Читать книгу Bienenglück und Honigcafé - Julia Gehrig - Страница 7
ОглавлениеTina
Als mein Glas leer ist, beschließe ich, mich abzulenken – und zwar sinnvoll. Als Sarah vorhin das Haus verlassen hat, ist mir aufgefallen, dass die Margeriten auf der Eingangstreppe schon ziemlich die Köpfe hängen lassen. Ich hole eine Schere und die Gießkanne aus der Küche, fülle sie mit Wasser und schneide der Pflanze die verwelkten Blütenköpfe ab und gieße sie kräftig. Die weiße Laterne auf dem weißen alten Wamsler-Herd neben den Margeriten passt farblich optimal zu dem Arrangement. An dem alten Herd lehnen ein paar Birkenzweige, deren weiße Rinde die Optik gut ergänzen. Ich erinnere mich, wie ich mich freute, als ich die Birkenzweige auf einem Waldspaziergang mit Christian fand und denke daran, dass das alles noch gar nicht so lange her ist.
Der alte Wamsler war ein Kellerfund und stammt noch von meiner Oma. Als sie damals gestorben ist, haben wir tagelang den Keller und den Speicher des alten Häuschens ausgeräumt. Das Haus war Omas ganzer Stolz, nachdem sie es Anfang der 60er Jahren mit Opa gebaut hatte. In dem Haus ist auch meine Mutter groß geworden. Als meine Großeltern gestorben waren, hatten meine Eltern beschlossen, das Haus an mich weiter zu vererben. Für Christian und mich damals eine willkommene Gelegenheit, als wir gerade erfahren hatten, dass Sarah unterwegs war. Das Haus war zwar stark renovierungsbedürftig und musste von Grund auf saniert werden, aber Christian hatte gleich ein paar gute Handwerker an der Hand, die er als Kunden betreute. So hatte sich das Häuschen innerhalb kürzester Zeit in ein kleines Schmuckstück verwandelt. Das Einrichten von Sarahs Kinderzimmer hat mir damals die meiste Freude bereitet. Die kleinen Fenster mit den Fensterkreuzen in der Mitte und die teilweise gestrichenen alten Möbel von Oma finde ich auch heute noch wunderbar. Das kleine Telefonkästchen im Flur zum Beispiel würde ich niemals gegen ein neues Tischlein ersetzen. Und wenn es mal kein Telefon mehr gibt, dann findet sich dafür bestimmt eine andere Einsatzmöglichkeit, zum Beispiel als Blumentischchen.
„Du hättest echt irgendwas mit Deko machen sollen“, höre ich eine mir sehr bekannte Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und meine älteste Freundin Anja kommt von der Gartentüre schnellen Schrittes hergelaufen.
„Anja, mit dir hätte ich heute gar nicht mehr gerechnet.“
„Ja klar, Deko-Fee. Du hast doch schließlich Geburtstag! Ich habe mir extra heute ein paar weniger Termine gelegt“, sagt Anja und umarmt mich. „Herzlichen Glückwunsch liebste Freundin, ich habe dir was mitgebracht, steht aber noch im Auto“, sagt sie und rennt zurück zur Straße. Als sie wiederkommt, sehe ich nur einen riesigen Orangenbaum mit echten kleinen Orangen dran, links und rechts dahinter schauen ein paar blonde Haarspitzen von Anja hervor und so wie sie geht, scheint das Bäumchen echt schwer zu sein.
„Warte, ich helfe dir“, rufe ich, laufe zu ihr und packe auch am Blumenkübel mit an. Wir schleppen den Orangenbaum bis vor die Haustüre und stellen ihn dann schnaufend ab.
„Der passt doch ideal auf die Terrasse. Links von der Terassentür, aber so, dass du ihn vom Wohnzimmer von der Couch aus noch sehen kannst.“ Wie immer hat Anja alles bestens durchdacht.
„Das ist eine gute Idee von dir! So sehe ich den Sommer auch, wenn ich im Haus bin. Ich hoffe, du hast keine Erdflecken auf deiner Hose?“, sage ich und lächle Anja an, die wieder wie aus dem Ei gepellt aussieht. Meistens trägt sie feine hellbraune Stoffhosen und eine weiße Bluse.
„Meine Klienten sollen ja Vertrauen gewinnen, da ist ein kompetentes Äußeres schon wichtig!“, hat Anja einmal in einer Partyrunde ihren Kleidungsstil beschrieben, als sie die Runde wieder mit Anekdoten aus ihrer Paartherapie-Praxis unterhielt.
„Ich muss eh in einer Stunde Finn vom Fußballplatz abholen. Da kann es durchaus sein, dass die Hose nochmal Schmutz abkriegt“, sagt sie und wischt den staubigen kaum sichtbaren Erdfleck von ihrem Oberschenkel.
„Dann hast du ja noch Zeit für einen Kaffee oder Prosecco?! Geben wir dem Baum noch ein neues Zuhause und dann machen wir es uns noch gemütlich!“, sage ich und kurz darauf sitzen wir auf der Terrasse, eine Tasse Cappuccino in der Hand und neben uns der Orangenbaum. Die Abendsonne scheint uns angenehm ins Gesicht. Im Garten sprießen die ersten Frühlingsblumen, an den Bäumen zeigen sich weiße und rosa Blüten und auf dem an den Garten angrenzenden Radweg fahren ein paar Feierabend-Radler hin und her. Der Radweg verbindet den Vorort mit meiner geliebten Kleinstadt, die mit ihren alten bunten Giebelhäusern ein ganz besonderes Flair versprüht. In nur 20 Minuten erreicht man das historische Stadtzentrum, in dem sich auch mein Lieblingscafé befindet. Jedes Mal, wenn ich mich auf mein Fahrrad schwinge und der mittelalterlichen Stadt einen Besuch abstatte, bin ich froh, dass ich hier und nicht in dem eine Stunde entfernten München wohne. Ich spüre nun doch ein angenehmes Glücksgefühl und lehne mich weiter zurück.
„Ich bin froh, dass ich heute frei genommen habe. Meiner Mutter habe ich es aber nicht verraten“, gestehe ich Anja und blinzle gegen die Sonne zu ihr rüber.
„Das kannst du doch nicht machen. Deine Mutter anlügen“, sagt Anja und rollt mit den Augen.
„Du kennst doch meine Mutter! Wenn ich es ihr sage, ist sie erst recht beleidigt, dass ich sie heute nicht eingeladen habe. Meinem Vater ist das relativ egal. Aber meine Mutter erwartet dann wieder die perfekt gedeckte Kaffeetafel und brave Enkeltöchter am Tisch. Den Stress wollte ich mir heute echt nicht antun.“
„Tina, du solltest echt mal lernen, achtsamer mit dir selbst umzugehen und deine eigenen Wünsche zu vertreten. Deine Mutter würde dich dann auch viel besser verstehen.“ Anja schlürft den heißen Cappuccino aus der Tasse. „Wenn du ihr mit einer „Ich-Botschaft“ erklärst, was du fühlst, wird sie dich verstehen“, erklärt mir Anja und setzt ihr Therapeuten-Gesicht auf.
Dabei wirft sie mir einen eindringlichen Blick zu und streicht langsam ihr Pony zur Seite. Das ist anscheinend auch eine ihrer Kompetenz-suggerierenden Gesten, die sie in den Beratungsgesprächen anwendet, um den verzweifelten Paaren endgültig das Signal zu geben, dass ihre Ehe zu einhundert Prozent am Boden ist und nur SIE dazu beitragen kann, diese zu retten.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und schaue Anja ungläubig und leicht grinsend an.
„Ich-Botschaft!? Meine Mutter gehört nicht zu den Leuten, die Ich-Botschaften verstehen. Wahrscheinlich würde sie mir dann erst recht vorwerfen, dass ich Ich-bezogen und egoistisch bin, wenn ich ihr sage, wie ICH mich fühle“, gebe ich zurück.
Ich mag es gar nicht, wenn Anja berufliches mit in unsere Freundschaft einbringt. Sie ist dann nicht mehr „meine“ Anja. Schließlich kenne ich sie seit der Grundschule – mit gerüschtem Kommunionkleid, mit Pferdestickern im Pausenhof, mit Pickeln auf der Nase im Tanzkurs. Wenn Anja ihre therapeutischen Weisheiten zum Besten gibt, kann ich es inzwischen kaum noch ertragen. Vor zwei Jahren haben wir uns während meiner größten Krise mit Christian deswegen so richtig gezofft. Anja gab mir damals ständig gute Ratschläge und konnte nicht glauben, dass all ihre „Rezepte“, wie „Vereinbaren Sie einmal in der Woche ein Date mit Ihrem eigenen Mann“ oder „Tun Sie sich gegenseitig was Gutes“ in unserem Fall einfach aussichtlos waren. Der Grund: Wir hatten einfach keine Lust drauf! Und genau das konnte Anja nicht nachvollziehen.
„Wie könnt ihr euch einfach als Paar aufgeben? Ihr habt gemeinsame Kinder“, hatte sie mir damals vorgeworfen, nachdem ich mich nächtelang bei ihr ausgeheult habe und auch sonst versucht habe, alle ihre Ratschläge umzusetzen. Irgendwann war dann einfach der Punkt erreicht, an dem Christian und ich den Kampf um unser Eheglück aufgegeben haben.
Damals war ich wirklich enttäuscht von Anja. Ich hatte mir gewünscht, dass sie mich einfach in den Arm nimmt und tröstet. Dass sie mich – zumindest seelisch – bei den Behördengängen zur Bank und zur Rechtsanwältin unterstützt. Und dass sie zu mir hält und nicht zu Christian. Leider hatte ich damals eher das Gefühl, Anja macht mir den Vorwurf, dass ich nicht genug an unserer Ehe gearbeitet hätte. Nach der Scheidung haben wir uns ausgesprochen. Seitdem nähern wir uns wieder etwas an. Trotzdem bin ich immer noch skeptisch, wenn Anja eine ihrer Ratschläge zum Besten gibt.
Nun ist sie auch still und antwortet nicht mehr auf meinen Einwand gegen die „Ich-Botschaft“. Wir trinken unseren Cappuccino und wechseln das Thema.
Anja berichtet mir vom letzten Fußballtraining, bei dem Finn super Tore geschossen hat (eigentlich gibt es einen anderen Jungen, der gut schießt, der an diesem Tag aber kein einziges Tor geschossen hat) und von Maras Leichtathletik-Wettbewerb, bei dem sie den zweiten Platz gemacht hat (eigentlich wäre es der 1. Platz gewesen, aber die Trainer haben die Zeit nicht richtig gestoppt) und von ihrem Mann Raimund, der bald wieder auf Dienstreise muss (das ist Anjas Graus, denn dann gerät sie in Stress).
Ich berichte Anja noch aus der Arbeit und den aufgebrachten Leuten, die sich gestern den ganzen Tag über die nicht ausgeleerten Mülltonnen beschwert haben. Es ist immer das Gleiche – zuerst sind sie am Telefon freundlich, denn sie wollen was von mir. Wenn ich dann aber nicht sofort eine Aussage dazu machen kann, wann genau die Mülltonne geleert wird, bekommt der Ton des Anrufers schon eine gewisse Schärfe. Und wenn es dann irgendwann einen weiteren Grund für eine Beschwerde gibt – beispielsweise ein übergelaufener Gullideckel oder eine Ölspur in der eigenen Wohnstraße, dann werden die Anrufer so richtig persönlich. Zum Glück verschont mich Anja diesmal mit Ratschlägen bezüglich „Ich-Botschaften in Konfliktgesprächen“ und bei dem Gedanken daran, dass ich einem Anrufer mit einer Ich-Botschaft antworte, muss ich grinsen.
„Ich habe noch eine Kleinigkeit für dich“, sagt Anja plötzlich und zieht noch ein kleines Geschenk aus der Hosentasche und ich sehe an der Form der Verpackung gleich, dass es meine teure Lieblingshandcreme ist, die mir Anja öfter mal schenkt.
„Du bist ein Schatz. Gerade ist die letzte ausgegangen“, freue ich mich und zupfe das Seidenpapier auf, das um die Cremetube gewickelt ist.
„Na das wusste ich doch“, zwinkert mir Anja zu. „Aber jetzt du Liebe muss ich auch schon los zum Fußballplatz.“
„Wann hast du wieder mal länger Zeit für mich?“, frage ich sie, während ich sie raus begleite.
Anja zückt ihr Handy und schaut im Terminkalender nach. „Hmmm, erst in drei Wochen, so wie es aussieht. Momentan habe ich so viele Beratungsgespräche. Ich melde mich, sobald ich Zeit habe. Mach´s gut Tina.“
Ich winke ihr noch, während sie abfährt und schließe die Tür. Sofort drehe ich den jungfräulichen Cremedeckel von der kleinen Tube und drücke wie gewohnt ein bescheidenes erbsengroßes Cremestück aus der Tube heraus, das ich auf meinem Handrücken verstreiche – dort, wo meine Haut immer am trockensten ist. Die Handinnenflächen sind nicht so trocken, die bekommen nur noch die Restcreme ab, die auf dem Handrücken nicht eingezogen ist. Die Creme duftet dezent nach Honig und auf der gelben Tube ist eine kleine Biene abgebildet. Ich liebe diese Creme und Anja weiß das. Während ich die kleine Cremetube zu meinem Geschenketisch trage, fällt mir wieder der Imkerkurs ein und sofort wird mir ganz flau. Eigentlich habe ich gar keine Lust darauf. Aber das kann ich Susanne ja nicht sagen. Wahrscheinlich würde ich sie enttäuschen und das möchte ich auch nicht.
***
„Du Tina, ich habe im Programm gesehen, dass schon kommenden Freitag der Theorieteil vom Imkerkurs ist. Der Praxisteil des Kurses ist dann eine Woche später am Samstag! Das habe ich ganz übersehen“, höre ich Suanne am anderen Ende der Leitung.
„Na super, auch das noch“, denke ich mir. Jetzt muss ich für den Kurs auch noch meinen heiligen Freitagabend opfern.
Früher hatte ich immer das Gefühl, dass genau dieser Wochentag etwas besonders bieten müsste. Wie oft habe ich darauf gewartet, dass Christian auf die Idee kommt, mich zum Essen einzuladen, mir einen Kinoabend vorzuschlagen oder einfach nur eine Runde um die Häuser zu gehen? Leider hatte er genau am Freitag nach der Arbeit besonders häufig „eine beginnende Erkältung“, wie er es oft nannte. Dann wusste ich schon – das kann ich mir abschminken. Christian verzog sich dann meist mit einem Kirschkernkissen und seinen Nasentropfen vor den Fernseher und ich saß einsam mit einem Buch im Bett. Auf die Idee, einfach allein loszuziehen und mit Susanne oder Anja ins Kino zu gehen, bin ich nie gekommen. Das Wochenende – und da gehörte auch der Freitagabend schon dazu – war für mich immer „Familienzeit“ – auch wenn eigentlich kein Familienmitglied jemals großes Interesse daran gezeigt hat und besonders nicht Christian.
„Okay, fahren wir am Freitag gemeinsam hin?“, höre ich mich sagen. Warum sage ich nicht einfach, dass ich schon was vorhabe? Der Freitag war nicht geplant und mir reicht der Kurs am Samstag. Aber was sollte ich schon vorhaben!?
„Ja, ich komme um 18.00 Uhr, dann haben wir vorher noch Zeit, uns einen Plan zu überlegen, falls ein guter Typ dabei ist“, sagt Susanne. „Was ziehst du eigentlich an?“
„Zum Imkerkurs? Was soll ich da schon anziehen? Jeans und Shirt, wie immer halt. Oder meinst du, man muss schon mit Schutzkleidung kommen?“ Ich lache bei dem Gedanken daran, dass alle Kursteilnehmer mit diesen komischen Imkerhüten rumlaufen.
„Nee, mach dich lieber schick. Vielleicht ist für uns beide ein Schnuckelchen dabei!“
„Mein Bedarf an Männern ist vorerst gedeckt!“, stöhne ich.
„Ach komm schon. Du hast halt noch nicht den Richtigen gefunden. Du wirst sehen – Männer die imkern sind von Haus aus interessant. Wenn dann noch die Optik stimmt, schnappt die Sue-Falle auf jeden Fall zu“, lacht Susanne.
„Soll ich im kleinen Schwarzen zum Imkerkurs gehen? Das kommt wahrscheinlich nicht so gut an“, grinse ich und stelle mir diesmal vor, wie ich in meinem nicht vorhandenen kleinen Schwarzen und meinen hochhackigen Pumps zwischen Bienenkästen stolziere.
„Okay, dann zieh dir einfach was normal-schickes an. Ich hole dich ab.“
Zwei Tage später geht es los.
Susanne fährt mit ihrem Corsa vor und ich steige – natürlich in Jeans, T-Shirt und Jeansjacke ins Auto. Susanne steht nicht so auf Schminke, aber ich sehe, dass sie sich einen Hauch von ihrer Naturkosmetik-Wimperntusche aufgetragen hat. Auch die Filzstulpen hat sie heute weggelassen, die sie während der Arbeit meistens trägt. So ein Outfit kommt bei den meisten Männern weniger gut an. In ihrem einfarbigen dunkelroten Kleid und mit den offenen roten Haaren sieht sie heute mehr wie ein Vamp als wie eine Hexe aus.
Als wir am Lehrbienenstand ankommen und in Richtung hell erleuchtenden Vortragssaal gehen, sehen wir eine Schlange von Menschen am Eingang anstehen.
„Wollen die alle da rein?“, frage ich Susanne und nicke in die Richtung des Haupteinganges.
„Sieht so aus…“, sagt sie abwesend und scannt mit ihrem Blick die Reihe der anstehenden Leute ab.
Ich lache und stupse Susanne in die Seite. „Fängst du etwa jetzt schon an mit der Suche?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Hier sehe ich jedenfalls noch nichts Schnuckeliges! Aber vielleicht ist ja dein Tom da?!“
„Mein Tom? Spinnst du?“, empöre ich mich, muss aber zugeben, dass ich auch schon den Gedanken hatte, ihn heute live zu sehen.
Wir stellen uns brav in die Schlange, kichern und reden währenddessen die ganze Zeit und werden nach dem Bezahlen dann endlich mit einem Infoheftchen in der Hand in den Saal entlassen. Die meisten Stühle sind schon besetzt. Wir finden einen Platz an einer der hinteren Tischreihen und breiten unsere Heftchen, den Notizblock und Kugelschreiber auf dem Tisch aus.
Ich schmunzle, als Susanne die Getränke aus ihrem Rucksack zieht. „Du denkst auch einfach an alles!“
Sie stellt zwei kleine Glasflaschen mit selbstgemachten Apfel-Smoothie auf den Tisch und kramt weiter in ihrem Rucksack herum. Sie legt noch zwei Papierstrohhalme (natürlich!) und eine Packung Kekse dazu. Die sind wenigstens nicht aus dem Bioladen mit 80% Kakaoanteil, sondern mit echter Zucker-Schokolade ummantelt – so wie ich sie liebe.
„Wir müssen es uns doch gemütlich machen!“, grinst sie. „Ist doch dein Abend!“
Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich mich über das Geschenk zuerst gar nicht gefreut habe. Beim Gedanken daran, dass Susanne extra den Smoothie vorbereitet hat und meine Lieblingskekse gekauft hat, die sie sich für sich selbst nicht gekauft hätte, wird mir warm ums Herz. Und irgendwie finde ich es gerade doch spannend. Wann wäre ich sonst schon auf die Idee gekommen, an so einem Kurs teilzunehmen.
„Lass dich mal drücken“, sage ich und nehme meine Freundin in den Arm.
„Ihr lassts eich aba guat geh!“, höre ich eine dunkle Stimme aus der Reihe hinter uns. Wir drehen uns um und ein älterer Mann nickt grinsend in Richtung unserer Abend-Verpflegung.
„Wer weiß, was uns heute noch erwartet! Wir brauchen die Stärkung“, zwinkert Susanne dem älteren Herrn zu. Susanne und ich schauen uns an und brechen – wohlwissend, dass Susanne dies auf ihren Plan für den heutigen Abend bezogen hat, in Lachen aus.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis alle Leute, die sich noch hinter uns in der Warteschlange angestellt haben, im Saal sind. Wir sehen uns währenddessen um und sind erstaunt, welche Leute an diesem Kurs teilnehmen: Ein Elternpaar mit zwei Kindern, einige junge Pärchen, die augenscheinlich eher der Öko-Szene zuzuordnen sind, einzelne Männer meist im karierten Hemd, ein paar Frauen um die 50, die allein den Kurs besuchen, zwei ca. 16-jährige Schüler …
Susanne richtet sich plötzlich kerzengerade auf: „Hey schau mal!“, sagt sie und nickt in Richtung Türe. Ich erstarre kurz bei dem Gedanken, dass Tom hier sein könnte, aber ein anderer gutaussehender Mittvierziger betritt den Saal und sieht sich suchend um. Das ist definitiv nicht Tom aus dem Flyer. Ich merke, dass ich etwas enttäuscht bin. Aber Susanne nimmt schnell ihre Jacke vom Stuhl neben sich und rückt den leeren Stuhl etwas von der Tischkante weg. „Hier ist noch Platz!“, ruft sie etwas zu laut dem Mann zu.
Der Mann blickt zuerst suchend in die andere Richtung und Susanne ruft nochmal: „Sie suchen noch einen Platz?“
Jetzt bemerkt er uns und kommt langsam mit einem schelmischen Lächeln auf uns zu geschlendert. Er sieht wirklich gut aus – weißes Hemd lässig in die Jeans gesteckt. Leicht grau melierte und gepflegte Haare. Susanne streicht sich durch ihr offenes lockiges Haar und reibt ihre Hände an dem Kleid ab, das sie über den Leggings trägt. Sie sieht heute sehr gut aus und ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Mann gerne neben ihr sitzen würde.
„Vielen Dank“, sagt er, als er fast vor uns steht. „Aber ich brauche auch noch einen Platz für meine Frau. Die kommt später nach. Ist denn dieser Stuhl auch noch frei?“, fragt er und deutet auf den Stuhl neben dem Platz, den Susanne freigemacht hat.
„Äh, ich glaube da ist vorhin schon jemand gesessen. Vielleicht ist der gerade aufs Klo …“, stammelt Susanne.
Der Mann lächelt sympathisch und sagt: „Kein Problem. Wir werden schon noch ein Plätzchen finden. Ich warte am besten am Eingang auf meine Frau.“
Als er sich umdreht und ein paar Meter entfernt hat, seufzt Susanne und streckt theatralisch beide Hände in die Höhe.
Sie schlägt mit der Handfläche auf den Tisch, so dass die Smoothies wackeln.
„Das gibt’s doch nicht! Der sah so gut aus! Aber war ja klar, dass der natürlich VERHEIRATET sein muss! Mist!“
„Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Erstbeste hier reinspaziert, gut aussieht und auch noch frei gewesen wäre“, sage ich und lehne mich zurück.
„Ich will endlich jemanden finden. Das kann doch nicht so schwer sein! Im Yogakurs war es genauso! Ein Typ hätte mir wirklich gefallen. Der war auch so lieb zu den Ziegen. Und das ist ja ein gutes Zeichen. Lieb zu Tieren heißt auch lieb zu Kindern. Und das ist das wichtigste Kriterium!“
„Aber?“, frage ich.
Susanne rollt mit den Augen. „Natürlich war er vergeben. Und was das Schlimmste war: Er war schwul!“
„Wie hast du das denn rausgefunden?“
„Wir haben uns so nett unterhalten. Über Ziegen und alles Mögliche. Ich habe ihm dann vom Waldkindergarten erzählt. Das fand er total interessant und hat viel nachgefragt. Aber dann wollte er wissen, ob wir noch eine Stelle frei haben. Sein Freund ist Erzieher und ist gerade auf der Suche nach einem neuen Job.“
„Ach Scheiße. Hast du ihn dann trotzdem noch eingeladen?“
„Natürlich nicht! Zeitverschwendung! Normale Freunde habe ich ja genug! Ich will einfach nur einen richtigen Freund. Kann das denn so schwer sein? Entweder sind sie schwul, oder verheiratet oder geschieden und haben 5 Kinder im Schlepptau, für die sie zahlen müssen. Und hier sieht es bisher auch eher schlecht aus!“
Wir lästern noch weiter über manche Leute, aber ich bemerke, wie Susannes gespanntes Lächeln mit jeder weiteren Person, die den Raum betritt, aus ihrem Gesicht verschwindet.
„Da ist ja wirklich gar niemand dabei“, sagt sie enttäuscht, als der letzte Kursteilnehmer einen Platz gefunden hat, die Saaltür geschlossen wird und der Referent die erste Folie mit dem Beamer an die Wand wirft.
„Du bist ja auch wegen den Bienen da – für den Kindergarten! Oder etwa nicht?“
Susanne sieht mich mit einem müden Lächeln an und sagt: „Ja klar, natürlich!“
Sie tut mir in diesem Moment so unendlich leid. Mit Mitte 30 wäre Susannes nächstes Projekt die Familienplanung gewesen. Sie und Robin waren schon seit ein paar Jahren ein Paar. Keiner hat daran gezweifelt, dass die beiden zusammenbleiben. Leider hat es sich Robin doch anders überlegt, als er sich entschieden hat, mit Susanne Schluss zu machen und kurz darauf seine langweilige Kollegin zu heiraten, um ein Jahr später mit ihr auch noch ein Kind zu bekommen.
„Hey, Süße. Kopf hoch! Jetzt sieh es positiv! Du lernst was Neues und wir verbringen einen schönen Abend. Und wer weiß, ob beim Praxiskurs nicht süße Typen dabei sind“, versuche ich sie aufzumuntern.
Susanne nimmt einen Schluck von ihrem Smoothie.
„Und wenn am Samstag jemand dabei ist, dann teilen wir uns den schwesterlich“, sagt sie versöhnlich. Wahrscheinlich will sie mir den Abend nicht verderben und hört die restliche Zeit dem Vortrag zu. Ich schreibe fleißig mit und finde den Kurs doch gar nicht so langweilig, wie ich dachte.
Wir erfahren, wie ein Bienenvolk funktioniert und dass jede Biene eine bestimmte Aufgabe hat. Die Königin wird gefüttert und gut versorgt und legt ununterbrochen Eier, um neue Arbeitsbienen zu zeugen, die im Mai, Juni und Juli den Honig bringen. Die Drohnen – die männlichen Bienen – sind nur für die Begattung zuständig und werden nach getaner Pflicht aus dem Bienenbeute – so heißt das Zuhause der Bienen – geworfen.
Susanne zwinkert mir zu. „Gar keine schlechte Idee! Das könnten wir auch so machen. Eine Frauen-WG mit einer genialen Arbeitsteilung. Und die Männer behalten wir nur so lange, wie wir sie brauchen.“
Nach drei Stunden wissen wir alles über den Schwänzeltanz der Bienen, dass man keine Angst vor Stichen haben muss, weil Bienen nur in der allergrößten Not stechen und dass man Mitte April mit dem Imkern beginnen kann und wir das alles nächsten Samstag praktisch lernen werden.
Beschwingt verlasse ich den Saal und halte mein Nachweisheft des Imkerverbandes fest in der Hand, das wir zum Abschluss bekommen haben. Den ersten Stempel für den Theorieteil des Anfängerkurses habe ich bereits drin. Susanne wirft im Hinausgehen dem attraktiven Mann von vorhin noch einen verstohlenen Seitenblick zu, der neben seiner Frau in der Nähe des Ausgangs sitzt. Der würdigt uns aber keines Blickes und ist mit seiner sympathisch aussehenden Frau ins Gespräch vertieft. Ich spüre einen kurzen Stich und denke an Christian. Wir hatten uns in den letzten Jahren nicht mehr so viel zu erzählen. Christian wäre auch nie dazu zu bewegen gewesen, mit mir so einen Kurs zu besuchen. Ich schiebe den Gedanken daran schnell weg und hake meine Freundin unter.
„Vielen Dank für den Abend. Ich fand es richtig gut. Ich freue mich jetzt schon auf den Praxisteil.“
Susanne drückt mir einen Kuss auf die Wange.
„Dann werde ich dich in Zukunft vielleicht öfter mitnehmen“, sagt sie, während wir ins Auto steigen, und ich denke mit Schrecken an die Yoga-Ziegen.
„Jetzt mal langsam. Ich möchte mich jetzt erstmal mit der Bienenwelt vertraut machen“, sage ich schnell, bevor Susanne am Ende auf die Idee kommt, mich von nun an ständig mit Geschenkgutscheinen für Kurse aller Art zu beglücken.
Am Haus angekommen steige ich aus und winke Susanne zu.
„Bis nächsten Samstag! Wünsch dir eine schöne Woche und schreib mir zwischendurch mal, ja?“
Ich sperre die Haustüre auf und lausche ins Haus hinein. Sarah ist unterwegs, aber aus Lauras Zimmer kommen schluchzende Laute.
Ich stürme die Treppe hoch.
„Was ist denn los Schatz?“, rufe ich schon, während ich die Türe von Lauras Zimmer öffne.
Laura sitzt auf dem Fußboden, neben ihr steht der Hamster-Stall mitten im Zimmer auf dem Teppich. Erst sehe ich nur Lauras Rücken, aber als ich um sie rumgehe, blicke ich in ihr tränenüberströmtes Gesicht.
Mit einer Hand streichelt sie das kleine leblose Fellbündel, das im Stall neben ihr liegt.
Ich gehe auf die Knie und streichle Laura über die Wange.
„Oh Schatz! Komm her! Das tut mir so leid!“ Ich rutsche näher zu ihr und ziehe sie etwas zu mir her, um sie richtig in den Arm zu nehmen. Laura lehnt sich in meine Arme aber nimmt die Hand nicht vom Hamster weg. Sie schluchzt und weint immer weiter. Mit unterbrochener Stimme sagt sie:
„Ich … ich bin im Wohnzimmer gewesen. Vorher … er hat noch gelebt. Und gefressen. Ich verstehe das nicht. Er kann doch nicht einfach tot sein … “, und da bricht sie wieder in Tränen aus und es schüttelt sie richtig.
Mir steigen ebenfalls die Tränen in die Augen und ich schlucke ein paar Mal, in der Hoffnung, dass die Tränen wieder weg gehen. Ich schaffe es nicht und die ersten Tränen kullern auch mir über die Wangen. Ich halte die weinende Laura im Arm und dabei kommen mir tausend Fragen und Gedanken gleichzeitig. Warum ist Rudi überhaupt gestorben? Wir haben ihn doch extra bei der Züchterin gekauft, weil es immer heißt, ein Tier aus dem Gartenmarkt sei schon von Haus aus gestresst und nicht so widerstandsfähig, weil alle Leute an der Scheibe herum klopfen. Also sind wir zu Lauras 12. Geburtstag extra zur Züchterin gefahren. Aber die vermeintliche Widerstandsfähigkeit hat sich ja nun als Trugschluss herausgestellt, Rudi ist nur ein halbes Jahr alt geworden. Hilft es Laura, wenn sie einen neuen Hamster bekommt? Nein, erstmal nicht. Sie will bestimmt nicht sofort wieder einen. Wo sollen wir das Tier begraben? Im Garten unter dem Schneeballstrauch ist wahrscheinlich ein guter Platz. Habe ich überhaupt einen Schuhkarton zu Hause, um Rudi reinzulegen? Wir haben schon einmal ein Haustier begraben. Unseren Kater, den wir auch nur ein Jahr hatten, bevor er von einem Auto erwischt wurde. Das war ein Drama für die ganze Familie und ich habe mir eigentlich geschworen, niemals wieder ein Haustier zu kaufen. Damals hat Christian das Grab ausgeschaufelt und ein Holzkreuz gebaut, auch wenn er handwerklich nicht sonderlich begabt war. Naja, dann werde ich das ja wohl auch schaffen – schaffen müssen.
Ich berühre Rudi vorsichtig am Fell und lasse meine Hand leicht darauf liegen, falls doch noch ein Atemzug zu spüren sein sollte. „Ist er wirklich tot?“
„Jaaaa!“, schreit Laura und windet sich aus meinen Armen. Sie steht auf und läuft aus dem Zimmer, poltert die Trepper hinunter und ich höre, wie sie unten im Wohnzimmer weiter weint.
Ich folge ihr und finde sie im Wohnzimmer auf der Couch vor. Alle Couchkissen hat sie auf ihren Kopf gelegt und unter den Kissen kommt ein gedämpftes Schluchzen hervor. Ich setzte mich auf die Couchkante und streichle ihr über den Rücken.
„Es tut mir so leid Schatz! Weine ruhig. Es ist so traurig, dass Rudi gestorben ist. Ich verstehe das auch nicht. Soll ich dir einen Tee machen?“
Laura verstummt kurz und ich sehe die Couchkissen wackeln, was wohl bedeutet, dass Laura nickt. Ich stehe auf, gehe in die Küche und setze das Teewasser auf. So habe ich ein paar Minuten Zeit zu überlegen, was nun zu tun ist. Es ist spät abends. Das Schuhgeschäft hat schon längst zu und ich kann erst morgen einen Schuhkarton besorgen. Fieberhaft überlege ich, ob noch irgendwo im Haus ein passender Karton ist. Mir fällt die Geschenkverpackung von Susannes Gutschein für den Imkerkurs ein. Schließlich habe ich keinen Gutschein in der Verpackung vermutet – er müsste also groß genug für den Hamster sein. Außerdem ist die Schachtel auch noch sehr dekorativ – für eine würdevolle Beerdigung also gerade richtig. Ich bin froh, dass ich auch kein tiefes Loch graben muss – die kleine Schachtel mit dem kleinen Hamster drin werde ich schon unter die Erde bekommen. Nur das Holzkreuz liegt mir noch im Magen.
Das Teewasser brodelt im Topf und ich ziehe das Wasser vom Herd. Lauras Lieblingstee mit Erdbeergeschmack kommt in ihre Lieblings-Einhorntasse. Ich trage die Tasse ins Wohnzimmer und setze mich neben Laura, die wieder unter den Kissen schluchzt.
„Ich will ihn nicht mehr sehen“, höre ich es gedämpft unter dem Kissen.
„Wir machen Rudi ein wunderschönes Grab im Garten, okay?“, versuche ich es vorsichtig und da keine Reaktion unter dem Kissen hervorkommt, nehme ich an, dass Laura einverstanden ist.
„Möchtest du ihn heute noch beerdigen oder morgen früh?“
„Heute, jetzt gleich“, winselt Laura unter dem Kissen.
„Okay… dann werde ich mal alles vorbereiten. Trink du mal deinen Tee und ich komme gleich“, sage ich. Mir ist etwas eingefallen. Meine Heißklebepistole, mit der ich erst vor kurzem die Verzierungen am alten Telefontischchen wieder angeklebt habe. Ich hole aus meinem Schreibtisch die zwei schönsten Bleistifte – ohne Kauspuren und naturfarben. Dann nehme ich sie mit in den Keller und säge mit der Laubsäge die spitzen Enden einfach ab. Tamtam! Zwei wunderbare Bauteile für ein Holzkreuz! Ich bin stolz auf meine kreativen Eigenschaften. Jetzt nur noch schnell mit der Klebepistole aneinander geklebt … schon ist meine Eigenkreation fertig. Ich sause wieder die Treppe hoch und schnappe mir unterwegs noch die schöne Gutschein-Schachtel mit den Papierblüten.
An Lauras Schreibtisch schreibe ich in meiner schönsten Handschrift auf ein Stück weißes Papier „Rudi“ und klebe das Stück Papier auf das Holzkreuz. Auf die Papierschachtel schreibe ich mit schwarzem Fineliner „Ruhe in Frieden“. Dann überwinde ich mich und hole den Hamster aus dem Käfig. Er fühlt sich ganz dünn an und auch schon etwas steif. Ich atme tief durch und versuche, meinen Ekel zu überwinden und nicht zu lange darüber nachzudenken. Schnell lege ich ihn in die Schachtel und schließe den Deckel. Danach schüttelt es mich und ich renne ins Bad zum Hände waschen. Nur nichts anmerken lassen, denke ich, während ich meine Hände extra lange mit Seife einreibe und das Wasser in einem festen Strahl lange darüber laufen lasse.
Nun sind die Hamster-Beerdigungsutensilien fertig und ich gehe mit dem Bleistift-Kreuz und der Hamster-Schachtel in der Hand wieder ins Wohnzimmer zu Laura, die inzwischen unter dem Kissenstapel hervorgekrochen ist und mit der Tasse Tee und einem verheulten Gesicht im Schneidersitz auf der Couch sitzt. Seit letztem Jahr sitzt Laura oft zu Hause rum. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester Sarah, die immer unterwegs ist und von der ich mir wünschen würde, dass sie öfter zu Hause wäre. Laura dagegen hat sich nach der Scheidung immer mehr zurückgezogen. Meistens verbringt die die Nachmittage in ihrem Zimmer, liest oder daddelt an ihrem Handy rum. Freundinnen hat sie in der Klasse wohl keine. Mit Anja habe ich schon öfter darüber gesprochen. Allerdings hat Anja natürlich sofort gute Ratschläge auf Lager und würde uns am liebsten gleich zum Kinderpsychologen schleppen. Darauf habe ich aber wirklich keine Lust. Endlose Gespräche, die sich dann bestimmt wieder nur darum drehen, dass das Kind unter der Trennung leidet. Das weiß ich selbst auch. Dazu brauche ich keinen Psychologen.
Bewusst langsam und andachtsvoll setze ich mich neben Laura auf die Couch und streichle ihr wieder über Kopf.
„Bist du soweit?“
Laura nickt.
Ich nehme Laura bei der Hand und sage. „Na dann suchen wir für Rudi einen schönen Platz im Garten.“
Laura wirft einen kurzen Blick auf die Schachtel und das Kreuz. Ein kurzes Grinsen huscht ihr über das Gesicht, als sie das Kreuz sieht. Aber als sie die Schachtel öffnet und den Hamster darin liegen sieht, laufen ihr wieder die Tränen herunter. Ich nehme das Kreuz und Laura nimmt die Schachtel in die Hand.
Gemeinsam gehen wir nach draußen. Es ist schon dämmrig und ich brauche einen Moment, bis ich mich an die Dunkelheit gewöhnt habe.
Heute ist der Himmel fast wolkenlos und das Mondlicht erhellt den Garten ein wenig.
„Was hältst du von dem Platz unter dem Schneeball?“, schlage ich Laura vor.
Sie nickt und trottet hinter mir her. Ich lasse mir gar nicht anmerken, dass mir schon wieder zum Heulen zumute ist. Das hier bekommt Christian mal wieder gar nicht mit. Gar nichts bekommt er nun noch mit. Seine Papa-Wochenenden verbringt er schön abwechslungsreich und ganz ohne Schulstress mit den Mädchen. Mal gehen sie zum Shoppen, mal aufs Volksfest und danach holt er sich die Dankeslorbeeren ab. Ich dagegen habe den ganzen Alltagskram inklusive Tierbeerdigung allein am Hals.
„Denk dran, früher hat sich Christian auch nicht sonderlich um die Mädchen gekümmert“, sagt Susanne meistens in so einem Moment, wenn ich ihr völlig frustriert mein Leid klage. Das stimmt natürlich. Christian war meist mit sich selbst und seinen vermeintlichen Krankheiten beschäftigt. Er hatte immer irgendwelche Symptome für irgendwas. Das war auch der Grund, warum wir uns getrennt haben. Jeder war nur mit sich selbst beschäftigt.
Ich schlage den Spaten etwas fester als notwendig in die harte Frühlingserde unter dem Strauch. Erst als ich auf die Kante des Spatens steige, gleitet die Schaufel in die Erde. Ich schaffe es, eine Schaufel voll Erde zur Seite zu legen und genug Platz für die Schachtel zu schaffen. Laura kniet in der feuchten Wiese nieder und legt die Schachtel in das Loch.
„Eine gute Zeit im Himmel kleiner Hamster“, sage ich.
„Ich hab dich lieb“, sagt Laura. Dann lege ich die Erde wieder vorsichtig auf die Schachtel und klopfe sie fest. Das Holzkreuz stecke ich in den Erdhaufen und verweile einen Moment mit Laura an der Hand davor.
Als Laura an meinen Fingern herumspielt, bemerke ich plötzlich, dass mein Bettelarmband weg ist. „Verdammt, ich habe es doch heute Morgen dran gemacht“, denke ich. Mir wird in dem Moment ganz anders. „Das gibt es doch gar nicht! Ich bin sicher, dass ich es im Imkerkurs noch hatte.“ Ich erinnere mich an die Situation, als ich den Strohhalm in die Smoothie Flasche gesteckt habe. Da war das Armband noch an meinem Handgelenk, weil der Muffin-Anhänger nämlich an die Glasflasche gebaumelt ist.
„Du Laura, ich habe wohl gerade mein Armband verloren. Ich laufe mal schnell und hole eine Taschenlampe.“ Als ich mit der Taschenlampe bewaffnet wieder in den Garten komme, sitzt Laura auf der Schaukel und stößt sich am Boden ab. In der Dunkelheit höre ich das Quietschen der ungeölten Karabiner und Lauras leises Weinen.
Ich leuchte unter dem Busch herum aber finde kein Armband. Ob mir das Armband in das Hamstergrab gefallen ist? Ich bin schon versucht, die Schachtel wieder auszugraben, aber dann lasse ich es doch. Das hätte ich gemerkt. Ich gehe nochmal in den Schuppen zurück und leuchte leicht panisch unterwegs die Wiese ab. Aber auch hier finde ich kein Armband. Das Armband darf auf gar keinen Fall verloren gehen! Das hat mich nun schon so lange begleitet und jeder einzelne Anhänger hat eine besondere Bedeutung für mich. Ich schaue einfach morgen bei Tageslicht noch einmal, denke ich mir und versuche mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass das einfach zu viele Unglücke für einen Abend wären. Bestimmt taucht es morgen wieder auf und liegt einfach in der Erde neben dem Hamstergrab. Ich habe es wahrscheinlich einfach nur nicht gesehen.