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9. Jürgen — Suche verrückten New Yorker
ОглавлениеIch hatte eine Anzeige in einem New Yorker Magazin aufgegeben; ich wollte den Singlemarkt testen.
Der Text lautete ungefähr: Neu in New York, Deutsche, groß, blond, sexy, Mitte 40 (natürlich gelogen), sucht verrückten Mann, der ihr New York zeigt. Ich bekam über 100 Nachrichten. Manche riefen dreimal an.
Ich hörte die Messages ab: Rechtsanwalt, 45, 1,82 groß, jünger aussehend, Nichtraucher, reise sehr oft nach Europa, Telefonnummer ... Chris, 49, Nichtraucher, lebe auf Long Island, liebe Joggen, Skilaufen, Klettern, Konzerte, Telefonnummer ... 45, 1,80 groß, Grüß Gott, bin Rechtsanwalt, hoffe dich zu sehen, Telefonnummer ... Mein Name ist Jack, ich liebe europäische Frauen, deine Message klingt so süß, so niedlich, aufregend, ich bin Kriminalist, 38, 1,83 groß, ich hoffe, ich bin nicht zu klein für dich, habe schmutzigblondes Haar und grüne Augen, ich hoffe, dich zu treffen, du klingst wundervoll, ich bin müde von amerikanischen Girls, Telefonnummer ... James, Immobilienmakler 1,86 groß, sehr gutaussehend, mag die deutschen Frauen sehr, nach meiner Erfahrung sind sie ausgeglichen, Telefonnummer ... Christopher, lebe seit sechs Jahren in New York, original aus London, beschäftigt im Geldmanagement, ich möchte dich bald treffen — seine Stimme klang sehr, sehr angenehm, trotzdem rief ich nicht zurück — Jim, James, Bob, Tom und wie sie alle hießen ... manche sprachen ein wenig Deutsch, haben in Deutschland gelebt ... sie waren alle angetan von den deutschen Frauen.
Ich hatte dann aber plötzlich gar keine Lust, jemanden anzurufen. Manche waren verrückt nach meinem Akzent. Es wurde mir immer wieder bestätigt, dass er sehr sexy klang. Ich erinnere mich, als ich mal mit einem guten Freund beim Weinverkosten auf einem kalifornischen Weingut war. Wir, drei Frauen und er, setzten uns an einen Tisch, um unseren Lunch zu bestellen. Die Kellnerin kam, um die Bestellungen entgegenzunehmen. Ich bestellte. Sie fiel aus allen Wolken und schrie lachend: „Mein Gott, was für ein sexy Akzent!“
Meine Freundin aus Deutschland meinte: „Wer A sagt, muss auch B sagen.“ Ich sollte ein, zwei Interessenten treffen. „Okay, okay, du hast recht.“ Also rief ich zwei an, mit denen ich mich dann auch traf.
Der Erste war mindestens zehn Zentimeter kleiner als er sich ausgegeben hatte. Er trug einen dunkelblauen Trenchcoat. Ich glaube, er war auch älter. Wir trafen uns in der Mittagspause, er holte mich vom Büro 33th Street/Madison Avenue ab. Wir gingen zu McDonalds um die Ecke. Ich war erstaunt, was er mir alles in kürzester Zeit, in nur 30 Minuten, über sein Leben erzählte, über seine Finanzen, sein Hab und Gut. Er spendierte eine Cola. Wir sahen uns nie wieder.
Dann war da noch Jürgen: Hallo, guten Tag, ich habe Ihre Anzeige gelesen, ich heiße Jürgen. Ich weiß nicht, ob ich verrückt genug für Sie bin, aber vielleicht. Bin groß und 50 Jahre alt, wohne in Manhattan, Upper West Side. Ich bin Informatiker. Ich kenne Berlin sehr gut. Interesse für Kino, Musik, Restaurants. Wenn Sie Interesse haben, rufen Sie mich an ... Telefonnummer — Dankeschön, tschüss.
Zwei Wochen später traf ich Jürgen. Kinderlos, nie verheiratet, hatte mal in einer kurzen Beziehung gelebt. Er lud mich in ein finnisches Restaurant ein. Es war edel.
Er saß an der Bar und wartete auf mich. Er sagte mir, ich würde ihn an der Brille erkennen. Er war sehr groß und hatte einen Anzug an. Wir lächelten uns an und verstanden uns sofort. Schon durch die zwei, drei Telefonate, die wir zuvor führten, kam es mir vor, als träfe ich einen alten Freund.
Wir tranken an der Bar einen Champagner und wurden dann an den reservierten Tisch geführt. Ich registrierte sofort, dass er gute Manieren hatte. Das Menü war exzellent, wir aßen beide Lachs. Die Rechnung war hoch.
Er war mein Pendant, denn sein Traum war es, einmal in Berlin zu wohnen. Jeden Morgen las er die Berliner Morgenpost im Internet. Mindestens zweimal im Jahr flog er nach Berlin. Er kannte Berlin besser als manch ein Berliner.
Durch die Arbeit und die Abzahlung des Kredits für das Apartment, das er sich vor Kurzem für 220.000 Dollar kaufte, war er gezwungen, seinen Traum auf später zu verschieben.
Seine Eltern waren von Schlesien nach New York gekommen, er sprach Deutsch und wollte seine Deutschkenntnisse verbessern, deshalb hätte er auf meine Anzeige geantwortet.
Wir wurden gute Freunde. Für meinen Sex hatte ich ja meine Lover — Jürgen wurde mein Freund für Kultur und Ausgehen. Er führte mich in viele etablierte und neue Restaurants, wir gingen ins Kino, zu außergewöhnlichen Konzerten, ich holte ihn von der Arbeit ab — er bezahlte alles. Er war Ingenieur, stieg dann aber bei einem Energieversorger als Softwareentwickler ein. Er hatte ein sicheres und gutes Einkommen. Ich mochte ihn, aber nur als Freund.
Als er mir sein schönes Apartment zeigte, war ich erstaunt. Als ich es betrat, roch es nach altem Mann. Es war nicht sehr sauber, besonders im Bad; im Schlafzimmer standen die Betten von seinen Eltern, im Wohnzimmer standen auch so alte Buffets und Tische von den Eltern. Auch das habe ich später öfter bei Junggesellen gesehen: Sie schliefen zum Beispiel auf der siebenunddreißigjährigen abgenutzten Ausziehcouch — man fiel immer zur Mitte — oder noch im Jugendbett, obwohl sie schon Millionen angespart hatten. Seltsame Männer! Wir setzten uns auf seinen Balkon, er bot mir was zu trinken an. Es war sehr laut; der Blick auf den Hudson war wunderschön, aber man hielt den Krach nicht aus. Er war schüchtern. Ich merkte, wie er auf meinen nicht gerade kleinen Busen starrte. Er hätte sich aber nicht getraut, mir zu nahe zu kommen. Komisch ... eine sehr ähnliche Geschichte erlebte ich 10 Jahre später in einer Großstadt der Schweiz.
Als Gegenleistung bot ich ihm an, mit mir nach Deutschland zu kommen. So flogen wir gemeinsam nach Berlin. Er buchte ein Hotel. Ich stellte ihn meinen Freunden vor, und er lernte die Stadt aus einer anderen Perspektive kennen. Er freute sich. Immer, wenn er dann nach Berlin flog, unternahm er etwas mit meinen Freunden, die auch seine Freunde wurden.
Einmal, als ich finanziell in der Klemme war, borgte er mir eine größere Summe für sechs Wochen. Das fand ich toll. Wir trafen uns in einem Café nahe seiner Arbeitsstelle. Er gab mir das Geld und ich gab ihm einen Scheck mit der Bitte, ihn erst in sechs Wochen einzulösen. Ich fragte ihn, ob er keine Angst hätte, dass er es nicht zurückbekäme. Er schmunzelte: Dann würde er einen Rechtsanwalt nehmen. Ich setzte alles daran, ihm das Geld pünktlich wiedergeben zu können. Ich hätte ihm kein Geld geborgt, denn ich hatte mit Geldverleihen nur schlechte Erfahrungen gemacht.
Später fragten mich meine Freunde immer, was er machen würde. Der Kontakt war eingeschlafen.
Einmal gab ich mal ein Kilo Jakobskaffee bei ihm in der Lobby ab, den hatte ich aus Deutschland mitgebracht, weil ich wusste, dass er ihn gerne trank — keine Reaktion.