Читать книгу New Orleans Beat - Julie Smith - Страница 5
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ОглавлениеEs war der zehnte November, der erste wirklich kalte Tag, und Skip erwachte bibbernd vor Kälte. Sie hatte die Wohnung gerade erst bezogen, noch keinen Winter darin verbracht – in dem alten Sklavenquartier hinter jenem Haus, in dem sie früher gewohnt hatte und das ihr Vermieter, Jimmy Dee Scoggin, wieder zu einem Einfamilienhaus umgebaut und dann selbst bezogen hatte, zusammen mit den beiden Kindern, die ihm nach dem Tod seiner Schwester zugefallen waren.
Jimmy Dee hatte das Sklavenquartier entkernen und es zu einem der schicksten Domizile im Quarter umbauen lassen, als er noch selbst dort wohnte. Aber jetzt nannten sie das Gebäude nicht mehr beim alten Namen. Jimmy Dees Adoptivkinder stammten aus Minneapolis und waren nicht vertraut mit der brutalen Geschichte der Stadt. Ihr Onkel war entschlossen, auf ihre Unschuld Rücksicht zu nehmen, und bestand darauf, das Hinterhaus als garçonnière zu bezeichnen. »Früher«, erzählte er den Kindern, »gab es besondere Häuser, nur für die Jungs«, was den elfjährigen Kenny dazu veranlaßte zu fragen, wieso nicht er anstelle der Tante die Wohnung bekommen könne.
»Weil jetzt, nachdem ich erst mal drin bin, ein Erdbeben nötig ist, um mich wieder rauszukriegen«, antwortete Skip.
Sie hatte viermal soviel Platz wie in ihrer alten Einzimmerwohnung, zehnmal soviel Luxus – und etwa zwanzigmal soviel leere Flächen, weil ihre drei oder vier Möbelstücke kaum ins Gewicht fielen. Sie kam sich vor wie in einem Schloß und war so glücklich wie selten in ihrem Leben. Aber was sie hier nicht hatte – wie ihr gerade auffiel –, war eine Zentralheizung.
Sie rief Jimmy Dee an.
»Mach ein Feuerchen, Schatz, ein Feuerchen. Das ist doch so romantisch!«
»Dee-Dee, es ist halb acht, und gleich gehe ich arbeiten.«
»Wo liegt dann das Problem? Entschuldige, ich habe Haferschleim auf dem Herd.« Im Hintergrund konnte sie »Iiih, Haferschleim!«-Geschrei hören. Das Vatersein schien schwieriger, als Jimmy Dee es sich vorgestellt. hatte.
Skip zog schließlich einen schwarzen Wollrock und einen hellbraunen Pullover an und hoffte, es würde nicht wieder wärmer werden. Irgendwo hatte sie auch noch einen braunen Blazer, der ihrer Kleidung »den letzten Schliff« geben würde, wie ihre Freundin Alison es immer ausdrückte. So ganz verstand Skip das nicht, aber sie mußte zugeben, daß es besser aussah als ihre selbst zusammengestellten Ensembles – sie hätte vermutlich etwas Rotes genommen, vollkommen unangemessen für eine Beamtin der Mordkommission.
Sie saß gerade am Schreibtisch und trank die zweite Tasse Kaffee, als ihre Vorgesetzte, Sergeant Sylvia Cappello, ihr einen Bericht des amtlichen Leichenbeschauers reichte, zusammen mit einem Autopsiebericht.
»Sieh dir das mal an. Ich habe gerade mit dem Coroner darüber gesprochen.«
Es ging um einen »nicht klassifizierten« beziehungsweise verdächtigen Todesfall. Ein einunddreißigjähriger gesunder Weißer war – offenbar nach einem Sturz von einer Leiter – tot aufgefunden worden.
Sylvia sagte: »Fällt dir auf, daß er sich das Fußgelenk gebrochen und den Schädel eingeschlagen hat? Ziemlich unwahrscheinlich, oder? Man landet doch entweder auf den Füßen oder auf dem Kopf.«
»Genau.«
»Aber wenn du mit den Füßen aufkommst und dir den Knöchel brichst und dich nicht mehr bewegen kannst, könnte dir jemand ganz einfach auf dem Betonboden den Schädel einschlagen.«
»Jemand von der Mordkommision hat sich doch sicher schon darum gekümmert?«
»Lasko und Drumm. Aber zunächst sah es wie ein Unfall aus, und so haben sie den Fall auch behandelt.« Sie reichte Skip den knappen Bericht der Kollegen. »Und jetzt stecken sie bis zum Hals in der Arbeit wegen dieses dreifachen Mordes in der Magnolia-Siedlung.«
»Das ist ja schon letzten Donnerstag passiert«, seufzte Skip, »und heute ist Montag. Ich darf gar nicht dran denken, in welchem Zustand der Tatort inzwischen ist.«
»Ach, was soll’s – schließlich hast du ja nichts Besseres zu tun.«
Ein makaberer Witz, der Skip nur ein Schnauben entlockte. Die Mordrate der Stadt war bereits gewaltig, und sie stieg immer noch weiter.
»Einunddreißig ist wirklich zu jung zum Sterben.«
»Aber zu alt, um noch bei den Eltern zu wohnen.«
Genau das hatte Geoffrey Kavanagh, das Opfer, jedoch getan, in einem großen alten Haus in der Octavia Street. Die Kinder in der Nachbarschaft bezeichneten das Gebäude bestimmt als ›das Spukhaus‹ – der Hof war zugewuchert, der Verputz seit Jahrzehnten nicht erneuert worden. Die Bewohner waren offenbar nicht besonders gesellig, wenn sie sich hinter einem solchen Dschungel versteckten. Skip näherte sich unsicher.
Drinnen im Haus bellte ein Hund. Mit was für Leuten hatte sie hier zu rechnen? Mit ungeselligen Menschen, vermutlich mit leicht Verrückten, Verwahrlosten.
Mit Depressiven.
Alkoholikern.
Aber als sie den Dschungel betrat, fiel ihr auf, daß es so etwas wie ein Muster in der Wildnis gab, daß jemand hier bewußt die ursprüngliche Dramatik gefördert hatte. Es gab Pfade, Unterholz war weggeschafft, Blätter waren weggerecht worden – der ganze Dschungel entpuppte sich als Täuschung, nur ein vorgeschobenes Durcheinander an der Straßenfront von Hof und Garten. Dahinter befanden sich ein ordentlich gemähter Rasen und gepflegte Beete. Drei oder vier Katzen räkelten sich an Stellen, an denen Sonne durch die Blätter drang. Nein, die Bewohner dieses Hauses ließen nichts verwahrlosen, auch wenn der Putz bröckelte.
Gerade als Skip zu diesem Schluß gekommen war, öffnete eine Frau die Tür, die solche Überlegungen Lügen strafte. Sie trug einen ausgebeulten, verwaschenen Jogginganzug. Ihr Gesicht sah verhärmt aus, ohne Make-up, ihre Wangen eingesunken, die Tränensäcke violett. Das stumpfe, schlaffe Haar hatte sie zu einem Zopf zurückgebunden. Dem Aussehen nach hätte sie sechzig sein können, aber ihr Haar war schwarz – noch hatte sie nicht völlig aufgegeben.
»Mrs. Kavanagh?«
»Terry. Marguerite Terry.«
Skip stellte sich vor. »Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen über Ihren Sohn stellen?«
Sofort traten ihr Tränen in die Augen. »Mein Sohn? Aber er ist doch ... Das verstehe ich nicht.«
»Über seinen Tod.«
Sie wirkte erleichtert. »Entschuldigen Sie. Ich fürchte, ich bin noch nicht ganz wach; ich habe so viel geschlafen ...«
Skip nickte nur und schwieg, weil sie hoffte, Marguerite Terry werde sich an ihre gute Erziehung erinnern, aber die Frau sah sie nur erwartungsvoll an. Neben ihr wedelte ein weißer Hund mit braunen Ohren ein wenig zögernd mit dem Schwanz. »Dürfte ich wohl reinkommen?«
»Oh. Aber natürlich.« Sie warf dem Hund einen Blick zu. »Okay, Toots?« Wieder wedelte der Hund zögernd, aber er war offenbar zufrieden.
Skip betrat ein Zimmer, dessen düstere Atmosphäre einem Trauerhaus angemessen war. Die Vorhänge waren zugezogen und ließen den Raum wie eine Höhle wirken. Auf dem Boden stapelten sich Zeitungen, als wäre es zu anstrengend, sie wegzuwerfen. Auf dem Tisch standen ein oder zwei Gläser, auf der Couch lag eine Decke; ansonsten wirkte das Zimmer verstaubt und selten benutzt. Der Teppich war fadenscheinig, die Versiegelung der Bodendielen längst abgewetzt, ebenso wie die Bezüge der Sitzgarnitur. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, die uralte Tapete zu ersetzen.
Trotzdem, das mußte einmal anders gewesen sein; die Möbel waren im Prinzip von guter Qualität, es sah aus, als hätten sich die Lebensbedingungen der Bewohner rapide verschlechtert – eine Armut, der es nicht an Eleganz mangelte, hätte sich nur jemand zum Staubwischen und -saugen aufraffen können. Also doch verwahrlost, schloß Skip.
Offensichtlich verlegen, zog Marguerite die schweren, staubigen Vorhänge zurück. Sie sahen aus, als hätte man sie vor vierzig Jahren ausgesucht und seitdem nicht mehr berührt, als hätten sie seitdem Staub gesammelt, die Moden beinahe eines halben Jahrhunderts überstanden und einen Mantel von Düsternis über alles gebreitet.
Im Licht machte das Zimmer schon einen besseren Eindruck.
»Wir halten uns hier nicht oft auf«, sagte Marguerite. »Wir haben alle soviel zu tun ...«
»Alle?«
»Mein Mann, Coleman, ist Computerfachmann – Autodidakt und autonom, wie er das immer ausdrückt. Er hat sein Büro hier, aber heute ist er weg, zu einer Besprechung. Und Neetsie, unsere Tochter – sie ist vor ein paar Monaten ausgezogen. Sie hat ein eigenes Apartment, stellen Sie sich vor! Mit achtzehn. Und Geoff« – ihre Stimme brach –, »ich hatte mich so an ihn gewöhnt. Sie wissen sicher, wie man sich an jemanden gewöhnen kann?«
Eine sonderbare Bemerkung, wenn es den eigenen Sohn betraf.
»Wie an einen Hund oder so. Ich weiß nicht. Setzen Sie sich doch.
»Ich würde eigentlich gern sehen, wo der Unfall passiert ist, wenn ich darf.«
»Sie wollen sehen –?« Sie starrte Skip an, als versuche sie, diese Äußerung zu verstehen.
»Wo Sie ihn gefunden haben«, beendete Skip den Satz für sie. »Es tut mir leid. Ich weiß, es muß schwer für Sie sein.«
»Oh«, sagte Marguerite. Das bezog sich wohl weniger auf Skips letzte Äußerung; Marguerite hatte nur endlich begriffen, was die Polizistin von ihr wollte. »Kommen Sie hier durch.«
Den Hund bei Fuß, führte sie Skip durch ein Eßzimmer, das ebenso schäbig war wie das Wohnzimmer, ebenso dunkel und verstaubt, aber deutlich mehr benutzt wurde – wenn auch nur als Stauraum. Auf dem Tisch stapelte sich die Post, alte Zeitungen, Zeitschriften, alltäglicher Abfall, der sich in jedem Haus ansammelt und den andere alle paar Tage wegwarfen. Das hier sah eher nach Monaten aus. Sie kamen in eine Küche, die einen bewohnteren Eindruck machte, auch ziemlich durcheinander, aber gemütlicher, und schließlich in eine Abstellkammer. Drei Stufen führten in einen gepflasterten Hof. »Hier oben«, sagte Marguerite. »Da ist Mosey gewesen.«
»Wie bitte?«
»Sie wissen gar nicht, wie es passiert ist?«
»Ich weiß nur, daß Ihr Sohn von einer Leiter gefallen ist.«
»Also, ich bin gegen zehn aufgewacht, und als ich in die Küche kam, hörte ich ein ganz jämmerliches Miauen. Also bin ich rausgegangen, und da lag Geoff, mitten im Hof, und die Leiter lag auf ihm. Mosey, unsere kleine graue Katze, war aufs Dach geklettert, und Geoff hatte wohl versucht, ihn da runterzuholen, und war dabei gestürzt.« Sie hielt inne, erinnerte sich, und ihre Züge wurden starr, als sie um Fassung rang. »Ich wußte gleich, was passiert war.«
»Was hatte er an?«
»Ein T-Shirt und eine alte Jogginghose, als sei er gerade aufgestanden und habe nur was übergezogen, um rauszugehen. Keine Schuhe. Seine Füße –«
»Was?«
Sie sah elend aus. »Er hat bestimmt kalte Füße gehabt.«
Auch Skip wollte daran lieber nicht denken. »Was haben Sie getan?«
»Ich weiß nicht. Ich hab wohl geschrien oder so.«
»Und dann?«
»Ich hab die Leiter runtergezerrt und seinen Kopf auf meinen Schoß gezogen und ihn gestreichelt. Aber er fühlte sich irgendwie seltsam an.«
»Wie denn?«
Sie zog eine gequälte Grimasse. »Seltsam. Weich.«
»War sonst noch jemand im Haus?«
»Nein. Cole war in Baton Rouge. Ich mußte selbst den Notruf wählen. Ich wußte, daß er tot war. Ich war vollkommen hysterisch.«
»Woher wußten Sie, daß er tot war?«
»Er war so kalt. Und sein Kopf.«
»Wie lange haben Sie so dagesessen, mit seinem Kopf in Ihrem Schoß?«
»Vielleicht ein paar Sekunden. Nicht lange.«
»Als Sie wieder aufgestanden sind, haben Sie da seinen Kopf auf das Pflaster fallen lassen?«
»Er war mein Sohn!«
Skip wartete.
»Ich hab ihn ganz sanft abgelegt.«
Skip sah zum Dach hinauf. »Ist Mosey schon öfter da raufgeklettert?«
»Ach, Mosey. Der klettert überallhin.«
»Aber aufs Dach?«
»Keine Ahnung. Nicht daß ich wüBte.«
»Ich überlege gerade – haben Sie gehört, wie die Leiter umgestürzt ist? Oder einen Schrei von Geoff oder so was?«
»Nein, mein Zimmer ist auf der anderen Hausseite. Und ich würde selbst einen Wirbelsturm verschlafen. Ich nehme Schlaftabletten, und die werfen mich so um, daß neben mir auch eine Bombe einschlagen könnte, und ich würde es nicht merken.«
Skip dachte, das erklärte vielleicht, wieso sie so betäubt wirkte. »Haben Sie heute auch eine genommen?«
»Gestern abend, aber ich bin mit Cole aufgestanden und habe mich dann wieder hingelegt. Wir können ruhig reden, kein Problem. Sollen wir wieder reingehen? Vielleicht sollte ich einen Kaffee machen.«
Skip gefiel es draußen besser, und sie wollte auch keinen Kaffee. Aber sie sagte: »Das wäre schön«, weil sie annahm, Marguerite wolle selbst welchen trinken. Sie kam ihr so abgestumpft und apathisch vor, ihre Stimme war so ausdruckslos, vielleicht würde Koffein ja ein bißchen helfen. In der Küche sagte sie: »Lassen Sie mich den Kaffee machen.«
»Schon gut, ich schaffe das schon.« Marguerite sah in ihrem ausgebeulten Jogginganzug sehr dünn aus, jämmerlich und einsam, als sie da in ihrer chaotischen Küche stand. Skip fand es merkwürdig, daß sie so bald nach dem Tod ihres Sohnes hier allein war, daß das Haus so unberührt wirkte, als seien keine Besucher dagewesen. Als Marguerite den Kühlschrank öffnete, sah Skip, daß er beinahe leer war, nicht vollgepfropft, wie man es hätte erwarten können – mit Eintöpfen und Schinken, Kuchen und Pasteten, die Freunde und Verwandte vorbeigebracht hatten.
»Halten Sie es für gut, daß Sie hier so allein sind?« fragte sie. »Soll ich jemanden holen, der bei Ihnen bleibt?«
Marguerite sagte: »Wir sind immer allein.« Sie starrte ins Leere. »Neetsies Freunde sind hin und wieder vorbeigekommen. Ich weiß nicht – ich glaube, Cole und ich sind einfach nicht besonders gesellig. Wir ... wir gehören keiner Kirche an und keinem Verein oder so. Und wir arbeiten beide nicht außer Haus.«
Sie klang, als frage sie sich gerade, wie es zu dieser Vereinsamung gekommen war.
»Haben Sie Verwandte?«
»Cole nicht. Mein Dad ist schon lange tot. Und meine Ma ist in einem Pflegeheim. Aber trotzdem...« Wieder starrte sie geradeaus. »Die Trauerfeier ist bald. Vielleicht kommen hinterher noch Leute mit – ist das nicht immer so?«
Skip schüttelte den Kopf – ihre Arbeit bei der Mordkommission hatte sie nicht zu einer Spezialistin für Bestattungen gemacht.
Marguerite sah verängstigt aus. Zwei Katzen, eine schildpattfarbene und eine schwarzweiße, schmiegten sich an ihre Knöchel. »Ich müßte wohl mal saubermachen.«
Um diese Arbeit beneidete Skip sie nicht.
»Na ihr Hübschen? Soll Mommy euch füttern? Mommy ist wirklich böse. So eine böse Mommy, die nicht mal ihre Kätzchen füttert.« Sie löffelte ein wenig Katzenfutter in ein Schälchen. Das Geräusch lockte eine weitere Katze herein, eine schwarze. Skip hatte jetzt schon ein halbes Dutzend Katzen gesehen, Mosey nicht eingeschlossen, und einen Hund.
»Bellt der Hund, wenn Fremde aufs Grundstück kommen?«
»Manchmal – sie hat Sie angebellt. Aber manchmal auch nicht. Als Wachhund taugt sie nicht viel. Wieso?«
»Ich dachte an den Tag, an dem Geoff umgekommen ist. Haben Sie sie bellen gehört?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht. Aber die Schlaftabletten – sie hätte einen halben Meter von mir entfernt bellen können, und ich hätte es nicht gehört.«
Marguerite fragte, wie Skip ihren Kaffee wolle, reichte ihr einen dampfenden Becher und nahm sich selbst einen. »Sollen wir wieder ins Wohnzimmer gehen?«
Dort war es wenigstens ein bißchen sonniger.
»Ich habe nicht viel Zeit zum Saubermachen«, sagte Marguerite. »Ich habe soviel zu tun.«
»Kümmern Sie sich selbst um den Garten?« Skip schaute aus dem Fenster auf das Grün hinaus, das sie jetzt, nachdem sie das Innere das Hauses kannte, noch mehr zu schätzen wußte.
»Ja. Gefällt er Ihnen?«
»Sehr.«
»Mit kreativen Arbeiten kann ich umgehen, nur mit dem alltäglichen Kram komme ich nicht zurecht. Und Neetsie ist genauso.«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Skip fiel auf, daß Marguerite gelächelt hatte, als sie von Neetsie sprach. Beinahe zum erstenmal. Sie ging darauf ein. »Was macht Neetsie denn?«
»Sie ist eine sehr gute Schauspielerin. Jedenfalls wird sie mal gut sein. Ich glaube, sie wird es wirklich schaffen. Sie geht auf die Uni, aber sie hat nur wenige Seminare belegt und hält sich mit kleinen Jobs über Wasser.« Wieder lächelte sie, ganz die stolze Mutter.
»Sie muß sehr begabt sein.«
»O ja, das ist sie.«
»Und Geoff?«
»Geoff?«
Skip lächelte, versuchte, sowenig bedrohlich wie möglich auszusehen. »Was hat er gemacht?«
»Er hatte es mit Computern. Wie sein Vater.«
»Sein Vater? Aber Sie haben einen anderen Namen.«
»Sein Stiefvater. Sie standen einander sehr nahe. Cole hat ihm alles über Computer beigebracht, und Geoff ist richtig aufgeblüht dabei, er ist ein ganz anderer Mensch geworden.«
Skip dachte, ein Einunddreißigjähriger, der noch bei seinen Eltern wohnte, könne kaum besonders weit aufgeblüht sein. »Er hat als Computerspezialist gearbeitet?«
Ein Schatten flog über Marguerites Gesicht. »Nein. Geoff war ein sehr, sehr intelligenter junger Mann. Ganz außerordentlich. Aber wir konnten uns keine guten Schulen leisten – wir mußten ihn selbst unterrichten. Er ist mit anderen nicht besonders gut ausgekommen. Er konnte nicht mit Menschen umgehen.«
Skip nickte und lächelte. Sie hatte keine Ahnung, was Marguerite eigentlich meinte.
»Er war brillant, wirklich. Aber er hat als Junge immer Comics gelesen. Sie wissen ja, viele Kinder machen das. Und es sah so aus, als wollte er da nie rauswachsen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Aus dieser Mentalität. Er war ein sehr ruhiger, sehr introvertierter Junge. Aber er hatte eine Freundin. Es wurde langsam besser. Ich glaube, sie war seine erste Freundin.«
»Und was ist mit anderen Freunden?«
»Na ja, einen Freund hatte er auch noch.« Sie zog die Nase kraus, als röche dieser Freund schlecht. »Layne Soundso, glaube ich.
»Vielleicht können wir in Geoffs Adreßbuch nachsehen? Sagten Sie nicht, er habe einen Job gehabt?« Skip wußte genau, Marguerite hatte das nie erwähnt.
»Ja. Er – äh – hat in einer Videothek gearbeitet. Mondo Video, unten an der Riverbend.«
Skip fragte sich, ob es eine Pornovideothek war – nach Marguerites Verlegenheit zu schließen, war das durchaus möglich. Einem Impuls folgend, fragte sie: »Haben Sie ein Foto von Geoff?«
»Wieso?«
»Ich versuche nur, ihn mir vorzustellen.«
»Darf ich fragen warum?«
»Ich bin neugierig, das ist alles.«
»Sie haben mir auch noch gar nicht erklärt, wieso Sie eigentlich hier sind.«
»Es hat sich etwas ergeben, was wir näher untersuchen müssen; nur der Ordnung halber.« Wieder lächelte sie, benutzte das Lächeln als Schild: Keine Fragen mehr, Mrs. Terry, ja?
Marguerite schaute unbehaglich drein. »Ich weiß wirklich nicht, wo die alten Fotos sind.«
»Schon gut, es war nur so ein Gedanke. Dürfte ich mir Geoffs Zimmer mal anschauen?«
Marguerite warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Selbstverständlich.«
Geoffs Zimmer lag rechts von der Abstellkammer, das Fenster direkt unter dem Dach, auf das die Katze angeblich geklettert war. »Entschuldigen Sie die Unordnung«, sagte Marguerite. Das hätte Skip erheiternd finden können angesichts des Zustands, in dem sich das restliche Haus befand, wäre es nicht so deprimierend gewesen, sich all die kleinen Dinge anzusehen, die jemand geschätzt hatte, den es nicht mehr gab, und aus diesen Einzelstücken eine Geschichte zusammenzufügen.
Diese Geschichte selbst war ebenfalls traurig, dachte Skip, sie paßte zu dem bröckelnden Putz, dem eisigen Winterschlaf, in den das ganze Haus gesunken war. Eine graue Katze, vielleicht Mosey, schlief auf dem Bett, dort, wo sich die Matratze gesenkt hatte und anzeigte, daß Geoff übergewichtig gewesen war oder niemand je die Matratze gewendet hatte oder beides. Skip überlegte einen Augenblick lang, ob sie einander nahegestanden hatten, der Mann und die Katze, oder ob das Tier auf seine kätzische Weise spürte, daß Geoff bei seiner Rettung umgekommen war, oder ob es gar in einer Art von Einklang mit dem Geist des Verstorbenen stand.
Skip glaubte nicht an Geister, oder jedenfalls neigte sie im allgemeinen nicht dazu, länger über so etwas nachzudenken.
Es liegt an diesem Haus, dachte sie. Es macht mich ganz kribbelig.
Aber von der geisterhaften Katze und dem durchhängenden Bett einmal abgesehen, war das Zimmer vollkommen normal. Es war allerdings das Zimmer eines Jungen, nicht das eines Mannes – ganz eindeutig das Zimmer eines Jungen, der noch bei den Eltern wohnte. Roh zusammengezimmerte Bücherregale an den Wänden. Ein Schreibtisch aus einem Türblatt, mit kompliziert aussehender Computerhardware. Es gab auch einen Fernseher, ein Videogerät und Videos auf den Regalen neben den Büchern. Viele Science-fiction-Filme, und auch die meisten Bücher gehörten diesem Genre an. Aber es gab auch eine Menge Sachbücher – Computerfachliteratur, populärwissenschaftliche und auch einige wissenschaftliche Werke über Naturwissenschaft, dazu Geschichtsbücher; alles streng sachlich, außer zwei oder drei Bänden über Selbsthypnose.
Die Bücher faszinierten sie. Nur die Bücher und die Katze fielen aus dem Klischee heraus, dem der Rest des Zimmers so offensichtlich entsprach: die Katze, weil sie ein warmes, lebendes Wesen war, die Bücher, weil sie Themen behandelten, die nicht alle streng rational waren. Geoff mochte – so stellte sie sich das jedenfalls vor – zwar in einer Phantasiewelt gelebt haben, einer Welt der Zeitreisen und fremden Galaxien, aber solche Leute hatten im allgemeinen nicht das Bedürfnis, sich ihrem Inneren zuzuwenden. Sie waren eigentlich nur damit beschäftigt, Fakten über die rationale Welt zu verschlingen, oder sie versuchten, ihr zu entkommen.
Sie hatte das Gefühl, Geoff ziemlich gut beschreiben zu können. Er hatte bestimmt Übergewicht gehabt, Rettungsringe um den Bauch, aber diese Tatsache nie akzeptiert oder so wenig Gefühl für sich selbst gehabt, daß er immer T-Shirts getragen hatte, die eine Nummer zu klein waren, T-Shirts, die über seinem weißen und haarigen Bauch klafften und mit Schädeln oder Skeletten und den Namen von Death-Metal-Bands bedruckt waren – Napalm Death vielleicht oder Controlled Bleeding – und mit seltsamen, grausigen Symbolen und Worten, die so gar nicht zu diesem sanften, ungepflegten Mann passen wollten, der sie trug. Er hatte einen kurzen, rund geschnittenen Bart und dünnes braunes Haar, das immer nach einer Wäsche schrie. Und eine Brille. Er trug Joggingschuhe. Jeans, die tief saßen und die Ritze seines Hinterns enthüllten – eines flachen Hinterns. Früher einmal hatte er Fantasy-Rollenspiele gespielt, und vielleicht tat er das immer noch. Er war der fleischgewordene verschrobene Außenseiter, ein intelligenter junger Mann, der sich ganz in sich zurückgezogen hatte, kaum angepaßt, dem sein eigener Planet so wenig vertraut war, daß er lieber diejenigen bereiste, die seine Lieblingsautoren erfunden hatten, und der sich lieber in Cyberspace aufhielt, jenem geheimen, verträumten Ort, an den sein Computer ihn führte – an einem aufregenden Ort, der ihm wirklicher vorkam als sein eigenes Leben, in einem Land, das er erobern konnte, anders als jenes schäbige Teenagerzimmer im Haus seiner Eltern.
Skip wußte, daß ihre Phantasie sich überschlug, aber das Bild, das sie vor Augen hatte, war so lebhaft, daß sie erschrak. »Er muß ein sehr netter junger Mann gewesen sein«, sagte sie zu Marguerite. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mir mal seine Papiere anschaue?«
Skip sah ihr an, daß es ihr nicht recht war, aber schließlich konnte sie schlecht ablehnen. »Nein«, sagte sie. »Machen Sie nur.«
Skip setzte sich an den Schreibtisch. Vor allem wollte sie sich Geoffs Dateien anschauen, die im Computer, aber vorläufig gab sie sich damit zufrieden, die Sachen auf seinem Schreibtisch durchzusehen; langsam, ganz langsam. Sie wollte, daß Marguerite das Zimmer verließ. Und das tat sie dann schließlich auch.
Schnell griff Skip unter die Matratze – sie erwartete zumindest ein paar Ausgaben des Playboy, fand aber nichts. Sie wühlte in den Schubladen und bemerkte, daß sie sich geirrt hatte, was die Death-Metal-T-Shirts anging; er hatte gebatikte getragen.
Dann wandte sie sich wieder dem Computer zu. Es gab Unmengen Dateien; sie wußte gar nicht, wo sie anfangen sollte. Sie fand auch eine Schachtel mit Disketten – Sicherheitskopien –, vielleicht würde Marguerite sie die mitnehmen lassen.
»Mrs. Terry?« Skip ging zurück ins Wohnzimmer, wo ihre Gastgeberin auf dem Sofa lag, mit der verknitterten Decke zugedeckt, und ins Nichts starrte, den weißen Hund zu ihren Füßen. Sie fragte, ob sie die Disketten mitnehmen dürfe, und erhielt die Erlaubnis; Marguerite war jetzt nur noch gleichgültig, offenbar völlig in Depressionen versunken.
»Nur noch eins, dann lasse ich Sie in Ruhe. Könnten Sie mir sagen, wie Geoffs Freundin hieß? Und sein Freund – Layne?« Sie hatte kein Adreßbuch und keine Kartei gefunden.
»Selbstverständlich. Lenore Marquer. Sie ist ein- oder zweimal vorbeigekommen. Layne auch, aber ich hab seinen Nachnamen nie richtig verstanden.«
»Wissen Sie, wo Lenore wohnt? Oder haben Sie ihre Telefonnummer?«
Marguerite schüttelte den Kopf. Skip bedankte sich und ging; draußen holte sie tief Luft, dankbar für den kühlen Herbsttag, und erst jetzt wurde ihr klar, wie dumpf und verbraucht die Luft im Haus gewesen war, säuerlich und abgestanden. Sie spürte, wie ihre Schritte beschwingter wurden, wie eine Last von ihren Schultern abfiel. War das für Geoffrey Kavanagh auch so gewesen? War ihm das Haus auch wie ein Mausoleum vorgekommen?
Und Marguerite Terry? Sie war die Herrin dieses Hauses, hatte es zu dem gemacht, was es war. Wie empfand sie es selbst?
Geoff mußte fest auf den Boden aufgeschlagen sein, aber nachdem Skip seine Mutter kennengelernt hatte, konnte sie sich gut vorstellen, daß Marguerite auch das verschlafen hatte; sie war ja selbst mit offenen Augen kaum wach.
Aber es gab doch bestimmt jemanden, der etwas gehört hatte?
Sie klopfte an den Türen.
Die nächste Nachbarin hatte den Aufprall nicht gehört, aber das Miauen der Katze; sie war kurz vor sieben davon geweckt worden und hatte aus dem Fenster gesehen, aber nichts entdeckt – nur eine Leiter, die an das Haus gelehnt war. Sie hatte sich gefragt, wieso die Katze nicht einfach die Leiter herunterkletterte. Sie hatte keinen Aufprall gehört, aber sie war auch eine halbe Stunde lang außer Haus gewesen, zwischen acht und halb neun, als sie ihren Mann zur Arbeit gefahren hatte.
Die Nachbarin auf der anderen Seite hatte ein dumpfes Geräusch und ein Klappern gehört, sich aber nichts dabei gedacht. Erst später war ihr klargeworden, daß das Geoffs Sturz und die Leiter gewesen sein mußten, aber beim ersten Hören war ihr nichts daran unheimlich vorgekommen – einfach ein Geräusch in der Nachbarschaft. Sie glaube, es sei kurz nach acht passiert.
Leider hatten weder diese Nachbarinnen noch sonst jemand in der Nähe jemanden am Haus gesehen, schon erst recht keine Fremden.
Niemand kannte Geoff oder die Terrys.
Skip fuhr zum Mondo Video.
Falls sie den Mondo-Freak erwartet hatte, in Übereinstimmung mit ihrem Bild von Geoff, dann hatte sie sich getäuscht. Der Geschäftsführer hatte Sommersprossen und beinahe militärisch kurz geschnittenes Haar. Er war breitschultrig, trug ein Button-down-Hemd, hatte einen klaren Blick und wirkte, als hätte er am liebsten einen dunkelblauen Blazer getragen und nur darauf verzichtet, weil er wußte, das so etwas in einer Videothek fehl am Platze war. Er war etwa eins dreiundsiebzig groß und gab Skip, die mit ihren eins achtzig eigentlich an kleinere Männer gewöhnt war, das Gefühl, als müsse sie sich bücken, um mit ihm reden zu können. Er hatte den festen Händedruck eines Jungen, der so etwas auf einer guten Schule gelernt hat, und den Namen einer Familiendynastie. »Knowles Kennedy«, sagte er, als er den Händedruck anwandte.
Skip quetschte zurück, stellte sich vor und erklärte, was sie wollte.
»Geoff«, meinte Knowles, »einer unserer besten Leute. Wirklich klug und kenntnisreich. Aber nicht besonders ehrgeizig.«
Skip hielt ihn für etwa vierundzwanzig, und er hatte es schon weiter gebracht als Geoff.
»Aber mit Science-fiction kannte er sich aus?«
»Das war sein Gebiet. Woher wissen Sie das?«
»Ich hatte einfach so ein Gefühl.«
»Was für ein Gedächtnis! Der Bursche konnte einem jede einzelne Szene aus Der Tag, an dem die Erde stillstand erzählen oder aus – was war das noch für ein Ding, wo sie Kopien von Menschen machen?«
»Die Körperfresser kommen.«
»Genau. Beide Fassungen. Aber er kannte auch all das obskure Zeug genau. Und alle neuen Videos. Auch anderes – ich meine, außer Science-fiction. Er konnte die Titelsongs sämtlicher James-Bond-Filme singen.«
»Er muß bei den Kunden sehr beliebt gewesen sein.«
Knowles’ Miene verdüsterte sich. »Nicht unbedingt. Ich denke, er war schüchtern. Er konnte mit Leuten über Filme reden, aber es wäre ihm nie eingefallen zu fragen, wie es einem geht. Nicht besonders kommunikativ, würde ich sagen. Er hat ganz in seiner eigenen Welt gelebt, in seinem Kopf. Als wäre das die wirkliche Welt und alles, was hier draußen passierte, für ihn nur eine Ablenkung.«
Skip grinste. »Abgedreht?«
»So hätte man es ausdrücken können. Ich meine, er hat schon funktioniert, er ist hier großartig zurechtgekommen; aber der Bursche war brillant – ehrlich, und der Job hier hat ihn unterfordert.«
»Wie kommen Sie darauf, daß er brillant war?«
»Na ja, aus der Art, wie er geredet hat. Er hatte alles abgespeichert, wie ich schon sagte, er hat sich an jedes Detail aus jedem Film erinnert, den er je gesehen hat, und er kannte auch Unmengen anderer Fakten. Vor allem naturwissenschaftliche. Ich glaube nicht mal, daß er auf dem College war – jedenfalls nicht sehr lange. Er hatte sich alles selbst beigebracht, und es gab nicht viel, worüber er nichts wußte. Wenn Sie es wirklich wissen wollen: Er konnte ein ziemlicher Klugscheißer sein.«
»Hörte er sich gerne reden?«
Knowles zögerte. »Nein, ich glaube, das war es eigentlich nicht. Dazu hatte er nicht genug – wie heißt das – Selbstvertrauen. Ich glaube, es ist ihm einfach nicht aufgefallen, wenn er anfing zu dozieren. Es war die einzige Art von Kommunikation, die er beherrschte. Wissen Sie, er konnte einem all dieses Zeug über die Rosenkriege oder das Heilige Römische Reich erzählen, aber er hat nie mitgekriegt, wenn er einen fast zu Tode langweilte, weil er nichts von Menschen verstand, um die Reaktionen von anderen deuten zu können. Er konnte einen nicht mal richtig ansehen – hat immer nur vor sich hingestarrt oder so, vor sich hingeschwafelt und geglaubt, man wäre fasziniert. Ein einfaches: ›Na, wie geht’s?‹ wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Er war schüchtern, verdammt schüchtern. Aber nett. Er hat es wirklich gut gemeint.«
»Ja?«
»Ehrlich. Er wollte, daß alle so viel Spaß an seinen Lieblingsthemen hatten wie er selbst. Er konnte sich nicht an die Gesichter oder Namen der Kunden erinnern, aber wenn er sah, was für Filme sie zurückbrachten, hat er sie gefragt, wie sie ihnen gefallen haben – und dann hat er sich die Beine ausgerissen, um was Neues zu finden, was ihrem Geschmack entspricht.«
Das bestätigte mehr und mehr die Vermutungen, die Skip schon in Geoffs Zimmer beschlichen hatten. Spontan fragte sie: »Wie hat er denn ausgesehen?«
»Wie er ausgesehen hat? War denn sein Gesicht –«
»Nein, nein. Ich bin nur neugierig.«
»Ich glaube, ich habe noch ein Foto von einer Geburtstagsfeier.« Er verschwand und kam wieder zurück. »Da. Der in dem komischen T-Shirt.«
Sie hatte fast total schiefgelegen und doch auch wieder irgendwie richtig: Der Mann auf dem Bild war der typische beste Freund des Mannes, den sie sich vorgestellt hatte. Er war dünn, nicht dick, von mittlerer Größe und glatt rasiert. Aber ein Bart wäre keine schlechte Idee gewesen; er hatte ein fliehendes Kinn. Drei Dinge hatte sie vollkommen richtig getroffen: Er hatte tatsächlich eine Brille getragen, sein Haar war dünn und fettig gewesen, und er war ein Ausbund an Verschrobenheit.
Was war nur mit diesen Typen los? Wieso entsprachen alle so perfekt dem Stereotyp – genial, introvertiert, verschroben und begeistert von Computern und Science-fiction? Sie wußte die Antwort, oder sie glaubte sie zumindest zu wissen. Sie kamen mit der wirklichen Welt nicht zurecht, hatten zuwenig Selbstvertrauen (wie Knowles Kennedy, der mehr als genug davon besaß, schon beobachtet hatte) und suchten sich alternative Welten.
Also gut, so waren sie im allgemeinen, aber was hatte darüber hinaus Geoff Kavanagh ausgemacht? War er noch mehr gewesen als die Idealbesetzung für einen Außenseiter? Worin hatte denn nun seine ganz persönliche Variante des Außenseitertums bestanden? So konnte sie die Frage selbstverständlich nicht stellen. »Was war ungewöhnlich an ihm?« fragte sie schließlich.
»Ungewöhnlich?« Knowles war verwirrt. »Na ja, er war... so klug und so. Ich weiß nicht – ansonsten war er der übliche –«
»Verschrobene Spinner.«
»Genau.«
»Hatte er Feinde?«
»Was? Glauben Sie etwa, er sei ermordet worden?«
Skip zuckte die Schultern. »Ich muß diese Frage stellen.«
»Ob er Feinde hatte? Er hatte nicht mal Freunde.«
»Woher wissen Sie das?«
Knowles schien verlegen. »Eigentlich weiß ich es gar nicht. Es ist nur, daß er nie von Freunden gesprochen hat. Er hat nie über irgendwas anderes als über Dinge geredet, über Ereignisse, Sachen, die man in Büchern nachschlagen konnte. Nie über das Leben. Er hat kaum je private Anrufe bekommen. Er konnte immer Überstunden machen oder für andere einspringen. Ich glaube sogar, er hat noch bei seinen Eltern gewohnt.«
»Hat ihn irgend jemand hier besser gekannt als Sie?«
»Na ja, vielleicht Jody. Sie hat viel mit ihm zusammengearbeitet. Hey, Jo!«
Eine rundliche junge Frau trat zu ihnen, eine Schwarze in Kleidern, die ein paar Nummern zu klein für sie waren – aber ihrem wiegenden Gang nach zu urteilen, war sie sehr zufrieden mit ihrem Äußeren. »Jody, das hier ist Officer Langdon. Sie ermittelt wegen Geoffs Tod.«
»Er war ein guter Junge. Alle hatten Geoff gern.«
»Sie auch?«
»Aber sicher. Mit Geoff zu reden war wie aufs College zu gehen.«
»Hat er je über sein Privatleben gesprochen?«
»Angeblich hatte er eine Freundin.«
»Hat er ihren Namen mal erwähnt?«
»Lenore. O ja, sicher hatte er eine Freundin. Die Welt ist schließlich voll mit Frauen, die Lenore heißen. Er hat den Namen wahrscheinlich aus einem Buch. Wissen Sie, ich hab über Sachen geredet, Läden, Kneipen, gleich hier um die Ecke, und er wußte nicht mal, was ich meine. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, daß er viel rausgekommen ist. Hat mit seinem Computer zu Hause gehockt. Jede Nacht hat er in dieser komischen Stadt festgesessen, das war seine Welt. Kennen Sie die TOWN?«
Skip schluckte. Knowles sah so verstört aus, wie sie sich fühlte.
»Die TOWN. So eine Computergeschichte. Warten Sie mal, er hat’s mir mal genauer erzählt... mal sehen, ob es mir wieder einfällt.« Sie legte die Hand an die Stirn und schloß die Augen. »The Original Worldwide Network.«
»Ah. Die TOWN. Eine Mailbox oder so was?»
Sie zuckte die Achseln. »Mehr eine Religion. Oder eine richtige Stadt. Wissen Sie, er hat von den Sachen, die in der TOWN passieren, immer gesprochen, als wäre das die Wirklichkeit.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, er braucht ’ne Freundin. Ich wollte ihn verkuppeln, aber dann hat er gesagt, er hätte schon eine. Aber das war bestimmt gelogen. Wissen Sie was? Er war wirklich ’n komischer Kerl.«
»Was war denn nun so komisch an ihm? Was war anders als bei anderen?«
»Er hat richtig durch einen durchgesehen, hat einen nicht mal bemerkt.«
»Er war schüchtern«, warf Knowles ein.
»Quatsch. Der war nicht schüchtern. Der war kaum am Leben.«