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3.2.1. Pietismus und Erweckung

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Die Grenzen von Pietismus und Erweckung sind fließend und über den Pietismusbegriff, vor allem seine lokale und temporale Ausdehnung, herrscht keine Einigkeit.94 Mit meiner Definition des Pietismus schließe ich mich Wallmann an:

«Der Pietismus ist eine im 17. Jahrhundert entstehende, im 18. Jahrhundert zu voller Blüte kommende religiöse Erneuerungsbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus, neben dem angelsächsischen Puritanismus die bedeutendste religiöse Bewegung des Protestantismus seit der Reformation. Gleicherweise in der lutherischen wie in der reformierten Kirche entstanden, dringt der Pietismus auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens, entwickelt neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens, führt zu durchgreifenden Reformen in Theologie und Kirche und hinterlässt tiefe Spuren im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der von ihm erfassten Länder.»95

Für die Verhältnisbestimmung von Pietismus und Erweckungsbewegung kommt Brecht zu dem Schluss:

«Wenn man so will, könnte man das, was in weiten Teilen des kontinentalen, europäischen Protestantismus sich als Fortsetzung des Pietismus darstellt, zumindest im kontinentalen, aber wohl nicht vom angelsächsischen Horizont aus für das 19. Jahrhundert nach wie vor unter dem Obertitel Pietismus als Erweckungsbewegung und Evangelikalismus bezeichnen und sich auf diesen gemeinsamen Nenner einigen.»96 |46|

‹Erweckung› ist kein singuläres Ereignis des 19. Jahrhunderts.97 Immer wieder gab es in der Geschichte der christlichen Kirche Erweckungsbewegungen, doch erst im frühen 19. Jahrhundert wurde ‹Erweckung› zum Fachbegriff für «eine sich in mehreren Ländern zeigende, im Wesen antiaufklärerische Bewegung mit dem Höhepunkt um das Jahr 1830».98

Gäbler nennt fünf Motive, die charakteristisch für die Erweckungsbewegung in all ihrer Unterschiedlichkeit sind:

1 Das prophetische Motiv, das eine Analyse der Zeitereignisse mit der Heilsgeschichte in Verbindung bringt, dabei wird die Gegenwart als krisenhaft erfahren und beschrieben.

2 Das biblizistische Motiv, das den Gegensatz zur historisch-kritischen Schriftauslegung betont und dezidiert antiaufklärerisch ist.

3 Das chiliastische Motiv, das im Bewusstsein der bevorstehenden Endzeit in seiner postmillenaristischen Ausprägung, in Form von missionarischer, evangelisatorischer und karitativer Arbeit, zu unermüdlicher Arbeit für das Bauen des Gottesreiches führt.

4 Das universalistische Motiv hängt mit dem chiliastischen Motiv insofern zusammen, als dass die Erweckten in der postmillenaristischen Tradition auf ein «universales, weltweites Gottesreich ohne nationale Barrieren und ohne konfessionelle Schranken» warten und die tatsächlich existierenden weltweiten evangelikalen Netzwerke als Zeichen dieses universalen Gottesreiches sehen.99 Dieser Universalismus kann jedoch auch in sein glattes Gegenteil, in Partikularismus oder Nationalismus umschlagen, so dass dann z.B. die Vereinigten Staaten von Amerika als Ziel der Heilsgeschichte gelten.|47| 5. Das individualistische Motiv betont die persönliche und selbständige Gotteserfahrung, die jeder Christ machen müsse. Sie ist das wesentliche Merkmal des christlichen Glaubens. Wie im Pietismus dient die persönliche Bekehrung, das persönliche Gottesverhältnis zudem als gemeinschaftsstiftendes Erkennungszeichen.

Die Erweckungsbewegung steht in enger Beziehung zum Pietismus. Besonders die Verbindungen von Gestalten der Erweckungsbewegung wie Thomas Chalmers, Ami Bost oder Ludwig Hofacker zum Herrnhuter Pietismus sind zahlreich und bislang noch nicht intensiv erforscht. Mit dem indi­vidualistischen Motiv hing das soziale Motiv eng zusammen, das die Tradition von wissenschaftlichen, gemeinnützigen oder religiösen Gesellschaften aus dem 18. Jahrhundert fortsetzte. Mündige Christinnen und Christen schlossen sich zu Vereinen und Gesellschaften zusammen. Wie bei den aufklärerischen Sozietäten waren auch hier die Freiwilligkeit, die persönliche Überzeugung und die grundsätzliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen (zumindest vor Gott) zentral. So bestand eine fortgesetzte Kontinuität zwischen Aufklärung und Erweckung. Zugleich waren diese Zusammenschlüsse zweck­gebunden und dienten ganz bestimmten Aufgaben wie der Bibel- oder Trak­tatverbreitung oder eben der Heidenmission.

Gäbler weist nicht allen fünf Motiven die gleiche Bedeutung zu. Zentral sind endzeitliches Bewusstsein, Erfahrungsreligion und der Sozietätsgedanke. Die von ihm verwendeten Begriffe sind sehr umfassend. Es besteht die Gefahr einer Verkürzung z.B. beim Begriff der Erfahrungsreligion.100 Jedoch geht es ihm in erster Linie darum, das Phänomen ‹Erweckung›, das sich durch seine Vielgestaltigkeit einer Beschreibung immer wieder zu entziehen sucht, mit |48| den fünf Motiven bzw. drei Hauptmotiven zufriedenstellend zu charakterisieren. Dadurch gewinnt die Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts einerseits ein eigenständiges Profil gegenüber dem Pietismus, andererseits wird deutlich, dass es ohne pietistische Traditionen und Aufklärung kein ­endzeitliches Bewusstsein gäbe, Erfahrungsreligion und Sozietätsgedanke un­denkbar wären: «Das Zusammentreffen dieser drei Motive charakterisiert die Erweckung im europäischen und im amerikanischen Protestantismus und unterscheidet sie von anderen Bewegungen.»101

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