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Kapitel 4
ОглавлениеLouny
November 1209
Ein heftiger Schneesturm peitschte gegen die geschlossenen Läden. In diesem Jahr hatte der Winter über Nacht bereits zeitig Einzug gehalten. Miro hockte zusammengesunken in einen großen Lehnstuhl in der Halle seiner Veste und starrte finster in die Flammen, die im Kamin vor ihm hoch aufloderten. Er nahm einen Krug vom nahen Tisch und schenkte sich seinen Pokal voll. Das Silber des Bechers reflektierte den Schein des Feuers. Miro betrachtete das Gefäß interessiert, als hätte er es noch nie gesehen. Um den Kelch lief ein Band mit Szenen, die eine fiktive Jagd nachstellten. Bei dem Bild, auf dem ein Ritter seinen Jagdfalken in die Lüfte stiegen ließ, verharrte er kurz. Dann schleuderte er mit voller Wucht den Pokal in die Flammen. Mit einem grellen Blitz und Zischen verpuffte der Alkohol des starken Weines und verflüchtigte sich, als wäre Satan selbst zum Schlot hinausgefahren. Die sonst so makellosen Züge des Gaugrafen waren wutverzerrt, sein langes, glattes, fast weißblondes Haar, auf dessen Pflege er sonst immer so viel Wert legte, fiel ihm in wirren Strähnen auf die Schultern. Seine Augen, die vor Zorn sprühten, nahmen im schwachen Licht des Feuers eine fast schwarze Farbe an, und der Widerschein der Flammen ließ seine Pupillen rot aufleuchten.
Doch schnell hatte sich Miro wieder in der Gewalt. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und atmete tief durch. Nun waren schon vier Tage vergangen, seit der Schellenberger aus Louny verschwunden war. Und immer noch hatten seine Häscher keine Spur des Ritters aufgenommen. Auch von der Henkerstochter hatte man nichts gehört, wahrscheinlich war sie doch mit Falk gegangen. Mit Sicherheit entledigte sich dieser ihrer bald, da sie ihn nur an der Flucht hinderte. Vielleicht würde man ihre Leiche finden, und so wussten sie dann, in welche Richtung der Ritter geflohen war. Ein sardonisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
Hufgetrappel hallte vom Pflaster des Hofes wider und wenige Augenblicke später flog die Tür zur Halle auf. Erschrocken fuhr Miro aus seinen Gedanken hoch. Wieso hatte der Wächter vor der Tür ihn nicht gewarnt? Zdenek von Neubergk stapfte laut und poltrig in die Halle und schien sie sofort mit seiner Anwesenheit regelrecht auszufüllen. Miro erhob sich unbehaglich und starrte dem Neuankömmling entgegen. Zdenek klopfte sich den nassen Schnee von den Schultern. Dann warf er seinen Umhang achtlos auf einen Stuhl.
„Was willst du hier, Zdenek?“, fragte der Gaugraf ungehalten. „Solltest du nicht Jagd machen auf diesen elenden Schurken, der sich mit einer List meiner Genugtuung entzogen hat?“ Miro schnaubte wütend.
Zdenek hob beschwichtigend die Hände. „Gemach, gemach, mein Freund“, sagte er selbstgefällig, so als würde ihn die Kritik seines Grafen vollkommen unberührt lassen. „Frantek ist hinter ihm her.“
„Ha, ausgerechnet!“, entfuhr es Miro. „Einen größeren Trottel hättest du nicht auf die Spur Falks ansetzen können, oder?“, bellte er herausfordernd.
„Frantek mag wohl ein Trottel sein, aber immerhin kennt er am ehesten die Verstecke seines Cousins. Er hat Falk in der Vergangenheit nie Anlass gegeben, ihm zu misstrauen. Deshalb wird der nicht gerade vorsichtig gewesen sein, wenn es darum ging, etwas vor Frantek geheim zu halten. Der hat ihn oft genug begleitet auf seinen Streifzügen.“ Wie selbstverständlich ging Zdenek zum Tisch und griff sich den Krug mit Wein. Ohne sich die Mühe zu machen, erst einen Becher vollzuschenken, nahm er einen tiefen Zug. „Und außerdem“, fuhr er fort, „weiß Frantek ganz genau, dass er sich dein Wohlwollen verdienen muss. Zu gern würde er zu deinen Vertrauten gehören.“
„Ach ja?“ Miros Stimme troff vor Sarkasmus. „Und du glaubst, dass du mein Wohlwollen und Vertrauen besitzt? Lass mich wissen, wie du zu dieser Annahme kommst.“
Verunsichert hielt Zdenek mit trinken inne und setzte den Krug mit Bedacht auf den Tisch zurück. Forschend schaute er seinen Kumpan an, ob dieser seine Worte ernst gemeint hatte, oder es nur wieder einer von den bösen Scherzen des Gaugrafen war, mit denen er seine Freunde gern erschreckte. Doch Miro lächelte nicht.
„Ich will den Kopf von Falk, und zwar bald“, fuhr er fort. „Und du tätest gut daran, deinen Freund Frantek dabei tatkräftig zu unterstützen. Es könnte sonst leicht passieren, dass der Rat der Stadt weitere Raubgesellen gesichtet hat, die hier in der Nähe die Kaufleute überfallen. Falk kann es ja dann wohl nicht gewesen sein.“
„Willst du mir drohen?“, fragte Zdenek finster.
„Aber nicht doch, ich will nur dein Bestes. Ich warne dich lediglich vor dem Eifer der braven Leute hier, wenn es darum geht, dass sie mich bei meinem Kampf gegen das überhandnehmende Raubgesindel unterstützen. Deshalb glaube ich, dass es besser ist, du verschwindest eine Weile hier aus der Gegend. Also kannst du ebenso gut die Zeit nutzen und Frantek ein bisschen unter die Arme greifen.“ Jetzt lächelte Miro böse.
Zdenek ging zu einem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Seine Kiefer malten vor unterdrückter Wut.
„Glaube ja nicht, dass du unantastbar bis, Miro. Es gibt genug, was ich gegen dich vorbringen könnte.“ Trotzig schaute er dem Gaugrafen in die Augen.
„Jetzt gleich“, sagte Miro, als hätte er die Worte des Ritters gar nicht gehört.
Wieder war Hufgetrappel vom Hof zu hören und es wurden Stimmen laut.
„...muss unbedingt den Gaugrafen sprechen.“ Miro war bereits zur Tür gegangen und hatte sie geöffnet. „Ich habe eine Botschaft für ihn.“
Ein Mann mittleren Alters kam unmittelbar vor ihm zu stehen.
„Was willst du“, herrschte er ihn an.
„Seid Ihr der Gaugraf?“, fragte der Neuankömmling vollkommen unbeeindruckt.
„So ist es. Und wenn du nicht ganz schnell sagst, wer das wissen will, ist es das letzte, was du auf Erden erfahren hast.“ Drohend baute er sich vor dem Mann auf. Diesem schien nun doch etwas unbehaglich zu werden. Auch hatte er schon des Öfteren von dem unbeherrschten Naturell des Gaugrafen gehört, so dass er jetzt nicht Gefahr laufen wollte, durch unangebrachten Stolz zu Schaden zu kommen.
„Ich bin ein Bote des Königs. Ich habe Nachrichten für Euch, einen Brief seiner Majestät.“ Er machte eine kurze Pause. „Und außerdem die Order, Euch unverzüglich an den Hof zu begleiten.“
„Und wer seid Ihr?“, fragte Miro erstaunt. Er musterte den Mann etwas genauer. Dieser war in einen dunklen Umhang gehüllt, der ihn vor dem kalten Wind schützen sollte. Doch Miro erkannte die gute Qualität des Tuches. Ein plötzlicher Windstoß ließ den Mantel ein wenig auseinanderklaffen, so dass Miro das metallische Aufblitzen eines Kettenhemdes ausmachen konnte. Der Mann trug keinen Helm, doch unter der Kapuze des Mantels, die sein Haupt verhüllte, ließen sich die Umrisse einer Kettenhaube erahnen. Nun fiel es Miro auch auf, dass der Mann unter dem Umhang verborgen ein Schwert trug.
„Wer seid Ihr “, fragte er noch einmal, „dass Ihr es wagt, in voller Rüstung in der Halle eines friedlichen Mannes zu erscheinen?“
„Ich bin Rado von Nachod, ein Gesandter des Königs. Und glaubt nicht, dass ich keine Vollmachten habe. Ottokar hat mir freie Hand gelassen, wenn es darum geht, seine Botschaften zu verbreiten.“ Ein düsteres Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Nachod? Seid ihr ein Verwandter von Pacoslav von Nachod?“ Von dem hatte Miro bereits gehört und er wusste, das besagter Pacoslav ein mächtiger Grenzfürst im Nordosten des Landes war.
„Das ist mein Onkel“, antwortete Rado. „Doch tut das hier nichts zur Sache. Lasst mich in Eure Halle, und Ihr erfahrt, was der König Euch zu sagen hat.“
Miro blickte in den Burghof. Mindestens ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Reiter standen im Schatten der Mauer und waren bereit, sofort einzugreifen, falls ihrem Anführer etwas geschehen sollte. In seiner Rage hatte er sie vorher gar nicht wahrgenommen, doch langsam dämmerte ihm, dass er es hier mit einem ebenbürtigen Gegner zu tut hatte. Er trat einen Schritt beiseite und lud mit einer Geste Rado ein, ihm in die Halle zu folgen. Zdenek hatte die Szene von weitem beobachtet. Als Miro hereinkam, machte er Anstalten, zu gehen. Doch die stumme Aufforderung seines Kumpans, sitzen zu bleiben, ließ ihn auf seinen Stuhl zurücksinken.
Rado stellte sich an den Kamin und hielt seine klammen Hände über die wärmenden Flammen. Nach einem kurzen Moment drehte er sich zu Miro um und schaute ihn eindringlich an. Miro zog einen weiteren Stuhl unter dem Tisch hervor und forderte den Boten auf, sich zu setzen. Mit einem Zeichen wies er Zdenek an, einen Becher mit Wein zu füllen. Dankbar nahm Rado den Pokal entgegen und trank in tiefen Zügen.
„Ihr habt einen vorzüglichen Tropfen. Ich wusste gar nicht, dass in dieser Gegend Wein wächst.“
„Nun, der Wein ist auch nicht von hier. Ich habe ihn aus Südmähren kommen lassen. Dort versteht man es, den edlen Rebensaft zu keltern. Doch sicher seid Ihr nicht gekommen, um den Wein der Gegend zu kosten“, fuhr er fort. „Also, was will Ottokar von mir?“
„Ich will mich nicht mit großer Vorrede aufhalten.“ Rado entnahm der Tasche an seinem Gürtel ein Schreiben, auf dem das Siegel des böhmischen Königs prangte. Er reichte es Miro.
„Ich sage Euch gleich, dass mir der Inhalt des Schreibens bekannt ist“, sagte er. „Seine Majestät wünscht, dass Ihr unverzüglich nach Prag kommt. Es gibt gravierende Ereignisse, die die Anwesenheit aller Grenz- und Gaufürsten notwendig machen. Es heißt, Kaiser Otto bleibe nach seiner Krönung zum Kaiser im letztem Monat in Italien. Er begründet es damit, dass er topografische Erkundungen einziehen muss, da er versprochen hat, an einem Kreuzzug des Papstes teilzunehmen. Mit dem Erzbischof von Magdeburg hat er sich bereits entzweit. Er hat Albrecht weitreichende Versprechungen gemacht, diese allerdings zum großen Teil schon wieder zurückgenommen. Und der Bayer Ludwig weicht ihm nicht von der Seite, was auch den Unmut der anderen Fürsten nach sich zieht, zumal der Kaiser diesem das Herzogtum Bayern zum Erblehen vermacht hat. Nun befürchtet Ottokar, dass auch er wieder Machtverluste erleiden muss. Er liebäugelt bereits mit Anhängern des jungen Staufers Friedrich.“
Rado machte eine bedeutsame Pause. Doch Miro schwieg. Was ging es ihn an, ob Ottokar mit dem Kaiser Probleme hatte. Er musste selbst zusehen, dass er hier seine Macht in den Händen behalten konnte. Es gab genug kleine Landadlige, die sich gegen ihn verschworen hatten. Für ihn war es im Moment wichtiger, dass Falk in seine Fänge geriet, denn es konnte durchaus sein, dass dieser bei Otto Gehör bekam. Auch dessen Onkel Friedrich von Chomotau hatte gute Beziehungen zum Kaiserhof. Friedrich war ein Ministeriale der deutschen Kaiser und hatte diesen schon immer nähergestanden als der böhmischen Krone.
Seit einem Jahr nun war Otto von Braunschweig deutscher König. Sein Kontrahent, Philipp von Schwaben, mit dem er zehn Jahre lang um die deutsche Krone gekämpft hatte, war vom Wittelsbacher Pfalzgrafen Otto ermordet worden. Danach hatten ihn die Fürsten des Reiches endgültig als Monarchen anerkannt. Im Herbst war er nach Italien gezogen, um sich vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen. Auch hatte er akzeptiert, dass die Wahl der Bischöfe nur dem Papst obliegen sollte. Doch nahm er es nicht allzu genau mit seinen Versprechungen. Er zog nach Sizilien und versuchte, die Italienpolitik seines Vorvorgängers Heinrich VI. weiter zu betreiben. Der Magdeburger Erzbischof, welcher seit dem Sommer die Rolle des ersten Ratgebers unter den Fürsten am Kaiserhof einnahm, war sehr verärgert über dessen Unzuverlässigkeit und intrigierte bereits bei Papst Innozenz gegen den neuen Kaiser.
Dass Ottokar Miro gerade jetzt zu sich berief, kam diesem deshalb äußerst ungelegen. Er war vom böhmischen König abhängig, doch, wenn dieser wieder vom Thron gestürzt würde, wie vor fünfzehn Jahren schon einmal, fiel er unter Umständen mit ihm. Deshalb schien es Miro ratsam, sich eigene, mächtige Verbündete zu suchen, wenn es sein musste, in der Mark Meißen.
Doch Rado schien das Desinteresse Miros nicht zu bemerken. Er hielt Zdenek seinen leeren Becher hin und forderte ihn mit einem Nicken auf, diesen wieder vollzuschenken.
„Außerdem beauftragte Ottokar mich, Euch in der Angelegenheit des Falk von Schellenberg zu befragen. Ihm ist zu Ohren gekommen, dass besagter Ritter hier sein Todesurteil empfangen hat. Einer Eurer Boten hatte ihn wissen lassen, dass hier in des Königs Namen ein Verfahren stattfindet, dass für Ottokar durchaus von Wert sein kann. Den König interessiert nun, wie mit dem Besitz des Raubritters verfahren wurde.“ Rado schaute Miro forschend an.
„Nun, was den Tod des Schellenbergers betrifft, so muss ich den König enttäuschen. Es gelang ihm unter fadenscheinigen Umständen, dem Henkersschwert zu entkommen. Was das Letztere anbelangt, dürften seine Ländereien nichts desto trotz der Krone anheimfallen, da er sich durch Flucht seiner gerechten Strafe entzogen hat.“
Rado nickte. „Nun denn“, begann er. „Hört, was ich noch zu sagen habe.“
Gegen Mittag hatte es angefangen zu schneien. Krystina zog sich den Umhang über den Kopf. Der kalte Wind blies unbarmherzig und drang durch ihre Kleider. Schon fühlte sie ihre Finger nicht mehr. Wie in Trance stapfte sie hinter dem Ritter her und ihre Schritte wurden immer langsamer. Falk schien die Kälte nichts anzuhaben. Doch war er in seine eigenen Gedanken versunken und bemerkte gar nicht, dass seine junge Frau immer weiter hinter ihm zurückblieb.
„Falk!“ Krystina sank erschöpft zu Boden. Ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen und der Hals tat ihr weh. Ihre Glieder schmerzten und sie hatte das Gefühl, als würde sie innerlich verbrennen. Sie begann unkontrolliert zu zittern und ihre Zähne schlugen aufeinander.
„Falk!“ Sie hatte kaum Kraft zum Sprechen und ihr Rufen war nicht mehr als ein Flüstern. Der Ritter schien sie nicht zu hören, doch hatte sie keine Energie mehr, darüber nachzudenken. Rings um sie schien alles in einem grauen Nebel zu verschwinden.
Falk spürte, dass Krystina nicht mehr hinter ihm war. Die ganze Zeit hatte er sich innerlich darüber aufgeregt, dass er nicht schneller vorankam. Doch sagte er es ihr nicht. Sie hatte ihm das Leben gerettet und so musste er jetzt sehen, wie er mit ihr zurechtkam. Doch als er jetzt nicht mehr ihr schweres Atmen hörte, drehte er sich zu ihr um. Sie lag am Boden, etliche Meter hinter ihm.
„Krystina!“, rief er und rannte zurück. „Was ist mit dir?“ Doch sie antwortete ihm nicht. Er kniete neben ihr nieder und zog sie auf seinen Schoß. Dann befühlte ihre Stirn. Sie war schrecklich heiß.
„Verdammt“, fluchte Falk leise vor sich hin. „das hat gerade noch gefehlt.“ Seine Frau glühte vor Fieber. Falk schaute sich suchend um. Doch nirgends sah er eine Möglichkeit, für sein Weib Unterschlupf zu finden. Rings um ihn her war nur dunkler Wald. Es würde noch mindestens zwei Tage dauern, bis sie den Kamm des Gebirges erreicht hätten. Er war ratlos, was sollte er jetzt bloß tun?
„Falk?“ Ihre Stimme war nur ein Hauch. „Was ist los mit mir?“
„Krystina. Du bist krank und hast hohes Fieber.“
Die junge Frau versuchte ihre Hand zu heben, doch sank sie kraftlos wieder herab. „Lasst mich hier, Falk. Ohne mich kommt Ihr schneller voran, ich behindere Euch nur.“
„Unsinn“, sagte er fast grob, doch drückte er sie fester an sich. Noch einmal schaute er sich um. In einiger Entfernung sah er, dass das Unterholz sich verdichtete. Vielleicht ließe sich dort ein geschütztes Plätzchen finden, damit sich Krystina etwas ausruhen konnte. Sie mussten unbedingt weiter. Miros Schergen würden mit Gewissheit nicht so schnell aufgeben. Erst wenn sie Schellenberg erreichten, wären sie in Sicherheit. Er hob sie mühelos auf seine Arme und kämpfte sich durch den Schnee, den der Wind hier zu einer hohen Wehe aufgetürmt hatte. Am Rande des Dickichts setzte er seine Frau ab. Er bog die Zweige auseinander. Unter dem Busch war das Gras noch trocken und bildete mit dem Moos ein weiches Lager. Er breitete seinen Umhang auf dem Boden aus, dann holte er Krystina und legte sie nieder.
„Falk“, murmelte sie. „Geht doch nicht weg.“
„Nein, Mädchen, ich bleibe bei dir“, murmelte Falk. Er legte sich neben sie. Noch war der Boden hier nicht gefroren und sein Körper erwärmte langsam das Gras unter ihm. Er breitete die alte Decke, welche er immer noch bei sich trug, über sie beide aus. Dann nahm er Krystina wieder in die Arme. Ihr Zittern ließ langsam nach und er spürte, wie sich ihr Körper entspannte und sie in einen tiefen Schlaf hinüberglitt.
„Ach Mädchen, was mache ich nur mit dir“, sagte er leise zu sich selbst. „Sterbe ja nicht hier mitten im Wald, das lasse ich nicht zu. Ich bin es leid, über die Menschen, die mir wichtig sind, nur Unglück zu bringen.“ Das Bild seiner Schwester Tyra zog vor seinem geistigen Auge vorüber. Sie war wunderhübsch. Ihre blonden Zöpfe flogen um ihren Kopf, als sie wild über die Wiese unterhalb der Burg Schellenberg rannte. Ihr helles Lachen hallte in seinem Kopf. Sie waren Kinder und sie waren glücklich gewesen, bis zu dem Tag, als sein Vater ihn nach Böhmen schickte. Die Erinnerung an seine Schwester gab ihm in der Fremde Halt und Zuversicht. Nach vielen Jahren, als er selbst schon lange ein Ritter und erfahrener Kämpfer war, starb sein Vater. Nun gab es für Falk nur noch Tyra. Sie sollte bei ihm bleiben, kein Mann sollte sie bekommen und entehren. So wie seine Mutter, die den Drangsalierungen seines Vaters ausgesetzt gewesen war. Peter von Schellenberg hatte seine Frau wie eine Gefangene gehalten. Zwar züchtigte er sie selten körperlich, doch zwang er ihr seinen Willen auf. Ihre Kinder durfte sie kaum sehen, und sie vermissten die Wärme einer Mutter schmerzlich. Der Vater hatte ihre Erziehung selbst in die Hand genommen. Seinen elfjährigen Sohn gab er zur Ausbildung zum böhmischen Gaugrafen Boheslav, wo der Junge nur Leid und Elend erfuhr. Seine Tochter ließ er zur Unterweisung in das Kloster Waldenburg bringen. Mit zwölf Jahren wurde sie eine Hofdame der Markgräfin in Meißen, was eine große Ehre für die Familie von Schellenberg war. Doch ein Ritter des Markgrafen entehrte das Mädchen und ihr Vater zwang sie, den Mann zu ehelichen. Falk hatte als Knabe seinen Vater gefürchtet, aber auch geachtet. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass dieser grausam oder ungerecht sein könnte. Und als die Schwester in das Kloster nach Waldenburg kam, verbarg er seine Tränen, die ihm die Trennung in die Augen trieb. Dann war die Mutter bei der Geburt ihres jüngsten Kindes gestorben. Doch später, als auch sein Vater vor seinen Schöpfer getreten war, beging Falk dieselben Fehler. Er wollte seine Schwester vor der Welt verbergen, sie vor dem Bösen auf der Erde bewahren und sie deshalb für immer in einem Kloster einsperren lassen. Dabei merkte er gar nicht, dass er selbst das Böse geworden war und die, die ihm anvertraut waren, unterdrückte und tyrannisierte, einschließlich seiner Schwester. Aber Tyra war stark, sie hatte sich ihm widersetzt. Zunächst war er wütend darüber gewesen. Doch Jahre danach hatte er sein Unrecht begriffen. Er hatte seine Schwester großen Gefahren ausgesetzt, nur um seinen Willen durchsetzen zu können. Und sie, die immer zu ihm gehalten hatte, verließ ihn, um bei einem anderen Mann ihr Glück zu finden. Inzwischen begannen sie, sich langsam wieder anzunähern. Er musste unbedingt zurück nach Schellenberg. Er hatte soviel wieder gut zu machen.
Die Strapazen der letzten Tage forderten auch bei Falk langsam ihren Tribut. Er hatte die Arme fest um seine junge Frau geschlungen, ein Bein über ihre Unterschenkel gelegt. Langsam verschmolz er mit ihrer Wärme, die ihr erhitzter Körper ausstrahlte. Seinen düsteren Gedanken nachhängend glitt er langsam in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
„Falk! Falk, hört Ihr mich?“ Nach und nach drang die Stimme Krystinas in sein Bewusstsein. Er spürte, wie sie mit ihren zarten Fingern über sein Gesicht fuhr. Dann war er hellwach.
„Krystina, wie geht es Euch?“, fragte er besorgt. Er legte die Hand auf ihre Stirn. Das Fieber schien nachgelassen zu haben. Doch war sie noch lange nicht außer Gefahr. Ihr Körper war bestimmt geschwächt und sie würde die Strapaze einer langen Wanderung nicht durchstehen. Er musste eine Möglichkeit finden, sie in einem festen Haus unterzubringen, bis sie sich wieder erholt hatte. Langsam senkte sich die Dämmerung herab. Er beschloss, auch die Nacht in der Mulde unter dem Dickicht zu verbringen, in der Hoffnung, dass die Hunde Miros sie nicht aufspüren würden. Der Mond, welcher ihnen in den vergangenen zwei Nächten hilfreich gewesen war, verbarg sich hinter dichten Wolken, so dass sie den Weg ohnehin nicht erkennen konnten. Auch lag auf den Gebirgspässen sicher Schnee, der ihr Vorankommen erschweren würde.
„Ich weiß nicht so recht. Mir ist kalt und mein Rücken tut weh.“ Krystinas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Wir werden die Nacht hier verbringen. Morgen früh wird es Euch bessergehen, dann finden wir eine feste Unterkunft, wo Ihr Euch erholen könnt.“ Behutsam strich er ihr eine verirrte Locke aus dem Gesicht.
„Vielleicht solltet Ihr allein weitergehen. Ohne mich seid Ihr wesentlich schneller. Und wenn ich, falls mich die Häscher des Gaugrafen finden, sage, dass ich Krystina von Hauenstejn bin, bringen sie mich vielleicht zurück zu meinem Onkel.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet jedoch, wie wenig sie ihre eigenen Worte überzeugten.
„Niemals lasse ich Euch allein hier zurück. Lieber sterbe ich mit Euch, denn es wäre Euer sicheres Todesurteil, wenn ihr hier zurückbliebet. Wenn Euch das Fieber nicht umbringt, dann sind es die Mordgesellen Miros. Denkt nicht, dass Ihr von denen Gnade zu erwarten habt. Sie würden Euch ohnehin nicht glauben.“
In Krystinas Augen traten Tränen.
„Ich werde auf Euch Acht geben, schlaft noch ein wenig. Wir können in der Nacht eh nirgends hin. Mir fällt bestimmt noch eine Lösung ein, Euch an einen sicheren Ort zu bringen.“
Das Sprechen hatte Krystina angestrengt. Langsam fielen ihr wieder die Augen zu und sie glitt hinüber in einen unruhigen Schlaf ohne Falk widersprochen zu haben. Da sie sowieso keine andere Wahl hatten, als hier auszuharren, versuchte auch er, wieder Schlaf zu finden. Doch wollte der sich nicht einstellen und die Gespenster der Vergangenheit spukten erneut in seinem Kopf herum.
In der Nacht kam das Fieber mit voller Wucht zurück. Krystina schlug in wilden Fieberträumen um sich und Falk konnte sie nur hilflos in den Armen halten. Wie seit vielen Jahren schon nicht mehr, kam ein Gebet über seine Lippen und er bat Gott darum, Krystina nicht für seine eigenen Sünden zu bestrafen. Er gelobte, sie für den Rest ihres gemeinsamen Lebens zu beschützen und für ihr Wohl zu sorgen, wenn Gott nur Erbarmen zeigen wollte. Gegen Morgen fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf und auch Falk fand endlich etwas Ruhe. Langsam kroch die Morgendämmerung in das Dickicht. Krystina schlug die Augen auf und ihr Blick war klar und hell, auch wenn sich ihre Stirn noch etwas heiß anfühlte. Falk stieß erleichtert den Atem aus. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte.
„Ich habe entsetzlichen Hunger“, sagte sie mit leiser Stimme, dass Falk sie fast nicht hörte. Doch als die Bedeutung ihrer Worte in sein Bewusstsein drang, hätte er fast gelacht.
„Ich habe noch ein kleines Stück von dem Schinken. Es ist nicht viel, wird Euch aber etwas Kraft zurückgeben. Auch müsst Ihr etwas trinken. Ich weiß nur noch nicht, wie ich Euch das Wasser hierherbringen soll. Ich glaube, in der Nähe ist ein Bach. Ich habe es plätschern hören.“ Falk dachte einen Moment nach. „Ich hab`s!“, rief er plötzlich. „Ich werde ein Stück Rinde von einem Baum abschälen und es als Gefäß benutzen. Wartet hier.“ Er bemerkte gar nicht die Ironie seiner Worte, denn wo sollte sein Weib auch hingehen. Die junge Frau lächelte und es schien ihm das Schönste, was er seit langem gesehen hatte.
Sie nickte. „Ich warte hier auf Euch.“ Sogleich sprang Falk auf. Zum Glück besaß er das Messer noch, das ihnen Andris gegeben hatte. Eilig schnitt er damit ein großes Stück Rinde von einer nahen Birke. Der Baum war schon vor einiger Zeit abgestorben und die Borke ließ sich leicht ablösen. Dabei kam ihm der Gedanke, dass er auch etwas frischere Birkenrinde auskochen könnte. Seine Schwester hatte ihm einmal erzählt, dass sie wie die Weide fiebersenkende Wirkung hatte. Er schnitt mit dem Messer einige kleine Stückchen von einem jungen Baum. Unweit ihres Lagers fand er tatsächlich einen kleinen Bach. Rasch wusch er sich das Gesicht, um die letzten Spuren der anstrengenden Nacht zu vertreiben. Dann füllte er das provisorische Gefäß und eilte zurück zu Krystina. Als sie versuchte, sich aufzusetzen, befiel sie ein heftiger Schwindel und eine Welle der Übelkeit schwappte über sie hinweg.
„Macht langsam, Eurer Körper ist noch zu geschwächt. Wenn Ihr etwas gegessen habt, werdet Ihr Euch stärker fühlen.“ Er hielt ihr das Gefäß an die Lippen und sie trank in langen, gierigen Zügen.
„Ich denke, wir können ein kleines Feuer entfachen. Wir müssen es einfach riskieren. Ich habe etwas Birkenrinde mitgebracht. Wenn ich daraus einen Tee zubereite, geht es Euch bestimmt bald besser.“
„Woher wisst Ihr das alles?“, fragte Krystina.
„Hat mir meine Schwester mal erzählt“, antwortete er knapp.
Schnell hatte er mit etwas trockener Birkenrinde und Zunderschwamm ein Feuer entfacht. Mit Sicherheit würde das Gefäß lange genug durchhalten, dass er einen Sud kochen konnte. Vielleicht trieb der das Fieber endgültig aus.
„Glaubt Ihr, dass Ihr eine kleine Weile gehen könnt?“, fragte er unvermittelt und registrierte, wie sie den Tee in kleinen Schlucken trank und dabei immer wieder das Gesicht verzog. Doch wagte sie nicht zu protestieren, in der Hoffnung, dass das Gebräu ihr helfen würde. Er hatte ihr stumm dabei zugeschaut, wie sie auf dem zähen Stück Schinken herumkaute und es endlich, mit Hilfe eines Schluckes Tee, hinunterwürgte. Sie wollte ihm ein Stück geben, doch er wehrte ab. Es reichte ja kaum für sie. Er hatte in der Vergangenheit schon länger hungern müssen und sie musste wieder zu Kräften kommen.
„Ich werde es versuchen“, antwortete sie. „Doch wenn es nicht geht, und ich zur Belastung werde, dann lasst mich endlich hier zurück.“ Sie schaute ihn unter ihren langen Wimpern heraus flehend an.
„Ich will das nie wieder hören. Was glaubt Ihr, wer ich bin?“ Er schnaubte verärgert. „Ich mag ein Schurke sein, der Kaufleute überfällt und seine Bauern schindet. Aber ich werde niemals eine schutzlose Frau ihrem Schicksal überlassen.“ Er packte sie fast derb an den Oberarmen, so dass sie einen leisen Schrei ausstieß.
„Verzeiht“, sagte er, „es war nicht meine Absicht, Euch zu erschrecken.“ Krystina senkte den Kopf.
„Nun kommt. Wir müssen weiter. Vielleicht haben wir Glück und Miros Schergen suchen doch woanders nach uns.“ Er trat mit den Füßen das Feuer auf und scharrte etwas Erde darüber, damit es nicht gleich entdeckt werden würde.
Langsam erhob sich Krystina. Ihr Kopf schmerzte. Falk hatte Recht. Sie konnte nicht allein hier zurückbleiben, das wäre ihr sicheres Todesurteil. Aber wenn sie so recht darüber nachdachte, war es ja eigentlich seine Schuld, dass sie krank war. Denn er hatte sie gezwungen, in dem eiskalten Wasser des Flusses zu waten. Fast wünschte sie sich, dass Gott sie zu sich nahm, nur um sich zu rächen. Doch dann sah sie, wie kindisch ihre Gedanken waren. Sie schob es auf ihren geschwächten Zustand.
„Gehen wir“, sagte sie und wollte an Falk vorbeischlüpfen. Doch er hielt sie am Arm fest.
„Wartet, legt noch die Decke um, bis ihr warm geworden seid.“ Sie ließ ihn gewähren als er ihr den dünnen Überwurf um die Schultern legte. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich aus dem Dickicht heraus. Langsam schritt er voran, immer darauf bedacht, sie nicht zu überanstrengen. Ihre Hand ließ er nicht los. Nach etwa einer halben Stunde hielt er an. Er führte sie zu einem großen dicken Baum, unter den der Schnee noch nicht vorgedrungen war. „Ruht Euch ein wenig aus. Ihr müsst Eure Kräfte einteilen“, drängte er sie, als sie protestieren wollte. Nach einer kleinen Weile liefen sie weiter, bis zur nächsten Rast. Sie waren ein ganzes Stück gegangen, als sich der Wald lichtete. Sie standen am Rande eines kleinen Abhanges. Im Tal drängte sich etwa ein halbes Dutzend strohgedeckter Hütten wie Küken einer Glucke um eine winzige hölzerne Kapelle.
„Lasst uns da hinuntergehen, vielleicht erbarmt sich einer der Bauern unsrer“, schlug Falk vor. „Sie werden in uns keine Bedrohung sehen“, ergänzte er mit einem schiefen Lächeln.
Als sie sich dem ersten Zaun näherten, fing ein Hund an, zu bellen. Krystina fuhr erschrocken zusammen, doch Falk drückte beruhigend ihre Hand. Die Tür der Kate, zu welcher der kleine Garten gehörte, wurde vorsichtig geöffnet. Eine ältere Frau schob ihren Kopf ein wenig durch den Spalt, um zu sehen, was der Grund dafür war, dass der Köter angeschlagen hatte. Ihr Haupt war von einem braunen Tuch verhüllt. Ein paar Strähnen ihres grauen Haares, die aus der Kopfbedeckung gerutscht waren, fielen ihr ins Gesicht. Als sie die beiden abgezehrten und zerlumpten Gestalten sah, hob sie drohend ihre geballte Faust. „Seht, dass ihr weiterkommt, ihr Diebsgesindel“, schrie sie und wollte die Tür zuschlagen.
„Warte, gute Frau“, rief Falk voller Verzweiflung. Die Alte zögerte, hatte er doch in der Sprache der Slawen zu ihr gesprochen.
„Was wollt ihr?“, fragte sie barsch, ohne die Tür weiter zu öffnen.
„Bitte, gib uns ein Lager für die Nacht“, begann Falk. “Mein Weib ist krank und schwach. Zulange sind wir schon unterwegs. Der Grundherr hat uns davongejagt, weil meine Frau ihm nicht zu Willen war.“ Flehend schaute er sie an. Mein Gott, dachte er, wie tief bin ich gesunken, dass ich mich für einen armen Teufel ausgeben muss. Der ich ja eigentlich auch bin, setzte er in Gedanken hinzu.
Die Frau schien Mitleid zu bekommen. „Da drüben in dem Schuppen könnt ihr unterkriechen“, sagte sie und wies auf ein windschiefes, kleines Gebäude, das wohl als Holzlager und Ziegenstall diente. Doch Falk war froh, dass sie überhaupt Unterschlupf gefunden hatten. Die Hauptsache war, dass seine Frau noch eine Nacht ausruhen konnte und dabei wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte, welches sie vor Wind und Wetter schützte.
„Danke, gute Frau“, antwortete er bescheiden. „Vielleicht hast du noch einen Schluck Wasser und etwas Brot für mein Weib. Wir haben seit Tagen nichts gegessen. Sie ist guter Hoffnung und geschwächt durch ihren Zustand“, fügte er hinzu. Er warf Krystina einen kurzen Blick zu. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie verstand, was er zu der Frau sagte.
Nun war die Alte aus der Hütte getreten. Um ihre mageren Schultern hatte sie ein zerfranstes Tuch geschlungen und ihre ärmliche Kleidung zeigte den beiden, dass hier sicher nicht viel zu erwarten war. Die Frau musterte Krystina eingehend.
„Nun gut, ich gebe euch noch etwas zu essen, auch wenn ich selbst nicht viel habe.“ Bald darauf kam sie mit einem Krug Wasser und einer hölzernen Schüssel voller Gerstenbrei zurück.
„Morgen früh seid ihr wieder verschwunden. Ich habe nichts zu verschenken“, sagte sie barsch. Falk nickte.
„Danke. Der Herrgott wird es dir vergelten.“ Als er Krystina mit sich in Richtung des Schuppens ziehen wollte, sank sie erleichtert gegen ihn. Ihre Kräfte waren am Ende. Falk hob sie hoch und trug sie in den Verschlag. Dort setzte er sie ins Stroh. Eine kleine Ziege kam neugierig näher und beschnupperte Krystina. Vorsichtig streichelte sie das Tier, das ein leises Meckern von sich gab. Bald kamen noch weitere und schauten, ob vielleicht eine Fuhre saftigen Heus gebracht worden war. Die Ziegen erschienen Falk wie ein Geschenk des Himmels. Nicht nur, dass sie ihnen ein wenig von ihrer Wärme abgaben. Auch war eine Geiß unter ihnen, und er würde später versuchen, ihr ein wenig Milch abzunehmen. Zwar hatte er noch nie ein Tier gemolken, aber so schwer konnte es ja nicht sein.
Das Krähen eines Hahnes weckte Falk. Noch war die Morgendämmerung nicht angebrochen. Schnell nahm er das hölzerne Gefäß und näherte sich der Geiß. Nach einigen Versuchen, die sich das gutmütige Tier gefallen ließ, gelang es ihm, ein wenig Milch aus ihren Zitzen zu pressen. Dann schlich er zurück zum Lager. Er lauschte den Atemzügen seiner schlafenden Frau. Sie atmete leicht und keine rasselnden Geräusche waren zu hören. Auch wenn es ihm schwerfiel, berührte er sie sanft am Arm, um sie zu wecken. Krystina schlug die Augen auf und schaute Falk verwirrt an.
„Wie geht es Euch?“, fragte er besorgt.
„Ich weiß nicht so recht“, antwortete sie. „Aber das Fieber scheint verschwunden zu sein. Auch tut mein Hals kaum noch weh, vielleicht habe ich es überstanden.“
Falk befühlte kurz ihre Stirn. Sie war kühl. Dann langte er hinter sich und hielt ihr die hölzerne Schüssel hin. „Euer Frühstück“, sagte er.
Krystina staunte nicht schlecht, als sie die Milch erblickte, nicht viel, aber immerhin genug, um einen großen Schluck davon zu haben.
„Wo habt Ihr das her?“, fragte sie verwundert. „War die Alte noch einmal hier?“
„Nein, ich habe mich als Bauer versucht“, sagte er augenzwinkernd.
„Ihr habt wahrlich viele Talente“, sagte Krystina mit einem verschmitzten Lächeln. „Nicht nur, dass Ihr die slawische Sprache dieser Gegend hier beherrscht, sprecht Ihr auch noch mit Engelszungen und überzeugtet das Weib davon, dass ich ein Kind erwarte. Und nun könnt Ihr auch noch melken, um Eurer schwangeren Frau die notwendige Nahrung zu beschaffen.“
Falk merkte, dass er rot anlief. Das war ihm nicht passiert, seit ihm als Jüngling von einer reiferen Frau die Unschuld genommen worden war.
„Macht Euch nichts daraus. Ich danke Euch, Ihr habt mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Was bedeutet da so eine kleine Notlüge.“ Sie nahm ihm die Schüssel aus der Hand und trank. Dann reichte sie ihm das Gefäß zurück.
„Danke, für alles“, wiederholte sie. „Und nun trinkt, Ihr müsst etwas zu Euch nehmen. Auch Ihr braucht Eure Kräfte.“
Falk wollte protestieren, doch Krystina ließ ihn nicht zu Wort kommen und hielt ihm die Schüssel an die Lippen.
„Trinkt“, befahl sie mit fester Stimme und sah ihn strafend an. Er lächelte und nahm ihr das Gefäß aus der Hand, wollte von der kostbaren Flüssigkeit nichts verschütten.
Im Osten zeigte sich das erste Morgenrot. Heute würde die Sonne scheinen. Vielleicht gelang es ihnen, den Pass zu erreichen, der sie über das Gebirge brachte.