Читать книгу Menschenbilder - Julia Ulrike Mack - Страница 26
3.2.2. Das ‹Missionsjahrhundert› in der Wahrnehmung seiner Akteure
ОглавлениеDer Begriff ‹Missionsjahrhundert› wurde 1880 von Gustav Warneck zum ersten Mal als Titel verwendet.102 In seiner Schrift Warum ist das 19. Jahrhundert ein Missionsjahrhundert? ist noch viel von der Euphorie zu spüren, die im 19. Jahrhundert zu der großen Ausbreitung protestantischer Missionsgesellschaften vor allem in England und im ganzen deutschsprachigen Raum führte.
Für Warneck, dem «Begründer eines wissenschaftlichen Ansatzes im protestantischen Missionswesen»103, war Mission zunächst einmal deutlich Gottes Wille und das barmherzigste aller Werke. Mission diene also dem Wohl der Menschheit.104 Daneben zeige sie aber auch die innere Verfasstheit einer Kirche an.105
Auf die Frage, warum ausgerechnet das 19. Jahrhundert ein ‹Missionsjahrhundert› sei, gab Warneck zwei Antworten. Zum einen sprachen die Zahlen für sich: Die Missionsgesellschaften hatten sich enorm vermehrt, die Zahl der Mitarbeiter wie auch die Zahl der Bekehrungen war gestiegen und die Missionen waren in so vielen Ländern auf dem gesamten Erdball tätig wie nie zuvor. Zum anderen machte sich eine geistige und sittliche Hebung, d.h. eine Wiedergeburt der Völker bemerkbar und zeigte Parallelen zur erfolgreichen Mission in apostolischer und mittelalterlicher Zeit.106 Warneck stellte fest: Gott hatte im 19. Jahrhundert in der protestantischen Kirche nicht nur den Missionsgeist geweckt, sondern auch noch die Möglichkeit zur Mission geschaffen. Dies zeigte sich darin, dass das 19. Jahrhundert auch das Jahrhundert der Entdeckungen und der Erfindungen war. Er führte in diesem Zusammenhang sowohl die Entdeckungsfahrten von James Cook auf, als auch die technischen Erfindungen wie Eisenbahn oder Telegraf, durch die Reisen, Handel, Kommunikation |49| und politische Beziehungen über weite Entfernungen hinweg enorm erleichtert oder erst ermöglicht wurden. Sogar der neue protestantische bzw. englische Kolonialbesitz wurde indirekt zum Mittel missionarischer Möglichkeiten.107
All diese Zeichen machten deutlich: Mission war für die evangelische Kirche Pflicht, ein Versäumnis war Sünde und hatte schlimme Folgen: «Die Missionswege, die er gebahnt, fordern zu Missionsreisen auf und der Missionsgeist, den er mitgetheilt, drängt zur Missionsarbeit. […] In geöffnete Thüren muß man eintreten. Thut man es nicht, so werden sie vielleicht wieder geschlossen oder andere treten ein, die Gottes Werk verderben.»108 Für Warneck war die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis, dass alle (protestantischen) Christinnen und Christen dazu aufgerufen waren, sich für die Mission zu engagieren. So wie der Stellenwert, den die Mission in der Kirche einnahm, Auskunft über den geistlichen Zustand derselben gab, so zeigte das missionarische Engagement auch bei dem/der Einzelnen einen lebendigen, ernsthaften Glauben an. Er schloss deshalb seine Schrift mit der Versicherung, dass Mission ebenso schrift- wie zeitgemäß sei.109
Im Jahr 1893 war von diesem euphorischen, optimistischen Aufruf zur Mitarbeit nicht mehr viel übrig. Der ehemalige Basler Missionar und Redakteur des Evangelischen Missions-Magazins, Johannes Hesse, zog unter dem Titel Das Missionsjahrhundert eine kritische Bilanz. Auch für ihn stand außer Frage, dass das 19. Jahrhundert die Zeit der protestantischen Mission war. Dann beschrieb er die zunehmende Ausdifferenzierung der Missionsmethoden und -mittel und stellte auch für die Missionsgesellschaften und den ‹Erfolg› der Mission insgesamt fest, dass sie vielgestaltig und von unterschiedlicher Qualität seien.
«Wir glauben dennoch an den Erfolg der Mission. Allerdings nicht so wie manche unerfahrene Freunde, welche meinen, jeder Bekehrte sei ein Heiliger, alle Missionsgemeinden seien besser als die alten Christengemeinden in Europa, und wenn man nur noch ein wenig Geduld habe, so werde es bald keine Heiden mehr geben. Nein, so ist es nicht. Auch der Missionserfolg ist – allerlei Gattung, d.h. gemischter Art, und meist wird des |50| Unkrauts mehr sein als des guten Weizens, der faulen Fische mehr als der gesunden. Aber, wie gesagt, wir glauben, dass auch bei gründlicher Untersuchung und Erwägung aller Umstände sich ein grosser und schöner Missionserfolg wird nachweisen lassen.»110
Die Ernüchterung, die hier anklingt, wurde bei Reinhold Grundemann, einem engen Mitarbeiter Warnecks, in seinem Rechenschaftsbericht über das abgelaufene Missionsjahrhundert von 1900 deutlich: «Also das Jahrhundert hat etwas anderes geliefert, als die meisten Missionsfreunde erwarteten. Aber waren diese Erwartungen berechtigt?»111 Er kam zu dem Schluss: «Es waren übertriebene, unbillige Erwartungen, die man in der Heimat hegte.»112
Für die Autoren stand also außer Frage, dass das 19. Jahrhundert eine von Gott gewollte und bereitete Zeit der Mission war. Jedoch in der Bewertung, was denn die Mission als Mission ausmache, kann man eine Verlagerung bzw. eine zunehmende kritische Reflexion feststellen.113 Wurde noch bis in die 1880er die Bekehrung ganzer Völkern erwartet,114 so lässt sich im Rückblick auf das 19. Jahrhundert – und nachdem dies so offensichtlich nicht eingetreten war – eine gewisse Problematisierung eines Missionsverständnisses feststellen, das sich allein an zahlenmäßigen Erfolgen festmachte.
Diese um 1900 festzustellende ‹Ernüchterung› angesichts des schwindenden Optimismus und zunehmenden Krisenbewußtseins lässt sich auch in anderen theologischen Richtungen feststellen z.B. in der Liberalen Theologie bei Ernst Troeltsch und der Ritschl-Schule, aber auch in der Dialektischen Theologie. Karl Barth selbst führte wesentliche Impulse für sich und seine theologische Generation auf Christoph Blumhardt d.J. zurück.115 Graf stellt für den Kulturprotestantismus um 1900 eine zunehmende Konfliktorientierung und Krisenmetaphorik fest, die sich in einer gesteigerten Sensibilität für soziale und politische Antagonismen äußerte: Der Optimismus des durch den Protestantenverein geprägten Altliberalismus des 19. Jahrhunderts wurde in der Generation der Ritschl-Schüler ab 1890 durch eine Fin de Siècle-Stimmung |51| überlagert. Das alte harmonistische Gesellschaftsbild, das der Protestantenverein Mitte des 19. Jahrhunderts vertrat, stand dabei in einer idealistischen Tradition, während der jüngere Kulturprotestantismus durch die Vermittlung Wilhelm Herrmanns, Albrecht Ritschls und deren Schüler stark kantianisch geprägt wurde.116 Dieser Wechsel von einem harmonistisch-integrativen hin zu einem eher statischen, antagonistischen Welt- und Menschenbild ließ sich ab 1880 auch im Missionsdiskurs feststellen.