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Vielleicht, dachte Skip, kann ja die Freundin ein wenig Licht in die Sache bringen. Marguerite Terry hatte ihr eine Telefonnummer gegeben, unter der die folgende Nachricht abgespielt wurde: »Wenn es gerade Tag ist, bin ich in der Perlmuschel. Wenn es Nacht ist, fragt lieber nicht – besonders bei Vollmond.« Dem folgte ein so teuflisches Gackern, wie man es sonst nur noch bei Macbeth-Aufführungen zu hören bekam. Gut, daß es noch Tag war, aber was zum Teufel war die Perlmuschel?

Dem Telefonbuch zufolge befand sie sich in der Magazine Street. Wahrscheinlich ein Laden.

Dort angekommen, war Skip nicht mehr so sicher. Es war ein Laden, aber war es auch ein Geschäft? Das mußte wohl so sein, falls der Handel mit Kunstperlen nicht als Vorwand für eine Geldwaschanlage diente – denn Perlen waren alles, was es hier gab. Winzig kleine, große, Glasperlen, Kristallperlen, Bernsteinperlen, Jettperlen, geschnitzte Perlen, bunt gemusterte und solche mit Farben in erstaunlicher Klarheit, genug, um damit einen Schuhkarton zu füllen, wenn man den gesamten Bestand zusammengeworfen hätte. Aber so könnte man sie natürlich nie verkaufen. Sie wurden in Hunderten kleiner Plastikkästchen präsentiert und kosteten zehn Cent pro Stück und mehr. Aber trotzdem. Wie konnte man davon leben, Perlen zu verkaufen? Wer kaufte so was?

Es war nur eine Person im Laden, eine nicht besonders große Frau, um die Dreißig, mit dunklem, glattem Haar, einem Strich roten Lippenstifts und einem kurzen schwarzen Kleid, das als Folie für ein halbes Dutzend zweifellos selbstgemachter Halsketten diente. Sie hatte ein kleines, zartes Gesicht, herzförmig, ein Jungengesicht mit einem fliehenden Kinn, das Skip an Geoffs Kinn erinnerte. Wenn das hier Lenore war, dann hatten die beiden zusammengepaßt wie Mick und Bianca. Mit ihrer Zierlichkeit und ihren verhuschten Bewegungen hatte sie etwas von einem Rehkitz, aber sie war nicht hübsch und vermutlich auch nicht unschuldig – sie sah einfach nur aus, als sei sie leicht zu erschrecken.

Als Skip näher kam, sah sie, daß die Frau einen Leberfleck nahe dem Mundwinkel hatte, einen kleinen Schönheitsfehler, der ihrem Gesicht Persönlichkeit verlieh. Sie hatte das Gefühl, ein Gespräch mit ihr würde dem Versuch ähneln, Wasser mit der Hand aufzufangen.

»Lenore Marquer?«

Der Mund der Frau begann zu zittern. »Ja. Ist mit Caitlin alles in Ordnung?«

»Caitlin?«

»Meine Tochter. Sie sind nicht wegen ihr hier?«

»Nein.«

Lenore seufzte erleichtert. »Gott sei Dank. Sie ist bei einer Tagesmutter – ich lebe in ständiger Angst.«

Skip lächelte; froh, sie beruhigen zu können. »Nein, darum geht es überhaupt nicht. Ich bin Skip Langdon von der hiesigen Polizei –«

»O Gott, es ist wegen Geoff! Mist! Ich hab’s doch gewußt. Ich wußte es einfach. Ich hab’s denen auch gesagt. Scheiße! Er ist umgebracht worden, stimmt’s? Wir haben das alle gewußt. Es war nur eine Frage der Zeit...«

»Langsam, langsam. Sie wissen offenbar mehr als ich.«

»Geht es denn nicht um Geoff?«

»Doch, doch.«

»Der Autopsiebericht. Deshalb ermitteln Sie jetzt, nicht wahr? Endlich. Wir dachten schon, es würde gar nichts passieren. Mein Gott, wir haben uns solche Sorgen gemacht, aber wenn es jetzt wirklich losgeht, so kalt, so real ...« Sie preßte sich die Hände auf den Mund, offensichtlich, um ein Schluchzen zu unterdrücken, das nicht zu unterdrücken war. Ihre Tränen flossen wie warmer Regen, und sofort nahm ihr Gesicht ein fleckiges Rot an, beinahe Rotbraun. Sie brach völlig zusammen, und Skip mußte sich daran erinnern, daß Geoff erst fünf Tage tot war – die Wunde war immer noch offen, immer noch entzündet und gefährlich.

»Lenore, vielleicht setzen Sie sich lieber hin.« Skip sah sich nach einem Stuhl um, aber nicht einmal ein Hocker war zu finden.

Lenores Schultern zuckten immer noch unkontrolliert. Da sie sich nicht hinsetzen konnte, kam sie hinter der Theke vor, zog die Tür auf und holte demonstrativ tief Luft. Sie hatte eine Tätowierung am Fußknöchel, eine sehr hübsche zusammengerollte Schlange.

Skip stand Höllenqualen aus. Es war nur zu deutlich, daß Lenore nicht reden konnte – sie konnte ja kaum atmen –, aber es brachte sie fast um, nicht gleich ihre Fragen abfeuern zu können.

Zwei Frauen, die gerade an dem Laden hatten vorbeigehen wollen, wurden offenbar von dem Gesicht in der Tür angezogen. »Sieh mal«, sagte eine. »Gehen wir mal rein und schauen uns um.«

Lenore trat zur Seite.

»Was ist denn das – ein Perlenladen? Sie verkaufen hier Perlen?«

Lenore rang sich ein Lächeln ab. »Und ein paar Ketten, die wir selbst herstellen.«

»Geht es Ihnen nicht gut?«

»Doch – bestens – äh, es ist eine Allergie. Kann ich etwas für Sie tun?«

Die Frau wandte sich ihrer Freundin zu. »Steff, das könnte die Lösung sein.« Und zu Lenore sagte sie: »Ich habe ein Kostüm in einem ganz bestimmten Ockerton, und ich kann einfach nichts finden, was dazu paßt.«

»Dann sehen wir mal. Welche Farbe hat denn die Bluse, die Sie üblicherweise dazu tragen?«

Skip zog in Erwägung, auf die kleinen Vitrinen einzuschlagen. Oder noch besser auf Steff und ihre Freundin. Aber sie konnte nichts anderes tun als warten. Zehn Minuten später warf Lenore ihr einen hilflosen Blick zu und sagte zu ihren Kundinnen: »Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«

Sie trat zu Skip. »Tut mir leid, aber ich bin hier nur angestellt, der Laden gehört mir nicht. Ich kann es mir einfach nicht leisten, diesen Job zu verlieren.«

Irgendwie gelang es ihr, aus allem eine Tragödie zu machen; Skip hatte wirklich nicht vorgehabt, sie um ihre Stelle zu bringen. Aber bevor sie antworten konnte, sagte Lenore: »Hören Sie, ich weiß sowieso nichts. Wieso sprechen Sie nicht mit Layne? Er ist Geoffs bester Freund, und er arbeitet zu Hause. Er hat Zeit.«

»Layne wer?«

»Bilderback. Er wohnt im Quarter.«

Das paßte wunderbar, denn Skip wohnte auch dort. Auf diese Weise konnte sie sich ein Sandwich mit nach Hause nehmen und zwischen zwei Befragungen kurz die Füße hochlegen.

Ich könnte sogar meditieren.

Als sie wieder im Wagen saß, mußte sie lachen. Damit nahm sie sich immer selbst auf den Arm: sie würde ja meditieren, wenn sie nur könnte – sie konnte bloß nicht stillsitzen. Vor allem war sie nicht dazu in der Lage, wenn Adrenalin durch ihren Kreislauf rauschte wie jedesmal, wenn sie so fasziniert von einem Fall war wie von diesem. Selbst die Füße hochzulegen wäre schon anstrengend. Zum Teufel damit. Sie aß ihr Sandwich im Stehen, in der Küche, schaute dabei ihre Post durch und fragte sich, wieso Lenore Marquer vor ihr von dem Autopsiebericht erfahren hatte.

Sie aß schnell und wußte, daß ihr das in ein paar Minuten leid tun würde, aber sie war einfach nicht in der Lage, sich darauf zu konzentrieren, war in Gedanken schon bei Layne Bilderback.

Er wohnte am Rand des Quarter, auf der Downtown-Seite der Esplanade, nahe der Dumaine. Nicht die beste Gegend, hätten einige bemängelt, aber wunderschön; atemberaubend schön. Wenn man den baumbestandenen Mittelstreifen (in New Orleans hieß so etwas »Neutrale Fläche«) und die geschmackvollen alten Häuser sah – Häuser, die beinahe lebendig schienen, die so freundlich aussahen, als beugten sie sich vor, um einen zu begrüßen –, konnte man kaum glauben, daß hinter diesen Fassaden der Drogenhandel florierte, aber genau das passierte hier und so manches mehr; wie Skip nur allzu gut wußte, denn sie hatte im VCD gearbeitet, dem Vieux Carre District, jetzt prosaisch ›achter Bezirk‹ genannt.

Auf den Stufen des Hauses, in dem Layne wohnte, saß ein Schwarzer. »Wie geht’s?« sagte er, so freundlich, als hätte man die Uhr fünfzig Jahre zurückgedreht.

Skip blieb stehen, um diesen Augenblick zu genießen. »Gut, danke. Aber ziemlich kalt.« Sie schauderte ein wenig.

»Ja. Meine Frau läßt mich drin nicht rauchen – ihr ist es lieber, wenn ich mich hier totfriere.«

»Wenigstens läßt Sie sie danach wieder heim.« Nicht besonders komisch, aber sie und der Mann lachten trotzdem, und für einen Augenblick waren sie Freunde. Solche Augenblicke erlebte man nicht in jeder Stadt, dachte sie immer, wenn sie New Orleans gerade mochte – was in diesem Moment der Fall war.

Ich bin ja richtig glücklich, dachte sie überrascht, und dann erinnerte sie sich voller Schuldgefühle daran, daß sie in einem Mordfall ermittelte.

»Wohnt Layne Bilderback hier?«

»Oben.«

Sie klingelte, und einen Augenblick später trat ein junger Weißer auf den Balkon hinaus. »Ja?«

»Ich heiße Skip Langdon – hat Lenore Marquer angerufen und gesagt, daß ich vorbeikomme?« Sie wollte vermeiden, auf der Straße das P-Wort auszusprechen.

»Nein. Hätte sie das tun sollen?«

»Ich bin Polizistin. Darf ich reinkommen?«

»Zeigen Sie mal Ihre Marke.«

Der Raucher war bereits verschwunden, entweder weil er verschreckt war oder weil er sich nicht einmischen wollte. Skip zeigte ihre Marke.

»Worum geht es überhaupt?«

»Ich glaube, das wissen Sie.«

»Es wurde ja auch Zeit«, sagte er und ließ sie herein.

Er war – nach Skips Maßstäben – ziemlich klein, hatte etwa Knowles Kennedys Größe. Obwohl er ein Sweatshirt und Jeans trug, konnte sie sehen, wie muskulös er war, wie schlank seine Taille; bestimmt trainierte er regelmäßig. Er war blaß, hatte kaum Haare und trug eine Brille. Das ist kein so verschrobener Spinner wie Geoff, dachte sie, aber vielleicht ein Intellektueller. Dies schloß sie aus der Umgebung und aus Bilderbacks Äußerem. Das Zimmer war das übliche Quarter-Juwel mit hoher Decke und Balkontüren, aber die Wände waren von einem schmutzigen Beige, als seien dem Bewohner Farben gleichgültig, die Möbel bestenfalls funktional – mehr oder weniger Sperrmüll. Allein auf dem Boden stapelten sich mehr Bücher und Zeitschriften, als manche Kleinstadtbibliothek vorzuweisen hatte. Es gab auch Regale, aber die waren nur zur Hälfte voller Bücher, die andere Hälfte des Platzes nahmen Pappkartons ein, offensichtlich Brettspiele, aber viel mehr, als Skip je für wahrscheinlich gehalten hätte.

»Kommen Sie von der Mordkommission?« Er zeigte auf eine durchgesessene Couch mit einer gefälschten Navaho-Decke darauf, die vermutlich die Risse im Bezug und Flecken verbergen sollte.

Sie setzte sich. »Ja. Und wissen Sie, wieso ich hier bin?«

»Wegen Geoff Kavanagh. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf. Sie hoffte, er würde weitersprechen, und sie wurde nicht enttäuscht.

»Endlich reagiert also jemand auf den Autopsiebericht. Wir haben uns schon gefragt, ob wir das Polizeipräsidium stürmen sollen oder so.« Er setzte sich auf einen schäbigen Rattanstuhl.

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, was hier eigentlich los ist? Und wer ist ›wir‹?«

»Die ganze TOWN spricht davon, Officer.«

»Detective«, fauchte sie. Normalerweise waren ihr Ränge vollkommen gleich, aber dieser Bursche machte sie wütend. »Sie meinen, das Computernetzwerk?«

»Ach, Sie wissen von der TOWN?«

»Offensichtlich längst nicht genug.«

»Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«

»Lassen Sie uns erst noch einen Moment reden.« Sie hatte das Bedürfnis, wieder Herrin der Lage zu werden. Die ganze Sache glitt ihr langsam aus der Hand. »In welcher Beziehung standen Sie zu Geoff Kavanagh?«

Er wurde rot. »Wir hatten nichts miteinander, wenn Sie das meinen.«

»Das meinte ich nicht.«

»Na ja – er war mein bester Freund, und ich bin so offen schwul, wie man nur sein kann.«

Sie mußte sich zusammennehmen, nicht auf die Uhr zu sehen. Wir kennen uns gerade – wie lange, zwei Minuten vielleicht? dachte sie, und schon weiß ich eines über dich. Das.

»Wo haben Sie einander kennengelernt?«

»Online.«

»Wie bitte?«

»In der TOWN. Wir sind beide in der Südstaaten-Konferenz und fanden heraus, daß wir beide in New Orleans wohnen. Also haben wir uns getroffen; wir hatten viele gemeinsame Interessen.«

»Zum Beispiel?«

»Ach, Computer. Virtuelle Realität. Virtuelle Gemeinschaften. Virtueller Sex.«

»Virtueller was?«

»Den Sex habe ich nur erwähnt, um Sie wachzurütteln. So etwas ist noch nicht entwickelt worden, aber alle sitzen schon in den Startlöchern. Virtuelle Gemeinschaften gibt es allerdings schon. Die TOWN ist eine davon. Wir kennen uns und kümmern uns umeinander, obwohl die meisten einander nie gesehen oder gehört haben und es auch nie tun werden. Die Zentrale ist irgendwo in Kalifornien, und dort wohnen auch die meisten User. Aber ich kenne Darlis und Busy von der Westküste ebensogut wie Leute hier in New Orleans.«

»Layne, Sie sollten öfter ausgehen.«

»Genau das kann ich aber nicht. Ich arbeite zu Hause, und am liebsten bleibe ich auch hier.«

»Einen Moment, was tun Sie eigentlich?«

»Sie meinen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen? Ich konstruiere Rätsel.«

»Sie konstruieren Rätsel?«

»Ja. Wie Kreuzworträtsel und Logeleien. Meist für Rätselblätter und eine oder zwei der größeren Zeitschriften.«

»Na ja, irgendwo müssen die ja auch herkommen.«

»Glauben Sie nicht, daß es auch Spaß macht?«

»Doch, doch. Ich bin nur ganz platt über diese Begegnung. Ich glaube, ich habe noch nie einen Rätselmacher getroffen.«

»Und dabei wollten Sie das doch immer.« Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln, und seine blauen Augen blitzten derart, daß sie geschworen hätte, er versuche zu flirten – was er vermutlich auch tat. Ihr war aufgefallen, daß Schwule oft mit ihr flirteten, und das gefiel ihr – man war so wunderbar sicher vor Mißverständnissen.

»Wahrscheinlich.« Sie hatte ihren Zorn beinahe vergessen. Aber das änderte sich, als ihr auffiel, was Laynes Aussage über seinen Beruf bedeutete. »Und Geoffs Tod betrachten Sie ebenfalls als Rätsel, das es zu lösen gilt.«

Er zuckte die Achseln. »Wenn einem der beste Freund stirbt, tut man einfach das, was man kann. Ich habe einen Freund, der drüben in Kalifornien für eine Zeitschrift arbeitet. Jedesmal, wenn wieder ein Schwuler an Aids gestorben ist, versucht er, den Auftrag für den Nachruf zu bekommen. Das ist seine Art, damit umzugehen.«

»War Geoff schwul?« Skip wußte, das führte nur vom Thema weg, aber das Gespräch entwickelte sich ohnehin ausgesprochen chaotisch.

»Nicht daß ich wüßte. Und, wie ich schon sagte, er war mein bester Freund.« Unter seiner Schlaumeierei lag eine Offenheit, eine Direktheit des Ausdrucks, die Skip gefiel, und sie fragte sich, ob sie ihm trauen konnte.

»Also gut. Wie haben Sie erfahren, daß Geoff tot ist?«

»Lenore hat es mir erzählt. Sie hatte ihn in der Videothek angerufen, und er war dort nicht aufgetaucht. Dann hat sie es bei ihm zu Hause versucht, und seine Mutter hat es ihr gesagt. Ich war ganz aufgeregt und habe eine Meldung losgelassen. Und dann haben alle es aufgegriffen, im ganzen Land. Es gibt regelrechte Konferenzen darüber – wir glauben, er ist ermordet worden.«

»Langsam, ich hab längst den Faden verloren. Ich kann ja verstehen, daß Sie Geoffs Tod als Rätsel betrachten, weil Sie Rätselmacher sind, ich kann sogar verstehen, wenn man versucht, den Schmerz um den Tod eines Freundes durch intellektuelle Aktivitäten zu verdrängen...«

Er zuckte zusammen; vermutlich war es ihm höchst unangenehm, Gefühle auch nur erwähnt zu wissen.

»... aber ich verstehe nicht, wie Sie zu dem Schluß gekommen sind, Ihr Freund sei ermordet worden, nur weil er durch einen Unfall umgekommen ist.«

»Oh. Ich nehme an, Sie wissen nichts von den Rückblenden?«

»Ist das wieder ein Computerfachausdruck, den ich nicht kenne?«

»Sie haben wirklich keine Ahnung, wie?«

»Ahnung wovon, verdammt noch mal?« Sie merkte, wie sehr es ihr gegen den Strich ging, die Situation nicht selbst in der Hand zu haben.

»Also gut, wenn ich es richtig verstehe, sind Sie nur wegen des Autopsieberichtes hier. Sie wissen bisher nur, daß Geoffs Tod als ›verdächtig‹ betrachtet wird?«

»Überlassen Sie die Fragen gefälligst mir.«

Layne lehnte sich zurück. »Schießen Sie los.«

»Erzählen Sie mir von diesen Rückblenden.«

»Das wollte ich gerade tun. Ich wollte mich nur überzeugen, wieviel Sie schon wissen, damit wir nicht unnötig Zeit verschwenden.«

Sie blieb ruhig, auch wenn sie vor Anstrengung mit den Zähnen knirschte.

Aber Layne konnte sich nicht bremsen: »Ist das jetzt unser erster Krach?«

Sie war wütend auf sich selbst, weil sie zugelassen hatte, daß er sah, wie sehr sie sich ärgerte, und sie fragte sich, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen sollte. Sie versuchte es mit einem Lächeln, von dem sie nur hoffte, daß es nicht wie das starre Grinsen einer Leiche wirkte. »Rückblenden.«

»Na gut, wir können ja später darüber reden. Also, es war in der Beichte –«

»Wie bitte?«

»›Beichte‹. Das ist der Name der Konferenz.«

»Und was ist eine Konferenz?«

»Ein Ort, an dem man über ein bestimmtes Thema reden kann – ein virtueller Ort natürlich. Manchmal geht man zur ›Beichte‹, und es gibt ein neues Thema, sagen wir mal Sex, und Leute steuern bloß Dinge bei wie: ›Ich hatte seit zwei Monaten keinen mehr. Wie sieht’s bei euch aus?‹ Das hängt von der Tagesform ab, vom Glück, wissen Sie? Manchmal ist es ziemlich langweilig, und manchmal kommen die Leute wirklich zur Sache.«

»Also kam das Thema Rückblenden auf?«

»O nein, es ging um ›Mord in der Nachbarschaft‹ oder so was Ähnliches. Ich weiß nicht genau. Jemand ist auf die Idee gekommen, was zu schreiben über dieses Phänomen, daß nach der Festnahme eines Serienkillers stets jedermann verkündet, was für ein netter, ruhiger Mensch er doch gewesen sei. Und er wollte wissen, ob die Leute jemanden kannten, den sie für einen Mörder hielten. Man braucht wohl nicht zu betonen, daß es dann sehr interessant wurde, und schließlich änderte sich das Thema ein wenig, in Richtung ›Mord zu Hause‹, nur, daß solche Sachen immer anders genannt werden.«

»Jetzt blicke ich schon wieder nicht mehr durch.«

»Keine Sorge, ich setze Sie schon ins Bild. Wenn bei Leuten zu Hause ein Mord passiert, nennt man es nie so, jedenfalls nicht, wenn keiner verhaftet wird. Wie der Bursche, dessen Oma aus dem Fenster fiel, während Opa im Zimmer war. Hat er sie nun geschubst oder nicht? Es ging etwa eine Woche lang so weiter, und Geoff hat behauptet, er glaube, tatsächlich einmal Zeuge eines Mordes geworden zu sein.«

»Was?« Skip fuhr auf, konnte kaum mehr stillsitzen.

»Es ging um den Mord an seinem Vater.«

Sie sank wieder zurück. »Weiter.«

»Er sagte, er habe einen komischen Traum gehabt, als das Thema zum erstenmal erwähnt wurde, über Schreie in der Nacht und jemanden, der versuchte einzubrechen; eine Art Alptraum. Er hat ihn aufgeschrieben und versucht, die Bedeutung rauszufinden, und dann glaubte er, sich tatsächlich an ähnliche Szenen erinnern zu können. Jedenfalls an das Gefühl, wirklich Angst zu haben.

Und was er tatsächlich wußte, ist folgendes: Als er vier Jahre alt war, sind er und seine Mutter abends nach Hause gekommen und haben seinen Vater tot auf dem Schlafzimmerboden gefunden. Mit seinem eigenen Revolver erschossen – er war ein Cop.«

»Ein Cop!«

»Ein Kollege. Geoff glaubte, sich daran erinnern zu können, wie er nach Hause kam – mit seiner Mutter zusammen die Treppe raufging und dann ins Schlafzimmer, wo sie die Leiche fanden. Aber er hat sie mal gefragt, und sie behauptete, es sei ganz anders gewesen. Sie sagte, Geoff sei die Treppe raufgerannt und ins Bad gegangen; und inzwischen sei Marguerite – also seine Mutter – ins Schlafzimmer gegangen und habe dort das Licht angemacht. Sie hat sich ungeheuer beherrscht, nicht zu schreien, denn sie wollte nicht, daß der kleine Geoffrey erfuhr, was geschehen war, also hat sie das Licht wieder aus- und die Tür zugemacht, ist runtergegangen und hat die Bullen angerufen.«

»Verdammt cool.«

»Ach, wer weiß, was wirklich passiert ist? Das hat sie bloß Geoff erzählt. Es hat aber dazu geführt, daß er glaubte, seine eigenen Erinnerungen seien falsch – oder könnten es jedenfalls sein. Und nach diesem Traum hatte er immer wieder seltsame Rückblenden, wenn man es so nennen kann, wie Inzestopfer sie haben sollen – so was wie Bruchstücke von Erinnerungen. Im Bett zu liegen und einen Streit zu hören. Den Flur entlangzurennen. Das Gesicht seiner Mutter. Sein Dad auf dem Boden... eigentlich hatte er so was immer schon gehabt, schon bevor seine Mutter ihm erzählte, daß er seinen Vater nie dort gesehen hat. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Und er hat diese Sachen im Netzwerk veröffentlicht?«

»Ja.«

»Unter seinem eigenen Namen?«

»Man kann in der TOWN seine Identität nicht verbergen – man hat eine User-ID, aber jeder kann in etwa zwei Sekunden rausfinden, wer dahintersteckt. Geoff war Vidkid.«

»Wenn das also stimmt, wenn er wirklich Zeuge dieses Mordes gewesen ist oder sogar vor dem Mord im Haus war, hat er es dann die ganze Welt wissen lassen. Meinten Sie das?«

»Zu diesem Schluß sind wir gekommen, ja. Nachdem wir das mit dem ›Unfall‹ rausgefunden hatten.«

Jetzt sah Skip ein, wieso die ganze TOWN um dieses Thema gekreist war. »Also gut, jeder in der TOWN konnte rausfinden, wer Geoff war. Konnte er seinerseits irgendwie feststellen, wer seine Meldungen las?«

Layne schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie’s. Die TOWN hat beinahe zehntausend Teilnehmer, über die ganze Welt verstreut. Es ist durchaus möglich, daß jemand in Marrakesch die Meldungen gesehen hat und nach New Orleans gekommen ist, nur um Geoff aus dem Weg zu schaffen, bevor seine Erinnerungen klarer wurden.«

Oder vielleicht hatte Geoff sich ja bereits erinnert und versucht, den Mörder zu stellen. Es mußte überhaupt niemand sein, der mit der TOWN zu tun hatte – sondern nur jemand, den er kannte.

»Was hat er sich bloß dabei gedacht?« jammerte sie.

»Alles zu veröffentlichen? Na ja, das gehört sozusagen zu den Traditionen der TOWN. Wenn man etwas Schlimmes durchmacht – und das hat er wirklich –, wendet man sich um Hilfe und Trost an seine Kumpel.«

»Er hat diese Leute ja nicht mal gekannt.«

»Hat er doch.«

»Entschuldigen Sie mal – zehntausend?«

Layne schaute verlegen drein.

»Mein Gott!« fuhr sie fort. »Für so was gibt es Therapeuten!«

»Die TOWN ist erheblich zugänglicher – und billiger.«

»Nicht in diesem Fall.«

Jetzt sah er ziemlich jämmerlich aus. »Es hätte einer von uns sein können. Das wissen wir.«

»Und wie war das mit dem Autopsiebericht?«

»Lenore hat ihn sich irgendwie verschafft – fragen Sie mich nicht, wie. Sie hat ihn ins Netz eingegeben, und PX, der in Portland wohnt, Med aus Pensacola und Sayah aus Savannah haben ihr fachliches Urteil als Mediziner abgegeben. Heute ging es vor allem darum, ob wir die Polizei benachrichtigen sollen oder nicht.«

Skip seufzte. »Jetzt zeigen Sie mir am besten mal, wie dieses Ungetüm aussieht.«

Layne grinste wie ein kleiner Junge. »Ich habe gehofft, daß Sie das sagen.«

Sein Computerraum sah aus wie die Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise. Hier hatte er sehr viel mehr Sorgfalt verwendet als beim Rest der Wohnung. Skip ließ sich vor dem Farbmonitor nieder.

»Also, jetzt logge ich mich ein. Sehen Sie? Ich benutze meine User-ID, mein Benutzerkennwort – Teaser. Und jetzt wird nach meinem Password gefragt.« Er bediente die Tasten, aber auf dem Bildschirm erschien nichts. Dann tauchte eine Zeile auf: »Willkommen in der TOWN!

»Wer kennt Ihr Password?«

»Ich und der Sysop. Sonst niemand.«

»Noch mal.«

»Der Systemoperator.«

Sie nickte.

»Sollen wir gleich mit der ›Beichte‹ anfangen?«

»Unbedingt.«

Er gab ein paar Befehle ein, und bald tauchte auf dem Bildschirm die Rubrik ›Mord zu Hause‹ auf oder genauer gesagt: ›Welche Mörder kennt ihr persönlich?‹

»Es wird lange dauern, alles zu lesen. Unter diesem Thema sind vierhundertelf Beiträge eingegangen. Wir gehen am besten wieder raus, und ich zeige Ihnen die Diskussionen über Geoff.«

Die erste Meldung stammte von Layne selbst: »Geoff Kavanagh (Vidkid) ist heute früh tot aufgefunden worden, angeblich Opfer eines Unfalls. Kann das jemand glauben?«

Der nächste Eintrag besagte: »Die Rückblenden! Jemand hat gelesen, was er eingeschickt hat!«

Geoffs Leiche war am Donnerstag um zehn Uhr morgens entdeckt worden – diese Meldung stammte von halb eins, zweieinhalb Stunden danach und etwa dreiundneunzig Stunden vor dem offiziellen Beginn der polizeilichen Ermittlungen.

Ich erfahre erst jetzt davon, dachte Skip, und dieser Cyberpunk wußte es schon vor drei Tagen.

Die zugehörige User-ID lautete Gorilla. »Wer zum Teufel ist das?« knurrte sie.

»Sie heißt Nancy, glaube ich, und sie wohnt in Boise oder so. Soll ich nachsehen?«

»Nein. Bleiben wir beim Thema.«

»Na ja, danach geht es noch einige Zeit so weiter. Alle kommen zu dem offensichtlichen Schluß. Dann hat jemand – ich glaube, es war Med –« er blätterte weiter – »die Idee gehabt, wir sollten uns den Autopsiebericht verschaffen, und Lenore ist das tatsächlich gelungen. Sie hat ihn veröffentlicht, und dann ging es erst richtig los – sämtliche Ärzte meinten, die Untersuchungsergebnisse paßten nicht zu dieser Art Unfall, und alle gaben ihren Senf dazu.«

»Ist jemand beschuldigt worden?«

»Nicht öffentlich.« Layne sah beunruhigt aus.

»Aber jemand könnte einen anderen direkt per Internet ansprechen. Wenn die beiden etwas wußten, was sie nicht mit den anderen teilen wollten.«

»Ja. Das ist mir auch schon eingefallen. Sie denken an Erpressung, nicht wahr?«

»Daran oder einfach Protzerei.«

Er nickte; er verstand offenbar genau, was sie meinte. »Haben Sie je eines dieser Rätselwochenenden mitgemacht?«

»Nein, wieso?«

»Na ja, ich hab ein paar davon organisiert.« Bescheiden breitete er die Arme aus. »Ich erfinde auch Spiele. Und bei solchen Gelegenheiten passiert mit den Leuten etwas Merkwürdiges. Sie bilden sich alle ein, sie wären Sam Spade, und tun Dinge, die sie normalerweise nie tun würden. Sie brechen in Zimmer von anderen ein, klauen Telefonnotizen, beschatten Leute – wenn man es zum erstenmal miterlebt, bringt es einen ziemlich durcheinander.«

»Scheiße, das hier ist aber kein Spiel.«

»Wenn man erst mal in der TOWN ist, wird man von einer merkwürdigen Art von Realität vereinnahmt. Ähnlich, wie wenn man Auto fährt und Leute anschreit, mit denen man das unter normalen Umständen nie machen würde. Kennen Sie dieses Gefühl, unbesiegbar zu sein?«

Skip war ganz elend zumute. »Die Leute glauben, weil sie denjenigen, mit dem sie sprechen, nicht wirklich sehen können, sprechen sie auch eigentlich nicht mit ihm?«

»Ja, es ist sonderbar. Wobei die eigentliche Illusion darin besteht zu glauben, der andere sei einem vollkommen vertraut, obwohl man nichts weiter von ihm kennt als ein paar Worte auf einem Bildschirm. Aber genau weil das eine Illusion ist, wird man mutiger. Das offensichtlichste Beispiel ist Flirten. Die Leute fangen online an zu flirten, oder jedenfalls geht es damit los, und ehe man sich versieht, fallen die anzüglichsten Bemerkungen zwischen Leuten, die sich eigentlich vollkommen fremd sind.«

»Wie komme ich an einen Ausdruck von diesem Zeug?«

»Den kann ich Ihnen machen.«

»Jetzt gleich?«

»Sicher.«

»Und ich brauche die Nummer des Sysop.«

»Gut, aber Sie müssen auch mit Bigeasy sprechen.«

»Mit wem?«

»Unserem furchtlosen Führer. Bigeasy. Er weiß mehr über dieses Zeug als jeder andere in Louisiana.«

New Orleans Beat

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