Читать книгу Finde die Liebe, die dir als Kind gefehlt hat - Julia Tomuschat - Страница 10

DAS VERLETZTE INNERE KIND UND SEINE INNEREN ELTERN

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Die Stimme der Eltern begleitet uns überallhin. Ob wir inzwischen zwanzig oder fünfzig Jahre alt sind, unwillkürlich hören wir den Kommentar der verinnerlichten Eltern. Wenn wir ein buntes T-Shirt kaufen, Nutella aus dem Glas naschen oder den eigenen Kindern bei den Schulaufgaben helfen, unablässig vernehmen wir das Urteil von Mutter und Vater wie eine Musik im Hintergrund.

Die meisten Menschen verbinden mit ihren Eltern gute und schlechte Erfahrungen – Sonniges und Schattiges. Zunächst möchte ich die problematische Seite beleuchten. Leider ist die verinnerlichte elterliche Stimme nicht immer liebevoll und unterstützend, sondern oftmals harsch, abwertend oder überängstlich. Wenn wir eine Sache nicht auf Anhieb richtig machen, rollt beispielsweise ein Teil von uns mit den Augen und schimpft: »Du bist ja zu blöd, die einfachsten Sachen hinzubekommen.« Es ist, als würden wir uns selbst abwatschen. Das nagt am Selbstwert. Anstatt dass wir uns ermutigen »Ach, das wird schon. Versuche es einfach noch einmal«, werten wir uns selbst ab. Die inneren Eltern werden zum ständig nörgelnden inneren Kritiker. Wie sollen wir Herausforderungen annehmen und Abenteuer wagen, wenn wir uns selbst zerlegen? Der Gedanke »Ich werde mich bestimmt doof anstellen und blamieren« blockiert uns.

Viele Menschen sind ihren Eltern gegenüber loyal. Sie finden sie vorbehaltlos okay. Egal wie schäbig die Mutter oder der Vater mit ihnen umgegangen ist, niemals würden sie die kleinste kritische Bemerkung über sie fallen lassen. Andere rebellieren gegen ihre Eltern und hoffen, dass sie, wenn sie aus dem Elternhaus ausziehen, die kontrollierende und negative Tonspur abschütteln. Sie wollen endlich frei sein und die alte Leier nicht mehr hören. Leider funktioniert das in den meisten Fällen nicht. Für Kritik und Entmutigung müssen Vater und Mutter nämlich gar nicht anwesend sein.

KATRIN KANN NICHT SCHLAFEN

Meine Klientin Katrin vernahm die väterlichen Kommentare vor dem Einschlafen. Sie quälte sich mit Selbstzweifeln. »Habe ich für morgen alles vorbereitet? Bestimmt habe ich etwas vergessen. Ich bin eine dusselige Kuh.« Ihr Vater war vor einigen Jahren gestorben. Trotzdem lag sie nachts wach. Ihr inneres Kind kämpfte mit dem Gefühl, minderwertig zu sein, das er ihr eingetrichtert hatte. Und dann schaltete sich eine weitere strenge Stimme ein und versuchte, die Selbstzweifel zu übertönen: »Jetzt reiß dich zusammen. Du musst funktionieren. Schlaf endlich ein.«

Für unsere Psyche ist es unbedeutend, ob die Eltern im gleichen Dorf wohnen oder meilenweit entfernt oder wie bei Agnes gar nicht mehr leben. Trotzdem ist ihre Stimme deutlich hörbar. Wenn ich »höre« schreibe, ist das möglicherweise missverständlich für dich. Nicht allen Menschen sind die Eltern auf der Tonspur präsent. Manchmal sind die inneren Eltern als Gefühl in uns verankert. Dann hören wir die elterlichen Kommentare nicht mit unserem inneren Ohr, sondern empfinden beispielsweise ein stechendes Gefühl im Bauch, wenn wir uns bei einem Fehler ertappen. Wohlgemerkt: Die Eltern müssen dafür nicht anwesend sein. Wir haben sie längst verinnerlicht. Sie sind ein Teil von uns.

Wie kommt es dazu, dass die Eltern in uns leben? Die Erfahrungen, die wir als Kind mit unseren Eltern machen, sind durch ein doppeltes Erleben gekennzeichnet. Unsere Eltern sind die Erziehenden und als Kind sind wir der Empfänger ihrer Botschaften.

ANNA IST NIE ZUFRIEDEN

Meine Klientin Anna erzählte mir, dass ihre Mutter immer wieder mit ihr schimpfte, weil sie ihr so viel Arbeit mache. »Wenn ich heimkam und nur ein Krümelchen Dreck mit in die Wohnung brachte, hat sie sich maßlos aufgeregt. Überhaupt stöhnte sie bei jeder Kleinigkeit. Wenn sie für mich und meine Geschwister kochte oder den Wochenendeinkauf erledigte, war das immer mit Genervtsein verbunden. Einmal sagte sie mir sogar, dass wir ihr ganzes Leben versaut hätten.« Annas Mutter sendete ihr die Botschaft: »Du fällst zur Last. Du bist eine Zumutung.« Anna fühlte sich deswegen schuldig und versuchte, sobald sie älter war, ihre Mutter zu entlasten. Sie putzte, bügelte und versorgte die jüngeren Geschwister. Anna war ein fleißiges Mädchen, trotzdem nörgelte ihre Mutter häufig. »Hier sieht es schon wieder aus wie Sau. Ich verstehe einfach nicht, warum du keine Ordnung halten kannst.«

Annas kindliches Ich weiß, wie schmerzlich es sich anfühlt, regelmäßig angemeckert zu werden und nicht zu genügen. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite lernte Anna »die Kunst« der Beschimpfung, denn Eltern sind für uns immer ein Vorbild. Sie sind unser Modell dafür, wie man mit einem Kind spricht – dafür, wie man mit uns redet. Vor allem, wenn ein Kind sehr häufig wegen der gleichen Sache gescholten wurde, ist die Gefahr groß, dass es diese negativen Kommentare verinnerlicht. Zurück zu Anna, die heute erwachsen ist: Sie braucht ihre Mutter gar nicht mehr. Sie trägt sowohl den Kinderteil, der sich anstrengt, als auch den genervten Mutterteil in sich. »Auch wenn ich tagelang putze und aufräume, irgendetwas stört mich immer. Ich frage mich dann, warum ich nie zufrieden bin.«

Da die Eltern bewusst oder unbewusst unser Vorbild sind, nehmen wir sie in uns auf. Auf diese Weise angelegte psychische Strukturen bleiben uns jenseits der Kindheit erhalten: das Kindliche und die inneren Eltern. Das verletzte innere Kind wird von Stefanie Stahl Schattenkind genannt. Die verletzenden Eltern könnte man dementsprechend Schatteneltern nennen.

Schatteneltern sind nicht nur als innere Stimme vernehmbar. Sie kommen auch zum Vorschein, wenn wir mit anderen Menschen sprechen. Anna hat beispielsweise ihrem Partner einmal heftige Vorwürfe gemacht, weil es bei ihm nicht wie geleckt aussah. Sie stand in der Küchentür und die Worte purzelten aus ihr heraus: »Kannst du keine Ordnung halten? Du bist eine Sau.« In solchen Momenten lassen wir die Schatteneltern auf andere Menschen los. Wir wollen natürlich nicht gemein und gehässig sein. Aber in dem Moment funktionieren wir wie auf Knopfdruck. Hinterher tut es einem leid, denn das eigene Schattenkind weiß genau, wie verletzend diese Worte sind.

Das Schattenkind und die Schatteneltern sind Teil unserer Psyche. Sie sprechen miteinander und schaukeln sich unter Umständen gegenseitig hoch. Oft entfaltet sich eine ungesunde Dynamik, wie man an Annas Beispiel sieht. Anna rackert sich ab, doch für den strengen von der Mutter übernommenen elterlichen Anteil ist es nie gut genug. Anna behält den kritischen mütterlichen Blick auf sich selbst bei: »Kannst du das nicht ein einziges Mal richtig machen?« Deshalb müht Anna sich wie verrückt. Ohne Erfolg. Sie ist in einer Schleife aus Anstrengung und Nörgeln gefangen – ein richtiger Teufelskreis. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, brauchen wir die Sonnenseite, den inneren Erwachsenen und die idealen inneren Eltern.

Finde die Liebe, die dir als Kind gefehlt hat

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