Читать книгу Finde die Liebe, die dir als Kind gefehlt hat - Julia Tomuschat - Страница 7
HEILUNG UND DIE SEHNSUCHT NACH ELTERLICHER LIEBE
ОглавлениеWem die Liebe seiner Eltern gewiss ist, braucht sich vor nichts zu fürchten – das ist meine feste Überzeugung. Zugleich klingt es wie ein Schlusssatz aus einem Märchen. Die gute Fee verkündet am Ende, als alles gut ausgegangen ist, diese Lebensweisheit. Und wir spüren: Es stimmt! Die elterliche Liebe ist lebenslang eine stärkende Kraft. Intuitiv wissen wir, wie sehr jeder Mensch die Liebe seiner Eltern braucht. Und wie sehr Menschen sie vermissen, wenn Eltern zu dieser Liebe nicht fähig waren. Auch wenn wir längst erwachsen sind, sehnt sich der kindliche Anteil in uns danach, angenommen und gehalten zu werden. Er dürstet nach Mutters und Vaters Liebe.
Manche Menschen hatten das Glück, von hingebungsvollen Eltern aufgezogen zu werden. Sie fühlten sich von klein auf willkommen auf dieser Welt. Sie wurden gefördert und unterstützt. In den Augen ihrer Eltern lag ein Lächeln, wenn sie ihren Nachwuchs anschauten. Diese elterliche Zuwendung stärkt die Lebensenergie dieser Menschen weit über das Kindesalter hinaus. Glückspilze! Sie tragen Vaters und Mutters Liebe in sich. Sie sind in dieser Liebe wie in einen kuscheligen Mantel eingehüllt. Sie sind geschützt, auch wenn der Wind des Lebens eisig bläst. Ein liebevolles Elternhaus gibt uns eine Art Nestschutz für unser gesamtes Leben mit. In der Biologie bedeutet Nestschutz, dass das Baby durch die Muttermilch immunisiert und nicht so leicht krank wird. So ähnlich funktioniert das mit der Elternliebe. Sie macht uns widerstandsfähiger gegenüber den Herausforderungen des Lebens. Sogar die Angst vor dem Tod wird abgemildert, wie mir eine Bewohnerin im Altenheim schilderte. Sie fürchte sich nicht vor dem Sterben. »Im Himmel werde ich Vati und Mutti wiedertreffen und darauf freue ich mich.« Vielleicht hast du ähnlich gute Gefühle, wenn du an deine Eltern denkst. Dann kannst du dieses Buch getrost beiseitelegen und dich daran freuen, dass deine Eltern dir einen warmen Kuschelmantel geschenkt haben.
Sehr viel wahrscheinlicher hast du zwiespältige Gefühle, wenn du an deine Eltern denkst, und du hast ihre Liebe und ihre Zuwendung zumindest stellenweise vermisst. Die meisten Menschen haben kein ungetrübtes Verhältnis zu Mutter und Vater. Sie erinnern sich neben den schönen Momenten auch an Kränkungen, Zurückweisungen und fehlende Zuneigung. Man muss es so sagen: Die wenigsten Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos, denn viele Eltern haben ihrerseits ein Päckchen zu tragen. Aufgrund der eigenen Biografie und der Verletzungen, die sie in ihrer Kindheit im Elternhaus erlebten, sind sie eingeschränkt liebesfähig.
Meine Klienten berichten mir von Müttern, die nie zuhörten. Davon, dass dem ungeduldigen Vater der Kragen platzte, weil sie die Schleife immer noch nicht binden konnten, von frostigem Schweigen, weil sie zu spät kamen. Sie erzählen mir, dass es »eine setzte«, weil sie etwas kaputt gemacht hatten, und dass sie Schimpftiraden erdulden mussten, weil sie »nur« eine Drei mit nach Hause brachten. Andere hatten Eltern, die so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass emotional kein Platz für ein bedürftiges Kind vorhanden war. Als Reaktion darauf strengten diese Menschen sich als Kinder sehr an, die Aufmerksamkeit der Eltern zu gewinnen – oft vergebens. Und einige meiner Klientinnen sind ganz ohne Vater beziehungsweise Mutter aufgewachsen. Ihnen fehlte die Zuwendung eines Elternteils. Und sie fragen sich, warum der Vater / die Mutter sie im Stich gelassen hat. Hinzu kommen die Erziehungsideologien der jeweiligen Zeit. Meine Oma war der Überzeugung »Man muss ein Baby schreien lassen, das stärkt die Lunge«, und als meine Kinder klein waren, stand das Buch »Jedes Kind kann schlafen lernen« auf den Bestsellerlisten. Dieser Ratgeber hat Eltern dazu aufgefordert, ihre Babys und Kleinkinder schreien zu lassen, um ihm das Schlafen »beizubringen«. Die Begleitbotschaft ist klar: Schon sehr kleine Kinder sollen sich fügen. Liebe und Zuwendung gibt es nur bedingt, für »richtiges« Verhalten.
Haben wir in Kindertagen keine oder zu wenig Liebe bekommen, ist unsere Selbstliebe blockiert. Denn die elterliche Liebe wirkt wie ein Spiegel für unsere Gefühle: Schauen die Eltern uns liebevoll an, fühlen wir uns wertvoll und willkommen auf der Welt. Wir spüren, dass wir richtig sind, so wie wir sind. Diese Emotion tragen wir als Urvertrauen in uns und sie ist die Grundlage für ein gesundes Selbstwertgefühl. Probleme wie ein mangelndes Selbstbewusstsein, Ängste und Traurigkeit entstehen, weil Vater und Mutter uns nicht bedingungslos liebten, weil sie nicht erkannten, was wir brauchten, und weil sie uns nicht ausreichend Nähe und Geborgenheit schenkten.
Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?, fragst du dich jetzt vielleicht. Bedingungslose Liebe? Wer kann das schon bieten? Oder erwarten? Geht es nicht ein bisschen kleiner? Reicht es nicht, wenn wir überhaupt geliebt wurden? Einerseits schon, schließlich kommen wir mit den Anforderungen des Lebens auch zurecht, ohne dass wir bedingungslose Liebe erlebt haben oder geben können. Aber tief in uns wünschen wir uns genau diese Art von Liebe. Wir wollen geliebt und anerkannt werden, und zwar dafür, dass wir so sind, wie wir sind, unabhängig davon, was wir tun oder leisten. Viele Menschen teilen die Erfahrung, dass sie sich die Anerkennung ihrer Eltern verdienen mussten. »Sie haben mich nur gelobt, wenn ich mit guten Noten nach Hause kam. Ich war nur wertvoll, wenn ich Leistung brachte.«
Nun sind die Kindertage längst vorbei. Doch der Schluss liegt nahe: Wenn es gelänge, uns heute die Liebe zu schenken, die wir als Kind vermisst haben, könnten wir uns doch noch in der Welt bedingungslos willkommen fühlen. Wir könnten die Selbstzweifel, die wir seit Kindertagen in uns tragen, abstreifen. Wir würden uns wertvoll und richtig fühlen, so wie wir eben sind. Und wir könnten dann auch andere so lieben, wie wir es uns wünschen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn die verinnerlichte Stimme der Herkunftseltern verhindert, dass ich mich so annehme, wie ich bin.
Eine vertrackte Situation, die mir meine Klienten und Klientinnen häufig schildern: Sie haben zwar die Verletzungen ihres inneren Kindes entdeckt. Sie haben mit Hilfe von Büchern, Podcasts und Workbooks viel über sich selbst und ihre Kindheit in Erfahrung gebracht. Sie verstehen, wie sehr sie durch ihre Eltern geprägt worden sind. Und trotzdem fehlt der letzte Kick, der wirklich eine Veränderung bewirken würde. Sie sehen sich selbst vor sich, wie sie als Junge oder Mädchen vor ihren Eltern standen und sich klein und wertlos fühlten. Sie spüren auch, dass es gut wäre, dieses kleine Wesen, das sie einmal selbst waren, zu trösten. Aber jetzt sind sie ratlos: »Ich weiß, ich müsste den verängstigten kleinen Jungen / das kleine Mädchen in mir trösten, aber ich weiß einfach nicht, wie das geht. Ich finde nicht die richtigen Worte. Wenn ich es versuche, fühlt es sich hohl an. Irgendwie fehlt mir der Anpack.« Verständlich, denn hierfür braucht man einen Zugang zu sich selbst als Kind, dem inneren Kind.
Vielleicht hast du den Begriff vom inneren Kind schon einmal gehört. Er bezeichnet alle in uns gespeicherten Erinnerungen, Gefühle und Erfahrungen aus der Kindheit. In unserem inneren Raum bewahren wir sowohl Positives wie die unbändige Freude beim Spielen mit Freunden als auch Belastendes wie Schamgefühle, weil wir in großer Runde am Familientisch runtergeputzt wurden. Wir beherbergen in unserer Psyche das fröhliche innere Kind – unser Sonnenkind – und den verletzten kindlichen Anteil – unser Schattenkind. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Menschen der Arbeit mit dem inneren Kind zugewandt. Diese aus meiner Sicht positive Entwicklung ist insbesondere das Verdienst meiner lieben Freundin und Kollegin Stefanie Stahl1, die mit ihrem Bestseller »Das Kind in dir muss Heimat finden« darauf aufmerksam gemacht hat, wie prägend das verletzte innere Kind, das Schattenkind, auch noch im Erwachsenenalter ist. Wer sein Sonnenkind entdeckt und sein Schattenkind tröstet, erfährt Heilung.
»Aber wie funktioniert das mit dem Trösten? Wie schaffe ich es, die ursprüngliche Programmierung dauerhaft aufzulösen?« Mit diesen Fragen im Gepäck suchen viele Klient*innen meine Hilfe. Sie wollen ihr verletztes inneres Kind nachhaltig heilen. Dafür braucht das Schattenkind warmherzige Eltern. Damit es auf einer tiefen Ebene gesunden kann, benötigt es das Mitgefühl und die Liebe von (besseren) inneren Eltern. Gutmeinende und unterstützende innere Eltern sind das fehlende Verbindungsstück. Wer sie als Helferwesen in seiner Psyche etabliert, kann das verletzte innere Kind auf einer tiefen Ebene heilen.
Was sind gute innere Eltern? Sie sind eine innere Stimme, die sich liebevoll und unterstützend dem jüngeren Selbst zuwendet. Die Botschaften der idealen inneren Eltern unterscheiden sich zumeist von dem, was du als Kind tatsächlich gehört und aufgenommen hast. Als Kind warst du von deinen Eltern abhängig. Deshalb hast du alles, was sie sagten, für bare Münze genommen. Heute bist du erwachsen. Du kannst neue Entscheidungen treffen, die Kinderrolle verlassen und dir selbst die Ermutigung und Warmherzigkeit geben, die du dir als Kind gewünscht hast. Du kannst dir selbst Vater und Mutter sein.
Genau hier setzt dieses Buch an. Ich möchte dir einen Leitfaden an die Hand geben, wie du dein inneres Kind heilen kannst. Du bekommst eine Anleitung, wie du dir selbst Eltern sein kannst. Mithilfe der Übungen in diesem Buch kreierst du dir ideale innere Eltern, Eltern, die dir den Rücken stärken. Auf diese Weise schenkst du dir die Liebe, die dir als Kind gefehlt hat. Das ist wie ein kleines Coaching zur Selbstliebe. Das heißt, wenn du möchtest, bist du dein eigener Coach im Selbstcoaching zur Selbstliebe.
Damit du den Coachingprozess gut durchlaufen kannst, erläutere ich dir, lieber Leser, liebe Leserin, die dahinterstehenden psychologischen Zusammenhänge. Verstehen allein reicht nicht. Eine Klientin hat es einmal folgendermaßen formuliert: »Vom Kopf her weiß ich ganz genau, warum ich so viele Probleme habe. Aber es sackt nicht vom Hirn in mein Herz und in meinen Bauch.« Damit steht sie nicht alleine da. Verstehen ist der erste Schritt, damit in einem weiteren Schritt das Wissen im Herzen, in der ganzen Person, ankommt. Zum Überwinden der Hirn-Herz-Schranke habe ich Übungen und kleine Experimente entwickelt. Am meisten profitierst du, wenn du die Übungen nicht nur durchliest, sondern auch durchführst. Dafür möchte ich werben. Wir alle wissen, dass wir nicht sportlicher werden, wenn wir Fitnessvideos auf Youtube schauen. Mit der Persönlichkeitsentwicklung ist es ähnlich. Zwar mag sich beim Lesen die eine oder andere Erkenntnis einstellen, aber tiefere Einsichten kommen erst beim Ausprobieren. Vielleicht magst du dir dafür ein leeres Heft zulegen, in das du deine Gedanken, Selbstbeobachtungen und Ideen hineinschreibst?
Du kannst jetzt mit der ersten kleinen Übung anfangen. Schließe die Augen und frage dich: »Wie würde sich mein Leben verändern, wenn ich wie ein liebevoller Vater/eine liebevolle Mutter …
an mich glaubte?
mich annähme – so wie ich bin?
mich freundlich ermunterte?
mir vertraute?
mich liebte?«
Wenn wir uns wie eine fürsorgliche Mutter beziehungsweise ein einfühlsamer Vater um uns selbst kümmern, geben wir uns die Unterstützung, die wir als Kind vermisst haben. Das ist uns auch heute, wo wir schon längst erwachsen sind, noch möglich.
Jetzt habe ich die ganze Zeit über die inneren Eltern geschrieben und so getan, als wären Vater und Mutter eine Einheit. Das stimmt aber nicht. Vater und Mutter erfüllen unterschiedliche Grundbedürfnisse. Unser Bedürfnis nach Zuwendung und Nestwärme wird eher von der idealen Mutter erfüllt. Der ideale Vater spornt uns an, die Welt zu erobern. Wenn wir selbst den mütterlichen und väterlichen Part übernehmen und für beides sorgen, für warmes Angenommensein UND Ermutigung, ist dies wie ein Düngemittel für unsere Entwicklung. Der Selbstwert festigt sich und alte Strukturen wie das Gefühl »Ich bin nicht liebenswert« lösen sich auf. Durch die heilende Kraft der elterlichen Liebe nehmen wir uns an, wie wir sind, und stehen authentisch mit beiden Beinen im Leben.