schien ihm gefährlich, noch länger zu warten, denn mit Sicherheit würde Falks Onkel alles versuchen, seinen Neffen doch noch vor dem Tod zu bewahren. In seiner Angst, dass zu guter Letzt etwas schiefgehen könnte, hatte er nicht bemerkt, dass Friedrich von Chomotau in der Menge stand und traurig das Geschehen beobachtete, ohne Hoffnung, dass doch ein Wunder eintreten und Falk die Rettung bringen würde.

Die Knechte stießen den Ritter nach vorn und zwangen ihn, sich vor dem Richtblock niederzuknien. Wieder fuchtelte der Pfaffe mit dem Kreuz vor dessen Gesicht herum. „Lass es, zum Teufel“, zischte Falk mit drohender Stimme. Der Geistliche sprang erschrocken zurück und schlug mehrmals hintereinander das Kreuz.

„Heilige Mutter Gottes. Der Böse hat bereits Besitz von ihm genommen“, stieß er mit heiserer Stimme hervor. „Ihr solltet Euch sputen, Henkersmeister, bevor er uns alle verflucht.“ Hektisch flog sein von Panik gezeichneter Blick zwischen dem Scharfrichter und dem Amtmann hin und her.

„Waltet Eures Amtes, Meister Peter“, wies nun auch der Büttel den Henker an. Der Mann trat hinter Falk und ließ sich von seinem Gehilfen das Richtschwert reichen. Gerade hub er an, den Verurteilten um Vergebung zu bitten für sein Tun, da kam Bewegung in die Menge. Eine junge Frau zwang sich durch die Reihen und rannte direkt auf das Schandgerüst zu.

„Haltet ein!“, rief sie. Ihr Schleier war vom schnellen Laufen verrutscht. Lange glänzende Flechten fielen ihr über den Rücken. Mit einer Hand die Kopfbedeckung haltend, mit der anderen den Rock raffend, erklomm sie die Stufen des Schafotts. Die Waffenknechte wollten nach ihr greifen, doch wich sie ihnen geschickt aus. Nikel Jobst war zu verblüfft von dem Geschehen, als dass er der Sache Einhalt gebieten konnte. Oben angekommen, warf sich das Mädchen vor dem Scharfrichter auf die Knie und deutete auf Falk.

„Es ist mein gutes Recht, diesen armen Sünder vom Halsgericht loszubitten, wenn ich ihn zum Manne wähle.“ Demütig senkte sie den Kopf.

Meister Peter war ratlos. So etwas hatte er in seinen ganzen Jahren als Henker noch nicht erlebt. Doch wusste er, dass es Brauch war, den Verurteilten mittels Heirat freikaufen zu können. Aber eigentlich ging das nur, wenn der Henker selbst einer Delinquentin die Ehe antrug, eventuell konnte die Tochter des Scharfrichters einen Mann erbitten. Aber ein vollkommen fremdes Mädchen? Doch eigentlich war er es leid, sein ganzes Leben lang Menschen zu Tode zu befördern und für immer aus der Gesellschaft der ehrbaren Menschen ausgeschlossen zu sein. Er hatte sich seinen Beruf nicht ausgesucht, sondern ihn von seinem Vater übernommen. Die Gesetze forderten, dass der älteste Sohn des amtierenden Henkers bei dessen Tod diese Pflicht übernahm. Und so musste auch Peter bereits in jungen Jahren die „Geschäfte“ seines Vaters weiterführen. Welch wunderbare Gelegenheit, einmal etwas Gutes zu tun und sich wenigstens von einer Sünde reinzuwaschen, dachte er bei sich.

Durch die Menge ging ein Raunen. „So ist es Brauch!“

„Ja, lasst ihn frei!“

„Nein, wir wollen den Hurensohn sterben sehen!“

„Er muss büßen. Er hat unsre Kaufleute überfallen.“

„Das hat sich der Gaugraf bestimmt nur ausgedacht!“ Die Rufe wurden immer lauter. Es bildeten sich zwei Lager heraus, die einen wollten, dass Falk freikam, die anderen zweifelten an der Rechtmäßigkeit der Sache. Nikel wies den Henker an, mit seiner Arbeit zu warten.

Miro von Louny beobachtete mit erstarrter Miene das Geschehen. Das durfte doch nicht wahr sein. Was sollte das nun schon wieder? Bekam er seine Rache nie? Er trat in den Raum zurück und rief nach seinem Diener. „Hole mir den Amtmann herauf“, wies er diesen barsch an, als der Bursche seinen Kopf zur Tür hereinsteckte.

Nikel Jobst klopfte zaghaft an die Tür. Er wusste nicht, ob es Rechtens war, dass das Mädchen um das Leben des Verurteilten bat. Doch wollte er die Sache nicht allein entscheiden, das war Aufgabe des Gaugrafen.

„Kommt rein, Nikel“, rief Miro. „Und schließt die Tür. Ich brauche keine unliebsamen Zeugen unserer Unterhaltung.“

Der Amtmann trat vorsichtig in die Kammer, seine Kopfbedeckung nervös mit den Händen knetend. Ängstlich blickte er seinen Herrn an.

„Was wisst Ihr von so einem Brauch, Nikel Jobst?“, fragte der Gaugraf ungehalten, sah er doch jetzt seine gesamten Pläne in Gefahr.

„In meiner langen Zeit als Amtmann hatten wir so einen Fall noch nicht“, begann Nikel unsicher. „Doch in Prag ist es vor Jahren dazu gekommen, dass der Sohn des Stadtvogts, der wegen Todschlags auf das Rad geflochten werden sollte, von der Henkerstochter zum Manne gewählt wurde. Daraufhin ließ man ihn frei. Allerdings wurden beide aus der Stadt gejagt.“ Nikel atmete tief durch. „Auch hatte man ihm die Knochen von Armen und Beinen schon mit einem Hammer zerschlagen, so dass ich nicht weiß, ob er die Sache überhaupt überlebt hat“, setzte er hinzu. „Das Weib hat ihn in einem Karren fortgebracht.“

„Von der Henkerstochter, was?“, fragte Miro listig. „Und, ist es die Henkerstochter, die um Falks Leben bittet?“ Höhnisch schnaubend verzog er die Lippen zu einem spöttischen Lächeln.

„Ich weiß nicht, Herr“, antwortete der Amtmann vorsichtig.

„Dann bringe es in Erfahrung“, schnauzte der Gaugraf den Mann an. „Und ist sie es nicht, dann weise den Scharfrichter an, endlich seine Sache zu Ende zu bringen.“ Miro war sich vollkommen sicher, dass es nur noch kurze Zeit währen würde, bis sein ärgster Feind vom Leben zum Tode befördert wurde.

Falk hatte die Angelegenheit nur von Ferne wahrgenommen und es dauerte einige Zeit, bis er registrierte, dass das Mädchen gerade um sein Leben bettelte. Verwundert drehte er sich um, soweit es seine Fesseln zuließen, und betrachtete sie. Die junge Frau mochte ungefähr zwanzig Jahre zählen. Sie war eher von kleiner Gestalt, schlank und zierlich. Genau ließ sich das nicht sagen, da ihr Gewand unförmig und zerschlissen war. Ein dunkelblauer Schleier verdeckte ihr Haar nur zum Teil und die ersten Strahlen der sich über den Platz erhebenden Sonne ließen es rotgolden aufleuchten. Falk meinte sogar einen hellen Schein über ihrem Kopf wahrzunehmen. Erstaunen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und so etwas wie Hoffnung begann in seiner Brust aufzukeimen. Er betrachtete sie genauer. Er konnte sich nicht erinnern, dieses Mädchen schon einmal gesehen zu haben und dennoch kam sie ihm irgendwie bekannt vor. Das schmale blasse Gesicht mit den riesigen grauen Augen, die zierliche kleine Stupsnase und der im Vergleich dazu relativ große, hübsch geschwungene Mund, der ihrem Gesicht einen energischen, wenn auch etwas herben Zug verlieh. Nein, direkt schön war sie nicht. Und dennoch faszinierte ihn ihre Erscheinung.

Meister Peter beugte sich zu der am Boden Knienden herab und zog sie beinahe liebevoll auf die Beine. Sie drohte zu straucheln und hielt sich am Arm des Henkers fest. Die Menge, welche bis jetzt regelrecht den Atem angehalten hatte, stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Niemand wagte es, den Henker zu berühren. Das galt als vollkommen unmöglich, da man dadurch selbst zu einem unehrlichen Menschen wurde und fortan aus der Gesellschaft ausgeschlossen war. Wer war diese Frau? Noch nie hatte sie jemand in Louny gesehen. Stimmte es wirklich, dass sie den Delinquenten vom Henker freibitten konnte? Mit Spannung harrten die Menschen, wie sich die Angelegenheit wohl weitergestalten würde und sie warteten ungeduldig auf die Rückkehr des Amtmanns.

Nikel Jobst eilte über den Platz und erklomm das Blutgerüst. In einem angemessenen Abstand blieb er vor Meister Peter stehen. Er fixierte das Mädchen mit einem strengen Blick, der allerdings seine ganze Unsicherheit offenbarte. Der Henker lauerte gespannt darauf, welche Nachricht der Amtmann verkünden würde. Er glaubte nicht daran, dass Miro von Louny sich von einem Mädchen davon abbringen ließ, seinen Kontrahenten zu beseitigen. Meister Peter wusste nur zu gut aus zuverlässiger Quelle, dass Miro an Falk ein Exempel statuieren wollte, gewissermaßen als Demonstration seiner Macht. Wieso aber gerade Falk, selbst ein Ministeriale des Königs, in die Fänge des Gaugrafen geraten war, das entzog sich seiner Kenntnis. Doch insgeheim bewunderte er die gelassene Haltung seines Gefangenen, über den er selbst noch nie etwas Negatives gehört hatte. Er wäre nicht gerade böse darüber, dieses eine Mal sein Handwerk nicht ausüben zu müssen, denn Miro von Louny war ein übler Geselle, der mit großer Grausamkeit in seinem Gebiet herrschte.

„Was willst du, Mädchen?“, begann der Amtmann ungehalten. „Wer bist du überhaupt, dass du es wagst, dieses Halsgericht zu stören? Weißt du nicht, dass dieser Mann hier ein berüchtigter Raubritter ist, den Gott nun seiner gerechten Strafe zuführt?“ Er schaute das Mädchen streng an. Fast hätte der Henker gelacht, denn das Weib starrte nur herausfordernd zurück, ohne die geringste Ehrfurcht vor dem Amt des Büttels an den Tag zu legen. Die Sache begann ihm Spaß zu machen. Er schaute kurz zu Falk, der etwas verwirrt dreinblickte. Doch schien der Ritter gefasst und Meister Peter zweifelte nicht daran, dass dieser ganz genau registrierte, welche Gelegenheit sich ihm hier bot, sein Leben behalten zu können.

„Es gilt von alters her, dass ein Verurteilter vom Halsgericht freikommen kann, wenn sich jemand dazu bereit erklärt, den armen Sünder zu ehelichen“, sagte die junge Frau trotzig mit fester Stimme. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Meister Peter sehen, dass Falk mühsam schluckte. Ob aus Angst davor, vom Regen in die Traufe zu kommen, weil diese Maid ihn zum Manne wollte, oder aus der verzweifelten Hoffnung heraus, nun doch sein Leben behalten zu können, das vermochte er nicht zu sagen. Aber er nahm an, dass Falk mit Sicherheit unter allen Umständen das Leben wählen würde, selbst wenn die Frau alt und hässlich gewesen wäre.

„Weißt du nicht, dass nur der Henker selbst oder dessen Tochter einen Verurteilten heiraten kann?“, hörte er den Amtmann fragen. „Und, bist du die Tochter des Henkers? Wir haben dich hier noch nie gesehen.“ Triumphierend schaute Nikel Jobst in die Menge, die das Spektakel begeistert verfolgte. Der Henker sah, dass die junge Frau blass wurde und verzweifelt nach Argumenten suchte. Und so beschloss Peter, dem Mädchen zu helfen und die ganze Angelegenheit ein wenig zu beschleunigen.

„Sie ist meine Tochter“, sagte er mit fester Stimme.

Die Brauen des Amtmannes fuhren in die Höhe. „Eure Tochter...?“, fragte er verblüfft.

Auch die junge Frau schaute ihn mit fragendem Blick an, war aber schlau genug, den Mund zu halten.

„Wieso ist sie Eure Tochter?“, fragte Nikel Jobst etwas dümmlich.

„Nun, wie wird sie wohl meine Tochter sein“, fuhr Meister Peter belustigt fort. „Meine Frau, Gott hab sie selig, und ich...“

„Ja, ja. Es reicht. Was ich meinte, war, dass hier bisher niemand wusste, dass Ihr eine Tochter habt.“

„Nun, was das betrifft, so habe ich es auch nie an die große Glocke gehangen. Das arme Kind ist auch so schon gestraft genug, mit niemandem reden zu dürfen, keine Freundin unter den anderen Mädchen zu haben und nur mit Blut und Tod in Berührung zu kommen. Deshalb halte ich sie immer im Haus und sie hat nur mit wenigen Menschen Kontakt.“ Peter hoffte inständig, dass seine dreiste Lüge nicht auffliegen würde. Er gefiel sich in der Rolle, selbst einmal über Leben und Tod entscheiden zu können, nicht immer nur der Ausführende zu sein.

„Ach was?“, war das Einzige, was dem Amtmann zu diesem vollkommen neuen Umstand zu sagen einfiel.

„Und, wie es meine Tochter schon richtig kundtat, hat sie das Recht, unter dem Halsgericht ihren zukünftigen Gemahl zu wählen. Auch wenn es mir selbst nicht unbedingt gefällt“, fügte er vorsichtshalber hinzu.

Die junge Frau erkannte sehr schnell, dass es ihre einzige Chance war, nicht davongejagt zu werden und damit Falk seinem Schicksal zu überlassen, indem sie auf die Behauptung des Henkers einging. Nun war es gleich, ob sie diesen Mann nochmals berührte oder nicht. Sie fasste Meister Peter am Arm, den Anschein erweckend, dass sie Unterstützung bei ihrem Vater suchen würde.

„Bitte gebt mich diesem Mann dort zur Frau“, deutete sie auf Falk, der die ganze Farce mit zunehmender Neugier verfolgte. Bot sich hier etwa eine Gelegenheit, doch mit dem Leben davonzukommen? Er sollte verflucht sein, wenn er auf diese Scharade nicht eingehen würde. Seine Lebensgeister kehrten mit allen ihren Sinnen zurück und er warf dem Mädchen einen flehenden Blick zu, diese unglaubliche Geschichte weiter mitzuspielen.

„Ich liebe ihn, von ganzem Herzen“, hörte er sie mit leiser Stimme sagen, und fast hätte es ihn amüsiert, zu sehen, wie sie ob ihrer Worte leicht errötete, wäre er nicht in so einer misslichen Lage gewesen.

„Und woher kennst du den Ritter, Weib?“, fragte der Amtmann nun etwas gereizt, da er der ganzen Sache keinen rechten Glauben schenken mochte.

„Er hat mir im Wald von Lounisky einmal das Leben gerettet, als ich beim Kräutersammeln von einem wilden Eber angegriffen wurde. Der Ritter wusste nicht, wer ich bin“, beeilte sie sich zu sagen, um Falk wenigstens etwas Ehre bei der ganzen Angelegenheit zu lassen. Das war natürlich glatt gelogen, denn Falk hatte sie nie in diesem Wald getroffen, kannte sie gar nicht. Zumindest war er sich dessen nicht bewusst, denn sie selbst wusste von ihm bereits ihr ganzes Leben.

„Doch, ich habe mich auf der Stelle in ihn verliebt, kann ohne ihn nicht mehr leben“, fügte sie voller Theatralik hinzu.

Die Menge johlte begeistert und schrie: „Heiraten, heiraten!“

„Das Mädchen hat Recht“, mischte sich nun auch der Priester ein. „Es ist seit Jahrhunderten Brauch, einen Verurteilten unterm Blutgerüst freizukaufen.“ Wie sah das aus, wenn der Vertreter der Kirche hier nur stumm beiseite stand, ohne in dieser Angelegenheit das letzte Wort gesprochen zu haben. Das war eine Sache Gottes, hier wurde über Tod und Leben entschieden. Zu schnell schien er vergessen zu haben, dass er gerade noch Falks schnellen Tod gefordert hatte. Aber zu wichtig war es ihm, als Unterstützer eines Wunders angesehen zu werden. Die meisten Menschen hier sahen die Geschichte als Gottesurteil und es würde der Kirche nur zum Vorteil gereichen, wenn sie den angeblichen Willen des himmlischen Herrschers nicht in Frage stellte. Und deshalb forderte er nun auch das Leben des Verurteilten für das Mädchen.

„Ich werde mich mit dem Prälaten in dieser Sache beraten. Aber ich glaube, auch er sieht es als Willen Gottes an, dass dieser Mann und diese Frau das Sakrament der Ehe erhalten.“

„Nun gut“, meldete sich Nikel Jobst wieder zu Wort. „Ich werde die Sache mit dem Gaugrafen besprechen. In der Zwischenzeit sperrt die beiden zusammen in das Verlies“, wies er mit einem sarkastischen Lächeln seine Waffenknechte an. Sollte das dumme Mädchen ruhig spüren, was es hieß, gesetzlos zu sein.

„Meister Peter, ich glaube, wir benötigen Eure Dienste im Moment nicht mehr“, wandte er sich an den Scharfrichter. „Aber erwartet nicht, dass Ihr einen Lohn erhaltet. Schließlich habt Ihr mit Eurer Brut selbst dazu beigetragen, dass der Raubritter nicht gerichtet wird.“

Meister Peter verbeugte sich schweigend vor dem Amtmann. Letztlich war er froh, nicht weiter befragt worden zu sein, was seine Verwandtschaft mit dem Mädchen anging. Zum Glück interessierte sich niemand weiter für die Familienverhältnisse eines Henkers, der als unrein und damit als unehrenhaft galt. Die Menschen machten es sich wahrlich zu einfach, wenn es darum ging, mit den unangenehmen Dingen des Lebens nichts zu tun haben zu wollen. Von den feinen Bürgern der Stadt würde sich niemand hinstellen und einen Verbrecher, der ihnen Hab und Gut oder gar das Leben eines Familienmitgliedes genommen hatte, selbst zu richten. Dabei war es vor noch gar nicht allzu langer Zeit sogar üblich gewesen, dass ein Mann, der geschädigt war, das Urteil selbst vollstreckte. Aber jetzt, wo die Leute in schmucken Häusern in Städten wohnten, wollte sich niemand selbst die Hände mit dem Blut der Verurteilten besudeln. Es belastete ihn sehr, dieses Handwerk ausüben zu müssen, doch konnte er nichts dagegen tun, wenn er seine Familie ernähren wollte. Deshalb hielt er jetzt auch den Mund und hoffte insgeheim, dass der Ritter und das junge Weib mit heiler Haut davonkommen würden.

„Was, um Gottes Willen, geht da unten vor sich?“, fragte der Gaugraf aufgebracht den Amtmann, als dieser wieder zurückkehrte. „Wieso habt ihr die beiden zusammen wegführen lassen? Ihr solltet den Schellenberger zu Tode befördern, nicht mit einem Weib versorgen.“

„Sie ist die Tochter des Henkers“, verteidigte sich Nikel. „Außerdem hat sich der Pfaffe eingemischt und die Sache zu einer Angelegenheit des Himmels erklärt, indem er es als einen Wink Gottes ansieht, dass dieses Weib gerade jetzt aufgetaucht ist.“

„Was? Wieso?“ Miro von Louny war zutiefst verwundert darüber, dass der Henker eine Tochter hatte. Warum wusste er davon nichts? Doch interessierte ihn dieser Umstand erst einmal weniger. Nur, dass die Kirche nun auch noch darauf bestand, dass das Weib Recht hatte, ärgerte ihn maßlos. Der Pfaffe war ein Vertrauter des Prälaten des Passauer Bischofs. Wenn er jetzt dessen Urteil in Frage stellte, würde er sich die Kirche zum Gegner machen, und das liefe seinen ehrgeizigen Zielen, seine Macht über die Grenzen Lounys weiter auszubauen, sehr zuwider.

„Nun gut. Soll sie diesen Kerl doch heiraten“, sagte er. „Doch sobald sie die Ehegelübde abgelegt haben, erkläre ich beide für vogelfrei und lasse sie aus der Stadt jagen.“ Er lächelte böse. „Dann kann sie jeder wie tollwütige Füchse erschlagen. Ich glaube nicht, dass sie lange überleben. Also ist es letztlich vollkommen egal, wie der Halunke zu Tode kommt. Und das Weib hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie stirbt. Sie hat als Henkerstochter sowieso nichts mehr von dieser Welt zu erwarten. Doch führe ihr diesen Umstand nochmals vor Augen. Vielleicht überlegt sie es sich anders und hängt dennoch am Leben. Dann können wir die Sache, den Schellenberger ins Jenseits zu befördern, etwas beschleunigen.“

Falk beobachtete die junge Frau nun schon eine ganze Weile. Sie saß zusammengekauert in der Ecke unter dem Fenster, wohin sich ein Sonnenstrahl verirrt hatte, der wieder goldene Lichtreflexe in ihr Haar zauberte. Ihr Gesicht schien noch blasser als am Morgen und in ihren Augen stand die nackte Angst, als sie ihn anblickte.

Wie ist das nur möglich?, dachte Falk. Sollte sie wirklich von Gott gesandt sein? Eigentlich hatte er nie an solche Sachen geglaubt, stand göttlichen Dingen eher skeptisch gegenüber. Was, wenn es nun doch so etwas wie Wunder gäbe?

„Wie heißt du?“, fragte Falk. „Wie kommt es, dass du behauptest, mich zu kennen? Und, was mich am meisten irritiert, wieso sagst du, dass du mich liebst und heiraten willst?“

Stumm schaute ihn das Mädchen an, in ihren Augen schimmerten Tränen.

„Nun, ich weiß nicht recht. Erst bittest du um mein Leben und jetzt scheint es dir die Sprache verschlagen zu haben. Ich hoffe, du bereust deine Tat nicht, denn eigentlich hänge ich sehr am Leben. Diese Chance, die sich mir jetzt hier bietet, will ich wahrlich nicht verstreichen lassen. Ich verspreche dir, dich reich zu belohnen, wenn du dieses Märchen noch eine Weile aufrechterhältst.“ Er ging vor dem Mädchen in die Hocke und schaute sie eindringlich an.

Die junge Frau holte tief Luft und schniefte kurz. „Ich hatte meine Gründe, Euch das Leben zu retten“, sagte sie zu Falks Verwunderung. „Doch bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob es eine gute Idee war.“ Sie schluckte kurz. „Immerhin hält mich jetzt jeder für die Tochter des Henkers.“ In ihr Gesicht trat ein leichter Ausdruck des Bedauerns.

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Doch nun, da es einmal so ist, kannst du dieses Spiel auch noch eine Weile weiterspielen. Ich wäre dir sehr verbunden dafür“, sagte er mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme. Allerdings bereute er es sofort, als sie ihn mit einem etwas weidwunden Blick anschaute.

Fast wie das Rehkitz, was mir vor einigen Wochen vor die Armbrust gelaufen ist, dachte er. Er hatte das Reh damals laufen lassen. Warum, wusste er bis heute nicht, denn so hatte er die Tafel des Herren von Chomotau um ein beträchtliches Festmahl gebracht. Nur, dass sie kein Rehkitz war und auch nicht braune, sondern graue Augen wie der Novemberhimmel hatte und alle seine Sinne verwirrte. Falk erhob sich seufzend.

„Was, glaubt Ihr, werden sie mit uns tun?“, fragte die junge Frau ängstlich.

„Ich hoffe, die Kirche setzt sich durch. Der Pfaffe will ein Wunder sehen. Und das glaubt er mit deiner Hilfe den Menschen vorsetzen zu können. Also denke ich, sie werden uns trauen und dann aus der Stadt jagen.“ Er sah, wie ihre Schultern vor Erleichterung nach unten sackten.

„Nun, wie auch immer die Sache hier ausgehen wird, ich bin dir zu Dank verpflichtet. Falls sie mich doch hinrichten, hoffe ich, du schließt mich in deine Gebete ein. Ich schätze, dir wird nichts weiter geschehen. Vielleicht vertreiben sie dich aus der Stadt.“

Falk verfiel ins Grübeln und zermarterte sich das Hirn, warum ihn das Mädchen an jemanden erinnerte. Nach einer Weile schoss es ihm durch den Kopf, dass er die Frau noch nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. Wieder ging er zu ihr und blieb direkt vor ihr stehen. Sie hob den Kopf, welchen sie auf ihren Knien abgelegt hatte und schaute ihn abwartend an.

„Wie heißt du?“, fragte er unvermittelt. „Wenn ich dich schon heiraten muss, dann will ich wenigstens wissen, mit wem ich es zu tun habe. Nicht, dass ich eine Wahl hätte“, setzte er mit trockener Stimme hinzu.

Ein trauriges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ihr habt Recht. Verzeiht, dass ich Euch meinen Namen noch gar nicht genannt habe. Ich bin Krystina von Hauenstejn und...“

„Von Hauenstejn!“, rief Falk voller Verwunderung aus, ohne sie aussprechen zu lassen. „Wie kommt es, dass ein Fräulein von Stand sich als die Henkerstochter ausgibt.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte bisher angenommen, dass dieses Mädchen ein armes Weib irgendwo aus der Gegend war, die sich einen Vorteil davon versprach, wenn sie ihn rettete. „Habt Ihr etwas mit Kaspar von Hauenstejn zu tun?“, fragte er.

„Ja, er ist mein Onkel“, antwortete sie verdrossen.

„Euer Onkel? Und was, zum Teufel, macht Ihr dann hier in diesem Drecksloch?“ Er konnte es nicht fassen. Krystina wollte gerade zu einer Antwort ansetzen. Da hörten sie draußen Schritte und alsbald wurde der Riegel aufgeschoben.

In der Tür erschien der Priester. Mit feierlicher Miene betrat er den Raum, und Falk hoffte, dass der Gesichtsausdruck des Pfaffen verhieß, bald die Sakramente der Ehe zu erhalten und nicht die zum Sterben. Nach ihm traten die beiden Knechte ein und schritten auf Falk zu.

„Da hast du Glück gehabt, Schellenberger“, sagte der eine respektlos. „Der Prälat konnte den Gaugrafen davon überzeugen, dass es Gottes Wille sei, dass du dieses Mal dem Henkersschwert entronnen bist.“ Er packte Falk grob an den Armen und löste dessen Fesseln, denn noch immer war er mit den Stricken gebunden gewesen, die sie ihm vor dem Gang zum Schafott am frühen Morgen angelegt hatten.

„Geht beiseite und lasst mich mein Amt verrichten.“ Wichtigtuerisch schob der Pater den Waffenknecht hinter sich, der daraufhin unwillig knurrte.

„Wenn Ihr mich fragt, hätte man die Hexe gleich mit hinrichten sollen“, sagte er unwirsch.

„Dich fragt aber keiner.“ Der Priester legte seine Stola um. „Und jetzt stelle dich neben den Gefangenen. Es muss ja schließlich auch Zeugen geben, die bestätigen, dass der Ritter hier in den heiligen Stand der Ehe getreten ist. Nicht, dass er es sich hernach einfallen lässt, sich nach einer standesgemäßen Braut umzusehen.“ Er lachte hämisch auf.

„Steh auf, mein Kind“, forderte er Krystina unter scheinheiligem, freundlichem Getue auf. „Und nun sage mir deinen Namen, damit ich euch miteinander verbinden kann.“ Abwartend blickte er ihr ins Gesicht. Einen kurzen Moment geriet Krystina in Panik. Doch sie fasste sich schnell. Wenn sie jetzt preisgab, dass sie eine von Hauenstejn sei, wäre alles umsonst gewesen.

„Ich heiße Krystina“, sagte sie ohne weitere Erklärungen, in der Hoffnung, dass der Priester sie immer noch für die Henkerstochter hielt. „Aber sagt mir, Ehrwürden, wo ist mein geliebter Vater. Soll er mich nicht diesem Manne zuführen?“

Falk war fassungslos. Gerade noch saß sie verängstigt in der Ecke und konnte ihm kaum Rede und Antwort stehen, und nun provozierte sie auch noch den Pfaffen, statt die Sache schnell hinter sich zu bringen.

Der Priester schien nicht minder erstaunt. „Nun, da es sich bei deinem Vater um den Henker von Louny handelt, wirst du wohl nicht wirklich erwarten, dass er hier anwesend ist. Außerdem werdet ihr kaum Gelegenheit haben, eure Vermählung gebührend zu feiern, denn der Graf hat euch für vogelfrei erklärt und lässt euch aus der Stadt jagen, sobald ihr Mann und Frau seid. Und nun gebt euch die Hand, ich habe nicht ewig Zeit.“

Falk ergriff Krystinas kleine Hand, die sich sehr kalt anfühlte. Das Mädchen zitterte leicht. Um ihr etwas Mut zu geben, drückte er sie ganz behutsam. Dankbar sah sie ihn an. Der Geistliche legte ein besticktes Band über ihre Hände.

„Ich glaube, unter diesen Umständen können wir die Sache etwas abkürzen. Ich nehme nicht an, dass jemand Anspruch auf das Mädchen erhebt und so können wir uns die ganze Farce mit dem Aufgebot und so weiter sparen.“ Er schaute herausfordernd auf die Waffenknechte, die zustimmend brummten.

„Also, Falk von Schellenberg, wollt Ihr die hier anwesende Krystina, Tochter des Meister Peter, Scharfrichter von Louny, ehelichen, sie lieben und ehren, bla, bla, bla und ihr treu sein bis in den Tod?“ Der Pfaffe lachte dreckig.

„Ja“, antwortet Falk ohne weitere Regung.

„Und du Krystina, willst du diesem Mann untertan sein, bis dass der Tod euch scheidet?“

Krystina zögerte einen ganz kurzen Moment. Ihr Blick fiel auf Falk, der sie voller Hoffnung anschaute. „Ja“.

„Dann erkläre ich euch vor dem Angesicht Gottes zu Mann und Frau.“

„Und nun schert euch zum Teufel.“ Der Waffenknecht schob den Priester unsanft zur Seite, packte die junge Frau derb am Arm und schob sie Richtung Tür. Der andere Kerl war hinter Falk getreten und versetzte ihm einen Stoß. Falk strauchelte leicht, fasste sich aber sofort wieder. Irgendwann würde es ihm gelingen, fürchterliche Rache zu nehmen für all das, was er hier erleiden musste. Er legte seinen Arm um die bebende Gestalt seiner jungen Braut und zog sie mit sich. Bald standen sie auf der Straße. Die Menge vom Morgen hatte sich zerstreut. Nur noch ein paar einzelne lungerten herum, in der Hoffnung, etwas von den weiteren Geschehnissen mitbekommen zu können.

„Sobald ihr aus der Stadt heraus seid, wird die Hetzjagd eröffnet“, schrie ihnen einer der Waffenknechte triumphierend hinterher. „Und wenn ihr nicht sofort losgeht, erschlagen wir euch gleich“, setzte er leiser hinzu.

Falk nahm die Hand Krystinas mit festem Griff und begann zu rennen, die junge Frau hinter sich herzerrend. Sie stolperte über ihre Röcke, doch konnte er keine Rücksicht darauf nehmen. Sie mussten zusehen, dass sie Land gewannen, denn die Büttel des Gaugrafen würden sicher auch schon vor der Stadt auf sie lauern. Noch wusste er nicht genau, wie sie aus der Stadt gelangen konnten, ohne draußen vorm Tor sofort niedergemacht zu werden. Sie rannten über eine schmale Brücke, die den Stadtkern mit den Häusern der wohlhabenderen Bürger mit dem Stadtteil verband, in dem vorwiegend Handwerker und Häusler angesiedelt waren. Hier drängten sich niedrige, oft windschiefe Holzhäuser, meist eher Hütten gleichend, dicht an dicht, getrennt durch unzählige kleine, dunkle Gassen, in die sicher niemand genauer schauen würde, der nicht unbedingt dazu gezwungen war.

„Da hinein!“ Falk drängte Krystina in den engen Spalt zwischen zwei Häusern, deren Dächer sich über die Wände beängstigend nach vorn wölbten und so eine Art Tunnel zwischen den Gebäuden bildeten. Am Ende der Gasse stießen sie auf ein Tor. Doch als sie sich dagegenlehnten, gab es zu Falks Verzweiflung nicht nach.

„Verdammt“, fluchte er leise. „Ich hätte schwören können, dass es hier zum Stadtgraben geht. Mit diesem blöden Tor habe ich nicht gerechnet.“

„Und was ist, wenn wir den Graben erreicht haben? Ich kann nicht schwimmen“, sagte Krystina mit ängstlicher Stimme. „Außerdem scheinen wir hier sowieso nicht weiterzukommen“, fuhr sie resigniert fort.

„Wir müssen zurück. Es bleibt uns nichts weiter übrig.“ Falk zuckte bedauernd mit den Schultern. Da öffnete sich wie von Geisterhand neben ihnen eine kleine Tür, die sie in dem verwitterten Holz des alten Hauses gar nicht bemerkt hatten. Eine hier im Dunkeln der Gasse nur schattenhaft auszumachende Gestalt winkte ihnen und raunte ihnen zu, hereinzukommen. Falk zögerte, denn was, wenn diese Person ihnen eine Falle stellen wollte? Da hörte er von Ferne das Geschrei der Waffenknechte des Gaugrafen vermischt mit Hufgetrappel, das ihm zeigte, dass Miro von Louny bereits Jagd nach ihnen machte.

„Kommt“, sagte er und zog Krystina mit sich. Kaum waren sie eingetreten, schloss sich die Tür nach ihnen wieder und es umgab sie vollkommene Finsternis.

„Keine Angst“, flüsterte jemand hinter ihnen. „Ich will nur sichergehen, dass die Tür richtig verschlossen ist, bevor ich Licht mache, damit auch ja kein Schein nach draußen dringt.“

Nach wenigen Augenblicken drängte sich die Gestalt in dem engen Gang an ihnen vorbei. Plötzlich wurde es heller, denn ihr Retter hatte eine weitere kleine Tür geöffnet, die in einen Garten hinter dem Haus führte.

„Hier entlang“, flüsterte er, und nun sahen sie, dass es sich um einen jungen Burschen handelte, der kaum dem Kindesalter entwachsen war.

„Wer bist du?“, fragte Falk. „Und wieso verhilfst du uns zur Flucht?“ Falk sah ihn verständnislos an. „Ist es eine Falle, in die wir gelaufen sind? Wirst du uns dem Gaugrafen ausliefern? Dann sei gewiss, dass ich unser Leben so teuer wie möglich verkaufen werde.“ Falk sah den jungen Kerl finster an.

„Nein, nein, Herr, keine Bange“, beschwichtigte der Junge den Ritter. „Ich war heute auf dem Marktplatz und habe miterlebt, wie Eure junge Frau um Euer Leben gebettelt hat. Nun ist es aber so, dass ich weiß, wer sie ist.“ Falk hörte Krystina hinter sich entsetzt aufkeuchen.

„Keine Sorge, ich habe meine Gründe, Euch zu helfen. Ich werde Euch nicht verraten. Euch, Herr Ritter, kenne ich nur vom Hörensagen. Und glaubt mir, das wäre mir Grund genug gewesen, nichts für Eure Rettung zu tun. Aber die Frau kenne ich wohl.“

Nun war Krystina neugierig geworden und sie lugte hinter dem Rücken Falks hervor, um den jungen Mann genauer in Augenschein zu nehmen. Sie kannte ihn, ohne Zweifel. Dennoch wusste sie nicht, wo sie ihn hinstecken sollte, so sehr sie auch ihr Gedächtnis durchforstete.

Der Bursche schaute Krystina an. „Ich bin Andris, Herrin. Ihr habt einmal meiner Mutter geholfen, als man sie beschuldigte, dass sie die Kuh des Bauern Karel verhext hätte. Ihr habt damals bezeugt, dass die Kuh weniger Milch gibt, da sie ein Kälbchen säugen musste.“

Jetzt konnte sich Krystina wieder erinnern. Sie hatte damals den Jungen in einer Ecke des Saales sitzend gefunden, wie er bitterlich weinte. Auf ihre Frage, was ihm zugestoßen sei, erzählte er ihr von der Anschuldigung des Bauern Karel, seine Mutter hätte die beste Kuh in dessen Stall verhext. Krystina tat der Junge leid, und sie erkundigte sich nach dieser Sache. Auch glaubte sie nicht an solche Dinge wie Zauberei und Hexenflüche. Doch die Mutter des Jungen war eine hübsche Frau, die mit Sicherheit nur die Begehrlichkeit des Bauern, der seit einem Jahr Witwer war, geweckt hatte. Sie weigerte sich, sein Weib zu werden, denn der Kerl war als gewalttätig und ungerecht bekannt. Krystinas Onkel, der selbst ein Auge auf seine Magd geworfen hatte, erteilte Karel eine Abfuhr und beschied ihm, sich woanders ein neues Weib zu suchen. Der Bauer rächte sich und erfand die Geschichte von der verhexten Kuh. Doch Krystina kam ihm auf die Schliche und berichtete ihrem Onkel davon. Dieser ahnte bereits, dass der Bauer gelogen hatte, um der Frau eines auszuwischen und jagte ihn aus dem Dorf, nicht ohne vorher dessen Besitz seinem eigenen hinzugefügt zu haben. Doch seit diesem Vorfall war der Junge ihr glühendster Verehrer geworden.

„Wieso bist du hier, Andris?“, frage Krystina verwundert.

„Ich war gerade in der Stadt, um einen Auftrag für die Köchin zu erledigen, welche frische Rüben vom Markt brauchte. Da sah ich den Tumult auf dem Richtplatz.“ Er warf Falk einen abschätzenden Blick zu. „Ich wurde neugierig und drängte mich durch die johlenden Massen, wollte ich doch sehen, was da vor sich ging.“ Andris hob die Hände und vollführte eine Geste des Unglaubens. „Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, Herrin. Ihr standet da und flehtet um das Leben dieses Mannes hier. Das konnte nicht gut ausgehen. Miro von Louny ist als kaltherzig und unnachgiebig bekannt.“

„Wie du siehst, ist es gut ausgegangen“, warf Falk dazwischen. „Wir sind jetzt verheiratet.“ Er verzog etwas das Gesicht, was dem Jungen nicht entging.

„So würde ich das nicht sagen, Herr“, konterte Andris respektlos. „Krystina von Hauenstejn ist jetzt die Frau eines gesetzlosen Ritters und auf der Flucht vor den Häschern des Gaugrafen, die sicher nicht lange fackeln, wenn es darum geht, sie gemeinsam mit Euch zu fangen. Und der Himmel allein weiß, ob ihr dann nicht noch Schlimmeres widerfährt als der Tod.“ Andris schaute den Ritter herausfordernd an.

„Du bist ganz schön vorlaut für den Sohn einer Magd“, bemerkte Falk erstaunt.

„Falk, bitte, seid ihm nicht böse. Er ist ein guter Junge und sorgt sich sicher nur um mich“, versuchte Krystina zwischen den beiden zu vermitteln. „Nein, Andris, ich meinte, wieso bist du hier in Louny. Ich wähnte dich auf Hauenstejn.“

„Das ist eine eher traurige Geschichte, Herrin. Die werde ich euch wohl ein anderes Mal erzählen müssen. Nur soviel, der Herr von Hauenstejn hat meine Mutter und mich an den Gaugrafen verkauft, als er ihrer überdrüssig wurde.“ Ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Doch wie Ihr seht, hat alles seine Richtigkeit, sonst könnte ich Euch heute nicht helfen“, fuhr er voller Zuversicht fort.

Obwohl Krystina noch viele Fragen auf der Zunge lagen, beherrschte sie sich und fragte stattdessen: „Und was machst du hier in diesem Haus?“

„Ja, diese Frage kam mir auch gerade in den Sinn, Bürschchen“, meldete sich Falk wieder zu Wort.

„Als ihr auf dem Marktplatz davongeführt wurdet, bin ich hinter den Waffenknechten hergeschlichen. Ich wollte wissen, was mit Euch geschieht. Dann sah ich den Pfaffen und dachte mir, dass er Euch sicher trauen würde. Ich lag ja dann auch nicht so daneben mit meiner Vermutung.“ Andris grinste und seine Augen strahlten vor Freude.

„Das erklärt immer noch nicht, wie du hierhergekommen bist“, warf Falk ein.

„Ich habe einen Freund in der Stadt, der mit seinem Großvater, dem Flickschuster Johan, in dieser Gasse wohnt. Vom ihm wusste ich, dass durch dieses Haus hier, das einmal der Witwe Maret gehörte, ein Gang zum Stadtgraben geht. Das Haus steht seit ihrem Tod im letzten Jahr leer und wir verstecken uns oft hier, um ungestört zu sein.“ Falk hob etwas irritiert die Augenbrauen.

„Der Gaugraf sieht es nicht gern, wenn seine Bediensteten Umgang mit den Leuten aus der Stadt haben“, ergänzte Andris, als er Falks Blick auffing. „Er kennt mich zwar nicht persönlich, aber man weiß nie, wer es ihm zutragen könnte. Ich will nicht unbedingt seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen.“

Falk war sprachlos angesichts der unbekümmerten, respektlosen Art des Jungen.

„Als ihr dann aus dem Stadtverlies gekommen und losgerannt seid, bin ich Euch gefolgt. Und als hätte der liebe Gott es gewusst“, Andris machte das Zeichen des Kreuzes, „hat er Euch in diese Gasse geführt. Natürlich dachte ich mir, dass das Tor da hinten versperrt sein würde. Den Schlüssel dazu hat der Stadtwächter, damit keine unliebsamen Gesellen unbemerkt von draußen hereinkommen.“

„Aber, wenn am Ende dieser Gasse der Stadtgraben ist, wieso ist dort ein verschlossenes Tor?“, fragte Krystina.

„Weil dort auch die Anlegestelle für das einzige Boot ist, was über den Graben führt“, erklärte ihr Falk. „Deshalb bin ich in diese vermaledeite Gasse gerannt.“

„Ja“, bestätigte Andris. „Und hinter jedem Haus hier ist ein kleiner Garten, der an den Graben führt. Das Haus der Witwe ist das erste neben dem Anlegesteg.“

„Und was ist, wenn die Häscher des Grafen auf der anderen Seite des Grabens auf uns warten?“, fragte Krystina besorgt.

„Sie wissen nicht, dass wir diesen Weg genommen haben, da sie ja davon ausgehen dürften, dass dieses Tor fest verschlossen ist. Also wird niemand auf die Idee kommen, dass wir mit dem Boot übersetzen“, sagte Falk mit mehr Überzeugung in der Stimme als in seinem Inneren.

„Ich rate Euch, den Tag hier zu verbringen und zu warten, bis die Dunkelheit hereingebrochen ist. Ich kenne hier jeden Zentimeter des Bodens, bin ich doch selbst schon oft mit dem Kahn übergesetzt. Ich werde Euch aus der Stadt geleiten. Jetzt am helllichten Tag ist es viel zu gefährlich.“

„Ich gebe zu, dass du Recht hast, Junge. Sicher suchen sie bereits im Wald vor der Stadt nach uns. Wenn sie uns nicht finden, werden sie denken, wir sind schon über alle Berge oder noch in der Stadt. Wollen wir hoffen, dass sie nicht alle Häuser durchkämmen.“

„Das müsst Ihr riskieren. Eine andere Chance habt Ihr nicht“, gab Andris zu Bedenken.

„Also warten wir hier“, sagte Falk, der bitteren Realität ins Auge sehend.

„Geht ins Haus, ich werde Euch etwas zu essen besorgen“, forderte Andris die beiden auf.

„Aber lass dich nicht erwischen“, riet ihm Falk.

„Keine Sorge.“ Damit verschwand Andris durch dieselbe Tür, durch die sie vorher hier hereingekommen waren und ließ sie allein zurück.

„Wir werden ihm vertrauen müssen“, bemerkte Falk und konnte seine Skepsis nicht ganz verbergen.

„Ich vertraue ihm“, sagte Krystina. „Was bleibt uns auch anderes übrig. Wir haben keine Wahl. Hoffen wir, dass Gott auf unserer Seite ist.“ Sie ließ sich auf der kleinen Bank direkt neben dem Hintereingang nieder. Diese war vom Wildwuchs des Gartens so verdeckt, dass sie keiner von außerhalb sehen konnte.

„Auf Eurer Seite vielleicht. Bei mir bin ich da nicht so sicher“, sagte Falk mehr zu sich selbst als zu Krystina. Dann setze er sich zu ihr. „Vielleicht solltet Ihr die Gelegenheit nutzen und mir erzählen, wieso ihr vorgegeben habt, mich zu kennen.“

„Ja, das bin ich Euch schuldig, jetzt, wo wir Mann und Frau sind.“

„Nun, zumindest gebunden durch das Wort des Priesters“, warf Falk trocken ein. Krystina wusste genau, was er meinte und es lief ihr ein Schauer über den Rücken. Doch hatte sie keine Angst vor ihrem Gemahl, eher war es die Sehnsucht danach, zu ihm zu gehören und ihm zu gefallen. Die Vorstellung davon, dass sie wirklich ein richtiges Paar würden, sandte ihr Wellen der Erregung durch den Körper. Doch wollte sie wirklich an der Seite dieses Mannes bleiben, musste sie ihm endlich erzählen, wieso sie ihn kannte.

„Erinnert Ihr Euch an die junge Frau, deren Leben Ihr einst zu retten versuchtet?“, fragte Krystina nach einem Moment des Schweigens. Falk zuckte unvermittelt zusammen. Sie konnte doch unmöglich ... Nein, das ergab keinen Sinn. Sie war damals ja vielleicht noch nicht einmal geboren.

„Sie war meine Mutter“, fuhr Krystina fort, als hätte sie Falks Reaktion gar nicht bemerkt. „Ich war damals noch ein Säugling. Natürlich wusste ich lange Jahre nichts von den Vorfällen, bis ich in das Haus Eures Onkels kam.“

Falk sah sie verständnislos an.

„Es war ungefähr vor fünf Jahren, da schickte mich mein Onkel zu Friedrich von Chomotau, damit ich als Dame seiner Frau meine Ausbildung vervollständigen konnte. Er hatte ehrgeizige Pläne mit mir und wollte mich vorteilhaft verheiraten. Zu seinem Vorteil, versteht sich.“ Krystina stieß ein bitteres, kurzes Lachen aus.

„Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte Falk etwas bissig. Er hatte wahrlich keine Lust, sich jetzt mit den Gespenstern der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Zu viele Jahre waren seitdem vergangen und es war ihm gelungen, die Ereignisse jener Zeit erfolgreich zu verdrängen. Bis Krystina auftauchte.

Nein. Die furchtbaren Erlebnisse aus seiner Kindheit, genauer aus seiner Knappenzeit hier in Louny, hatten ihn letzte Woche schon wieder eingeholt, als er in die Hände des Gaugrafen gefallen war. Aber das ausgerechnet Krystina Teil dieser Sache sein sollte, schockierte ihn umso mehr, da sie jetzt auf wirklich wundersame Weise seine Frau geworden war. Noch hatten sie die Ehe nicht vollzogen. Aber der vor dem Angesicht Gottes gegebene Eid, sie zu beschützen, bis dass der Tod sie schied, war für ihn keine Floskel, durch die er sein Leben retten konnte. Er war es diesem Mädchen schuldig, auch ihre Beweggründe anzuhören. Und wenn sie gewillt war, bei ihm zu bleiben, würde er sie mit zurück in die Mark Meißen nehmen und ihr einen Platz als seine rechtmäßige Ehefrau einräumen. Eigentlich hatte er nie vorgehabt, zu heiraten. Aber nun wollte es das Schicksal anders, und er musste sehen, wie er damit zurechtkam.

„Ich war auf dem Weg in die Kemenate, da sah ich Euch eines Nachmittags in der Halle stehen, als ihr gerade mit eurem Cousin von der Jagd zurückgekommen wart. Ihr gabt Euch fröhlich und ausgelassen. Aber dennoch hatte ich das Gefühl, dass diese Fröhlichkeit nicht von innen herauskam, sondern nur aufgesetzt war, wie um vor den anderen Eure wahren Gefühle zu verbergen.“ Krystina sah ihn fragend an, als erwartete sie eine Bestätigung ihrer Worte.

„Außerdem hat mir gefallen, was ich sah.“ Sie zögerte kurz und eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht. Falk gab einen belustigten Laut von sich.

„Nun, ich war jung, in einem Alter, in dem Mädchen träumen und schnell ins Schwärmen geraten.“ Sie lächelte. „Ich fragte die Frau Eures Onkels, wer Ihr seid und sie sagte mir, dass Ihr der Neffe Friedrichs wäret, Falk von Schellenberg.“

„Und dieser Name sagte Euch etwas“, stellte er fest.

„Ja, ich hatte von meinem Onkel bereits von Euch gehört. Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, fragte ich ihn einmal, was mit meinen Eltern geschehen wäre und wieso ich bei ihm aufwachsen würde. Ich schien damit einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn zunächst wehrte er mich unwirsch ab und meinte, das sei nicht von Belang. Doch dann überlegte er es sich anders und erzählte mir, dass seine Schwester sich mit Radic von Trebenice, einem Ritter des Gaugrafen Boheslav, eingelassen hatte, als dieser zu einer Jagd mit seinen Männern auf Schloss Hauenstejn weilte. Sie wurde bald darauf mit mir schwanger. Mein Onkel war ihr Vormund und zwang sie in eine Ehe mit dem landlosen Ritter. Der Gaugraf gab sein Einverständnis unter der Bedingung, dass beide in Louny lebten, da er nicht auf seinen Gefolgsmann verzichten wollte. Dann starb mein Vater unter ungeklärten Umständen. Niemand ging der Sache nach. Mein Vater war ein entfernter Verwandter des Voyk von Trebenice, der ohne männliche Nachkommen gestorben war. Danach ging das Land in den Besitz des Prager Bischofs über. Doch mein Onkel weigerte sich, seine Schwester wieder bei sich aufzunehmen. Sie blieb auf Louny und war fortan den Schikanen des Gaugrafen ausgesetzt, der in ihr nur eine Dirne sah.“

Krystina verfiel in düsteres Schweigen. Nach einer Weile berührte Falk sie leicht am Arm. Sie zuckte erschrocken zusammen.

„Und dann? Ihr wart ein Kind, was ist aus Euch geworden nach dem Tod Eurer Mutter?“, fragte er, wohl ahnend, dass es sich bei ihrer Mutter um jene Frau handelte, deren Leben er als Knappe zu retten versucht hatte.

„Wer meine Mutter war und dass sie auf grausame Weise starb, wisst Ihr wohl“, bestätigte sie seine Überlegungen.

„Ja, auch wenn ich nicht gern daran erinnert werde“ Er machte eine kurze Pause. „Ihr habt die Augen Eurer Mutter.“

Krystina lächelte verhalten. „Auch, dass der Gaugraf unmittelbar darauf ermordet wurde, ist Euch bekannt, denn Ihr wart dabei.“ Sie schaute Falk wissend an, doch er zeigte keine Regung. „Mein Onkel hat mir erzählt, dass ein junger Knappe namens Falk von Schellenberg meine Mutter vor den Übergriffen der Ritter auf Louny schützen wollte, doch der Graf ihn gewaltsam daran gehindert hat.“

„So kann man es auch sehen“, antwortet Falk kurz, ohne sich zu weiteren Erklärungen herabzulassen. Als er nicht weitersprach, fuhr Krystina in ihrem Bericht fort.

„Später in Chomotau erfuhr ich also, dass Ihr der Neffe des dortigen Herrn wart. Ich verblieb allerdings noch fünf Jahre in Louny in der Obhut der alten Schließerin Hilda. Die war zu Zeiten des alten Gaugrafen auch Köchin gewesen. Ein Beamter des böhmischen Herzogs Ottokar verwaltete die Burg. Der Sohn Boheslavs trieb sich irgendwo im Heiligen Land im Umfeld des Kaisers herum, wohin ihn sein Vater geschickt hatte, damit sich die Kirche zufriedengab. Es waren einige wenige Leute dortgeblieben, ein paar Waffenknechte und zwei, drei Mägde, die sich um die Burg kümmerten. Eines Tages kamen Reiter in die Burg und fragten nach der Tochter Gidas von Trebenice. Zunächst wusste keiner, wo solch ein Kind sein sollte, keiner kannte eine Frau dieses Namens und die Reiter zogen wieder von dannen. Aber als Hilda kurz darauf davon erfuhr, schickte sie einen der Waffenknechte nach Hauenstejn und ließ dem Herrn dort die Nachricht überbringen, dass sich ein fünfjähriges Mädchen auf der Burg befände, dass das gesuchte Kind sein könnte. So genau wusste sie nicht, ob meine Mutter auch wirklich die Schwester Kaspars von Hauenstejn war. Und so kam ich in den Haushalt meines Onkels, in dem ich zehn Jahre verblieb. Er gab mir seinen Namen - wohl um sein Gewissen zu beruhigen - und meine Eltern gerieten in Vergessenheit.“ Krystina verstummte.

„Aber erklärt mir, warum Ihr nach Louny gekommen seid, um mich vor dem Tod zu retten? Das ergibt für mich keinen Sinn.“

„Nun, wie ich schon sagte, Ihr wart mir aufgefallen an jenem Nachmittag und ich musste immer wieder an Euch denken, hatte aber nie Gelegenheit, mit Euch zu sprechen. Gewiss sahen wir uns hin und wieder an der Tafel des Herrn, doch Ihr habt mich nicht beachtet. Wieso auch, war ich doch nur ein kleines unscheinbares Mädchen.“ Krystina machte eine Pause, aber Falk ging nicht auf ihre Worte ein.

„Ich wollte Euch so gerne danken. Doch ich fand nie den Mut, Euch unaufgefordert anzusprechen.“ Sie schmunzelte. „Vor einigen Tagen gab es großen Aufruhr auf der Burg in Chomotau. Ein Bote hatte Euren Onkel davon unterrichtet, dass der Gaugraf von Louny Euch gefangen hält. Es war die Rede davon, dass ihr einen Kaufmann erschlagen hättet. Auch, dass Ihr schon länger Euer Unwesen als Raubritter in der Gegend treiben würdet. Nun, letzteres hatte ich schon öfters vernommen, doch Euer Onkel meinte immer, es wäre üble Nachrede.“

„Er hatte schon immer eine viel zu hohe Meinung von mir“, warf Falk trocken dazwischen. „Aber den Kaufmann habe ich in der Tat nicht hinterrücks erschlagen. Es war reine Notwehr.“

Als er zu dieser Sache keine weiteren Erklärungen abgab, fuhr sie fort: „Nun, wie auch immer. Ich sah meine Chance gekommen, mich zu revanchieren, dafür, dass Ihr als einziger damals meiner Mutter helfen wolltet. Und so schloss ich mich einem fahrenden Händler an, der gerade auf der Burg seine Ware feilbot. Ich gab ihm einen Ring, das einzige, was ich an Wertvollem besaß, und er war bereit, mich mit nach Louny zu nehmen. Ich verkleidete mich, so dass mich niemand als Frau von Stand erkennen konnte. Als wir in Louny ankamen, hörte ich schon von weitem das Geschrei auf dem Marktplatz. Als ich näherkam, sah ich Euch da oben auf dem Blutgerüst. Ursprünglich wollte ich zum Gaugrafen gehen und um Euer Leben bitten. Aber dazu war es nun zu spät und ich fasste spontan den Entschluss, mich als einfaches Bauernmädchen auszugeben, dass seinen Liebsten retten will. Den Rest der Geschichte kennt Ihr ja.“

Falk war zu erschüttert von der Erzählung Krystinas, dass er zunächst nicht wusste, was er antworten sollte. Es gab nicht so leicht etwas, was ihn aus der Fassung bringen konnte. Doch, dass ein Mensch sich für ihn einsetzte, kam nicht sehr oft vor. Er hatte zu niemandem eine engere Beziehung, auch nicht zu seinem Onkel. Die einzige Person auf der Welt, die er über alles liebte, war seine Schwester Tyra. Und diese hatte er bitter enttäuscht, so dass sie sich von ihm abgewandt hatte.

Friedrich von Chomotau stand unentschlossen vor dem Haus des Gaugrafen. Miro von Louny hatte ihn regelrecht abblitzen lassen. Er spielte seine Macht als Vertreter der böhmischen Krone auf ganzer Linie aus. Am Vormittag war Falks Onkel der Zutritt zum Stadtverlies verwehrt worden. Daraufhin hatte Friedrich versucht, den Gaugrafen dazu zu bewegen, seine unsinnige Hatz auf Falk aufzugeben. Doch war er auf taube Ohren gestoßen. Miro sah das Recht auf seiner Seite. Er empfahl Friedrich, zurück nach Chomotau zu reiten. Doch in seiner Stimme schwang eine versteckte Drohung mit, und Friedrich war davon überzeugt, dass der Gaugraf beim böhmischen König gegen ihn Stimmung machen würde, falls er sich bei Ottokar beschwerte.

Friedrich wandte sich seinem Pferd zu, das er an dem dafür vorgesehenen Ring in der Mauer des Hauses festgebunden hatte. Schweren Herzens stieg er auf und ritt langsam in Richtung des Stadttores. Er musste die Pläne Miros unbedingt vereiteln.

Ehre und Macht

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