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ОглавлениеDen Rest des Tages verbrachte Skip damit, Laynes Ausdrucke durchzugehen und auf den Rückruf des Sysop zu warten, des Mannes mit der User-ID Wizard. Abgesehen von dem schrecklichen Gedanken, daß der Mörder eventuell die gesamte Diskussion überwacht, ja vielleicht sogar daran teilgenommen hatte, gab es noch weitere Offenbarungen. Mehr als genug.
Geoff hatte nicht nur – vor zehntausend Teilnehmern – erklärt, er sei vielleicht Zeuge eines Mordes gewesen und werde sich hoffentlich bald an das Gesicht des Mörders erinnern, sondern auch, es sei ihm immer komisch vorgekommen, daß seine Mutter so bald nach dem Tod seines Vaters wieder geheiratet hatte. Sie hatte acht Monate gewartet und dann seinen Onkel Mike, den Vater seines Bruders, geheiratet.
Der Name Mike Kavanagh war Skip bekannt. Er war Polizist, wie schon sein Bruder Leighton, und arbeitete im Raubdezernat, und außerdem war er der Cousin ihres Lieblingsfeindes Frank O’Rourke. Keine guten Nachrichten. O’Rourke hatte immer wieder bewiesen, daß er alles tun würde, um Skip zu schaden – wieso, wußte sie nicht, wenn man einmal davon absah, daß er weder Frauen mochte noch Kollegen aus Uptown und zudem das aufbrausende Wesen eines Rothaarigen hatte. Wenn O’Rourke in der Stadt war und man seinen Cousin des Mordes verdächtigte, konnte niemand seine Reaktion voraussagen. Glücklicherweise war er nicht in der Stadt.
Es gab noch etwas Bemerkenswertes – Geoffs Meldungen waren nicht vollständig. Manchmal gab es Leerräume, in denen nur das Wort gelöscht stand.
Gerade als Skip sich die achte oder neunte Tasse Kaffee einschenkte, vor allem aus Langeweile – sie wollte eigentlich nur noch weg von hier –, klingelte das Telefon.
»Hallo, hier spricht Wizard.«
»Hi, Wizard, ich habe hier ein Problem.«
»Ja, ich habe schon erwartet, von Ihnen zu hören.«
Wieder spürte sie Ärger, wie er sie schon bei Layne gepackt hatte: Was für eine Unverschämtheit, daß diese Leute mehr wußten als die Polizei! »Können Sie mir die Namen aller User in Louisiana nennen?«
»Ich werde über alles, was Sie mich fragen, erst mit unseren Anwälten reden müssen.«
»Also gut, das war Frage eins. Frage zwei bezieht sich auf die Technik: Gibt es eine Möglichkeit, gelöschtes Material zu rekonstruieren?«
»E-mail nicht. Alles andere ja.«
»Wer kann überhaupt etwas löschen? Jeder in der TOWN?«
»Jeder kann die eigenen Meldungen löschen. Und der Leiter der Konferenz oder ich auch Texte anderer, zum Beispiel aus juristischen Gründen. Aber davon mal abgesehen, kommt kein User an die Meldungen anderer ran.«
»Mir ist aufgefallen, daß in Geoffs Beiträgen einiges fehlt. Ich würde gerne wissen wieso.«
»Wahrscheinlich hat er es selbst gelöscht. Aber ich sehe mal, was ich noch rausfinden kann.«
»Danke. Folgendes brauche ich von Ihnen: Alles, was Geoff Kavanagh je ins Netz eingebracht hat, und alles, was er abgeschickt und gelöscht hat. Könnten Sie mir das zusammenstellen?«
»Ich werde die Rechtsverdreher fragen.«
Rechtsverdreher – ein Spinner der Extraklasse.
»Sagen Sie mal«, meinte sie, »was sind das für Leute bei der TOWN? Ganz allgemein – führen Sie eine Art Statistik?«
»Eigentlich nicht. Es gibt Tausende von Kiebitzen, die nur mal reinschauen und von denen wir nie mehr als die Namen erfahren.«
»Was verstehen Sie unter Kiebitzen?«
»Leute, die selbst keine Meldungen ins System geben. Man kann sämtliche Konferenzen mitverfolgen bis auf die privaten, und niemand erfährt davon, wenn man sich nicht aktiv einschaltet. Solche Leute nennen wir Kiebitze.
Wir hatten online mal eine Art von User-Fragebogen, aber die Ergebnisse sagen nichts aus, weil es viel mehr Kiebitze als aktive User gibt. In der TOWN ist das Verhältnis etwa acht zu eins.«
»Und die Aktiven – jedenfalls die, die bei der Umfrage mitgemacht haben –, was sind das für Leute?«
»Altersmäßig sind wir ziemlich gemischt. Viele haben natürlich Jobs, die irgendwie mit Computern zu tun haben. Aber wir haben auch eine Menge Schriftsteller und Schauspieler – immerhin liegen wir im Einzugsbereich von L. A., also kann man so was wohl erwarten.«
»Und es gibt auch genug Ärzte, wie ich bemerkt habe.«
»Ich glaube, einer ist sogar Polizeipathologe. Ja, es sind so ziemlich alle Arten von Leuten dabei. Wir haben den Ruf, eines der Netzwerke mit den wenigsten Spinnern zu sein.«
»Haben Sie vorhin nicht etwas von privaten Konferenzen erwähnt?«
»Ja, jeder kann seine eigene eröffnen. Die beliebtesten laufen unter dem Titel ›Männer‹, ›Frauen‹, ›Schwule‹ und ›Selbsthilfe‹, aber es gibt auch Unmengen, an denen nur zwei oder drei Leute teilnehmen.«
»Können Sie mir eine Liste der Konferenzen schicken, an denen Geoff teilgenommen hat?«
»Ich werde mit den...«
»... Rechtsverdrehern reden. Tun Sie das.«
Noch eine Sackgasse. Angewidert packte sie alles zusammen und ging nach Hause.
Sie hätte noch mehr zu tun gehabt; es kam ihr ein bißchen merkwürdig vor, am ersten Tag eines großen Falles so schnell aufzugeben, aber es war nun einmal so, sie fühlte sich völlig erledigt. Sie brauchte unbedingt ihren guten Nachtschlaf, um sich in Cyberspace zurechtzufinden.
Ihre neue Wohnung hatte sie in einem warmen Aprikosenton gestrichen, wie schon ihr altes Apartment im Vorderhaus. Da Jimmy Dee, ihr Vermieter, einen dunklen, maskulinen Aubergineton bevorzugt hatte, war das nicht einfach gewesen, aber das Ergebnis war die Mühe wert. Aprikosenfarbene Wände, weiße Blenden, zarte Gardinen und Balkontüren ließen die Räume kühl, hell, luftig und freundlich wirken, obwohl Skip im Augenblick gern auf Kühle und Luftigkeit verzichtet hätte. Auf einem antiken Tischchen stand eine wunderschöne blauweiße chinesische Lampe, es gab einen Couchtisch aus poliertem dunklem Holz, dazu ihr beinahe neues, grauweißgestreiftes Sofa und viel mehr nicht, wenn man von ihrem hochgeschätzten Marcia-Mandeville-Gemälde absah und dem neuen Bett – schließlich hatte sie jetzt ein Schlafzimmer. In ihrem alten Apartment hatte sie immer das Sofa ausgeklappt. Als nächstes würde sie eine Reihe von Kaminwerkzeugen brauchen, das war ganz offensichtlich. Sie hätte sich hier äußerst wohl gefühlt, trotz des vielen freien Platzes durch den Mangel an Möbeln, hätte sie nicht drei Pullover übereinanderziehen müssen.
Natürlich konnte sie jederzeit ins Vorderhaus hinübergehen.
Das hatte sie in der letzten Zeit oft getan, und es war gerade erst vor kurzem kalt geworden. Jimmy Dee hatte erklärt, er brauche sie, deshalb hatte er ihr die garçonniere so billig überlassen, und deshalb hatte sie das Angebot auch angenommen. Und weil niemand, der noch ganz richtig im Kopf war, eine der besten Wohnungen im French Quarter ablehnen würde.
Aber jetzt fühlte sie sich merkwürdig unbehaglich bei dem Gedanken, sich in die Scoggin-Ritter-Familie zu drängen. Die Kinder hatten vor dem Tod ihrer Mutter schon eine ganze Weile ohne Vater gelebt, und ihren Onkel Jimmy Dee hatten sie eigentlich nie besonders gut gekannt. Sie waren nicht an Männer gewöhnt; Skip wußte nicht, ob sie von der Homosexualität ihres Onkels wußten, aber mit Sicherheit hatten sie bisher auch kaum mit schwulen Männern zu tun gehabt. Also klammerten sie sich an Skip. Was Jimmy Dee ziemlich im Regen stehenließ, selbst wenn er wußte, daß Skip die Brücke zwischen den Kindern und ihm darstellte und daß er mit seiner Behauptung, er brauche sie, mehr als recht gehabt hatte. Skip selbst machte das alles ziemlich nervös – sowenig Sheila und Kenny an Männer gewöhnt waren, war sie an Kinder gewöhnt. Sie wußte nicht, wie sie ihnen die Mutter ersetzen sollte, was die beiden offensichtlich von ihr erwarteten. Und sie wußte, damit würde sie ihnen nicht helfen – Jimmy Dee mußte wichtigste Bezugsperson der Kinder werden, ganz gleich, wie schmerzhaft das für alle Beteiligten war.
Also rief sie statt Jimmy Dee lieber Steve Steinman an, ihren Freund in Kalifornien: »Hier ist was Merkwürdiges passiert.«
»Was? In der Metropole der Merkwürdigkeit? Hör auf, mich zu langweilen.«
»Nein, ehrlich. Das hier ist wirklich was Besonderes. Ich habe einen Mordfall übernommen – eigentlich ein ungeklärter Todesfall, der nach Mord aussieht. Also bin ich losgezogen, um ein paar Fragen zu stellen, und sämtliche Freunde des Opfers kannten bereits den Autopsiebericht, hatten ärztliche Gutachten eingeholt und sich mit ihren karierten Capes und Vergrößerungsgläsern, schon zwei Tage bevor die Polizei auch nur davon erfahren hatte, aufgemacht. Die allerletzte, die davon hörte, war ich, und glaub mir, das war nicht witzig.«
Es dauerte mindestens dreißig Sekunden, bis Steve Steinman aufhörte zu lachen.
»Was soll daran so komisch sein?« fragte sie ungeduldig.
»Du. Typisch Polizistin. Ihr könnt es wirklich nicht ausstehen, wenn jemand mehr weiß als ihr.«
»Und was soll daran falsch sein?«
»Wer ist denn überhaupt der Tote?«
»Ein Kerl namens Geoff Kavanagh.«
»Scheiße! Doch nicht Vidkid?«
»Sag mal, träume ich? Das kann doch nicht wahr sein!«
»Die Sache mit dem Autopsiebericht und so – die Leute, die das getan haben, gehören alle zur TOWN, nicht wahr?«
»Du etwa auch?«
»Was ist denn mit Vidkid passiert? Es tut mir leid, davon zu hören.«
»Offensichtlich bist du nicht auf dem neuesten Netzwerkstand, sonst würdest du es wissen.«
»Ich hab mich seit drei Monaten nicht mehr in der TOWN eingeloggt. Nach einiger Zeit nerven mich solche Sachen immer.«
»Du wirst begeistert sein.« Dieses eine Mal brauchte sie gegenüber einem Außenstehenden nicht mit Informationen zu geizen, da beinahe alles, was sie selbst über den Fall wußte, bereits Allgemeingut war – und das zum größten Teil schon vor dem Mord. Und natürlich würde er begeistert sein: Steve konnte von keiner guten Geschichte die Finger lassen, vor allem von keiner aufregenden.
Er war ganz außer sich: »Daß ich das verpaßt habe!«
»Da kennt man also einen Menschen und kennt ihn doch nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Ich wußte gar nicht, daß du zu den Einwohnern der TOWN gehörst.«
»Na ja, du weißt doch aber, daß ich ein Computerfreak bin.«
»Ach ja. Du hast vor kurzem einen Kurs gemacht.«
»Der Kurs hat mein Leben verändert – über die TOWN hab ich nur deshalb nicht gesprochen, weil es so langweilig ist.«
»So?«
»Morde gab es jedenfalls bisher noch nie. Eine ziemlich niedrige Kriminalitätsrate für eine Stadt.«
»Bist du aktiv, oder kiebitzt du nur?«
»Den Jargon hast du auch schon drauf? Meistens kiebitze ich, aber hin und wieder –« Er hielt inne.
»Was?«
»Ich überlege nur gerade, was dann eigentlich passiert. Ich kann es nicht erklären; es kommt einfach über mich.«
»Wie eine Art Bann?«
»Schwarze Magie.«
»Na wunderbar. Erst virtueller Sex und jetzt Schwarze Magie. Wie ist deine User-ID?«
»Ich fürchte, sie ist ziemlich phantasielos.«
»Du brauchst mich nicht zu schonen.«
»Steve.«
»Steve?«
»Sei nicht so gemein. Paß auf, du mußt dir unbedingt Zugang verschaffen.«
»Dachte ich auch schon. Aber ich möchte nicht, daß sie erfahren, daß ich kiebitze – und das kann man nicht verhindern, oder?«
»Aber natürlich kann man. Niemand fragt nach Papieren. Du mußt dir einfach nur jemandes Kreditkarte ausleihen. Die Rechnung für die TOWN läuft darüber, aber einloggen kannst du dich, von wo du willst; wenn du also zu Hause arbeitest, läuft es über die Telefonrechnung. Praktisch, wie?«
»Aber nicht sehr erfindungsreich, vom kriminalistischen Standpunkt aus.«
»Ich hab noch einen viel einfacheren – und eleganteren – Vorschlag: Wieso bist du nicht einfach ich?«
»Könnte ich das denn?«
»Sicher. Ich muß dir nur mein Password verraten.«
»Und das würdest du tun?«
»Ich weiß nicht so recht. Es ist ein bißchen peinlich.«
»Wieso?«
»Ach, zum Teufel damit. Hol dir einen Stift, ja?«
»Hab ich.«
»Man darf keine richtigen Wörter verwenden, weil es Programme gibt, die ganze Wörterbücher durchgehen, bis sie dein Password finden.«
»Versteh ich nicht.«
»Hacker machen so was. Sie brechen in deine Privatdateien und in die gesamte TOWN ein, wenn sie wollen.«
»Wen soll das denn schon interessieren?«
»Hat man dir jemals erzählt, daß es da draußen eine Menge komischer Leute gibt?«
Sie war fast schon wieder wütend über so etwas Sinnloses. »Fällt denen eigentlich nichts Besseres ein?«
»Viele sind Computerfreaks, die in Computerjobs arbeiten. Sie erledigen die ganze Tagesarbeit in einer oder zwei Stunden, schlimmstenfalls in dreien, aber sie können nicht einfach gehen, sonst würde der Chef es merken. Also spielen sie rum.«
»Ich verstehe. Sie haben also wirklich nichts Besseres zu tun.«
»Müßiggang ist aller Laster Anfang – oder so.«
»Und wie war das nun mit dem Password?«
Er sagte etwas, das sich anhörte wie »Skipididu«.
»Wie?«
»Ich sagte doch, es ist peinlich.«
»Ich finde es süß.«
»Schreib’s dir auf. SkiplDdu. Mein Schatz.«
»Romantiker.«
Er schwieg.
»Was ist denn?«
»Ich weiß nicht. Gute Frage.«
»Was ist eine gute Frage? Wovon redest du überhaupt?«
»Wir reden später drüber.«
»Was? Worüber reden wir später?«
»Ich kann einfach noch nicht. Ich kann jetzt nicht darüber reden.«
Sie legte auf, und Angst schnürte ihr die Kehle zu. Das paßte gar nicht zu Steve, sie so abzufertigen und unklare Andeutungen zu machen.
Er hat eine andere kennengelernt.
Und warum auch nicht? Zwischen ihnen lagen zweitausend Meilen. So konnte es nicht ewig weitergehen, und sie hatten es auch nicht so vorgehabt. Steve redete dauernd davon, nach New Orleans zu ziehen. Er liebte diese Stadt, sie war ihm zu einer zweiten Heimat geworden. Jedenfalls hatte er das immer behauptet.
Und jetzt würde sie Jimmy Dee anrufen. Immerhin hatte er einen Computer und sie nicht. Und überhaupt, wieso anrufen?
Sie ging hinüber.
»Tantchen!« Der elfjährige Kenny kam auf sie zugerannt. Er war niedlich, immer noch ein kleiner Junge.
»Das hört sich bescheuert an! Wieso nennst du sie nicht einfach Skip?« fragte Sheila, die Dreizehnjährige.
Kenny war ganz niedergeschmettert.
»Weil ich nicht so heiße. Ich heiße Tante.«
»Abgesehen davon hört sie nur noch auf Aphrodite«, sagte Jimmy Dee. »Denn eure Tante ist eine Göttin unter den Frauen. Oder, um euch ein Geheimnis zu verraten, sie ist eine Göttin. Zur Not akzeptiert sie es, wenn man eine Abkürzung verwendet und sie Affie nennt, aus Bescheidenheit, damit niemand ihr Geheimnis erfährt. Und ihr werdet es doch bewahren, Engelchen?«
»Affie! Affie!« Sheila lag fast am Boden vor Kichern – diesem höhnischen Kichern, das nur Dreizehnjährige zustande bringen können. »Affie, Affie, Affie.«
»Bleibst du zum Abendessen?« Jimmy Dee gab sich lässig, aber Skip sah das Flehen in seinem Blick. Sie hätte sich wegen des unangekündigten Hereinplatzens keine Sorgen machen müssen.
»Was gibt’s denn?«
»Für dich Fettucine quattro formaggi. Für Kenny« – er legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, und Kenny blickte lächelnd zu ihm auf – »Nudeln mit Käse. Und für Sheila –«
»Schweinefraß.«
»Entschuldige mal, junge Dame, ich möchte wetten, du hast in deinem ganzen Leben noch kein Schwein gesehen und noch viel weniger Fraß.«
»Ich bin aber schon geritten«, sagte sie und stolzierte hinaus.
Skip meinte: »Kennst du den Ausdruck ›den Kopf zurückwerfen‹?«
»Das mach ich selbst oft.« In einer kleinen Pantomime schraubte er sich vermeintlich den Kopf ab und warf ihn über die Schulter Kenny zu, der lachte, als hätte er das zum erstenmal gesehen.
»Aber es gibt Leute, die das wirklich tun.«
»Komm, wir werfen lieber noch was in die Salatschüssel.«
Die Küche blinkte und blitzte wie ein nagelneues Auto. Zwei Bautrupps hatten sechs Monate daran gearbeitet, die vier kleinen Wohnungen herauszureißen, in die das herrliche alte Haus unterteilt gewesen war, um wieder ein Einfamilienhaus daraus zu machen. Während dieser Zeit war die Mutter der Kinder an Krebs gestorben, und sie hatten einige Zeit bei ihren Großeltern gewohnt. Skip fand es unglaublich, wie schnell alles gegangen war, aber sie hatte den Beweis vor Augen: Dielenböden, frischer Lack und Kinderzimmer wie aus dem Bilderbuch. Jimmy Dee hatte nicht nur Innenarchitekten, sondern auch Kinderpsychologen beschäftigt; er hatte mit Müttern, Vätern und Kindern diskutiert, wie die Zimmer möbliert werden sollten, welche Spielsachen er für Kenny kaufen sollte und welche Teenager-Accessoires für Sheila. Natürlich hatten die beiden nicht ein einziges Wort über die Zimmer verloren.
Später hatte Kenny widerstrebend zugegeben, daß er seines mochte, und Sheila hatte angefangen, sich über ihres zu beschweren. »Wenigstens macht sie den Mund auf«, meinte Jimmy Dee.
Skip warf ihm einen Seitenblick zu. »Du wirst dir noch die Mundwinkel ausleiern, wenn du dieses Dauerlächeln nicht absetzt.«
»Wie bringt man bloß ein Kind dazu, einen zu mögen?«
»Teure Geschenke?«
»Hat nicht funktioniert.«
»Zeit.«
»Schneide lieber die Tomate, ja?«
»Wirklich, Dee-Dee. Ihre ganze Welt ist zusammengebrochen. Und außerdem ist sie dreizehn. Wenn sie nicht schmollen würde, wäre das nicht normal.«
»Sieh dir diese Locken an.« Er griff nach einer Strähne. »Sie werden grau.«
»Das tun sie schon seit Jahren.«
Ein Rumpeln war von der anderen Seite des Hauses zu hören, gefolgt von Kennys Jammern, dann erklangen rasche Schritte. Skip und Dee-Dee seufzten beide, dann rannten sie nach hinten, in das Zimmer, das Dee-Dee gern ›die Bibliothek‹ nannte, das aber vor allem ein eleganter Fernsehraum war. Er war mit dunklem Holz eingerichtet und hatte üppig fallende Vorhänge in einem Farbton, der dem Grün von Äpfeln ähnelte, aber intensiver war, mit einem Stich ins Goldene. Skip war der Ansicht, dieses Zimmer könnte zum Weinen schön sein, wenn es nur ein einziges Mal frei von Spielsachen und Schulheften wäre, die überall herumlagen. Und trotzdem mochte sie es, wie die Kinder es für sich in Anspruch genommen hatten, ihre Hausaufgaben an dem niedrigen, breiten Couchtisch machten und die Kissen von den stabilen kakaobraunen Sofas zerrten, um sich zum Fernsehen gemütlich auf dem Boden zu lagern.
Kenny hatte gerade umgeschaltet. Er drehte sich um und warf ihnen einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sie hat mich getreten.«
»Sheila!
Sheila tauchte in der Tür auf, in kampfbereiter Haltung, das lange Haar fiel ihr über die Schultern. »Was is’?« Das klang sehr nach »Sucht hier jemand Streit?« Ihr Unterkiefer sah aus, als bräuchte es ein ganzes Team von Kieferorthopäden, ihn zu bewegen.
Kenny zeigte auf sie. »Sie hat umgeschaltet, und als ich zurückschalten wollte, hat sie mich getreten und umgeschubst.«
Sie stürzte sich auf ihn. »Du hast mich getreten, du kleiner Mistkerl!« Und diesmal trat sie ihn wirklich. Heulend fiel er um, hielt sein Bein, machte eine große Schau daraus.
»Verdammt noch mal, Sheila!« sagte Jimmy Dee und packte sie am Arm.
»Laß mich los!« Sie entwand sich, wobei sie so viel Schwung nahm, daß sie ein paar Schritte weitertaumelte, über ihren kleinen Bruder stolperte und auf ihm landete. Er fing an zu heulen, und Skip sah Sheilas Gesicht, als sie sich wieder aufrappelte – nicht nur erhitzt und wütend und schmollend, sondern vollkommen verzweifelt. Eine Miene, die deutlich verkündete: »Niemand liebt mich; ich habe nicht einen einzigen Freund auf der Welt.«
»Ach, Schatz«, sagte Skip und streckte die Arme nach ihr aus.
»Laß mich in Ruhe!«
Jimmy Dee versuchte, den weinenden Kenny zu trösten, dessen Würde zweifellos verletzter war als sein Bein. Sheila rannte aus dem Zimmer.
Seufzend schaltete Skip den Fernseher aus. »Vielleicht solltest du jetzt Hausaufgaben machen.«
»Willst du mich für was bestrafen, was sie getan hat?«
»Bestrafen?«
»Ich hab mir gerade eine Sendung angesehen.«
»Eigentlich ist jetzt Zeit zum Abwaschen«, sagte Jimmy Dee. »Und in fünf Minuten gibt’s Essen.«
»Ich hab keinen Hunger.«
In typischer Elternpose hatte Jimmy Dee natürlich gelogen, was die fünf Minuten anging. Aber fünfzehn oder zwanzig Minuten später saßen sie alle am Küchentisch (den die Kinder dem Eßzimmer bei weitem vorzogen), und Sheila und Kenny machten tatsächlich einen gewaschenen und gekämmten Eindruck, als hätten sie sich nicht gerade gerauft wie ein paar Rüpel von der Straße.
Sie bildeten einen verblüffenden Kontrast, diese beiden, genau das Gegenteil von allem, was man über Kinder so hörte. Jungen waren angeblich laut, wild und aggressiv, aber Kenny war schon beinahe unheimlich sanft, ein Junge, der immer von anderen schikaniert wird und es doch nur allen recht machen will. Er hatte Sommersprossen auf der Nase und ordentlich geschnittenes braunes Haar, das er korrekt scheiteln konnte. Wenn er das tat, hätte Skip es ihm am liebsten jedesmal zerzaust und gesagt: »Nimm’s nicht so schwer, Junge.« Aber er war so stolz darauf, erwachsen zu wirken, daß sie sich zurückhielt.
Manchmal wünschte sie sich, er würde mit einem rosalilagestreiften Irokesenschnitt nach Hause kommen und mit einem Ring in der Nase.
Sheila war da schon ein anderes Kaliber. Sie war groß für ihr Alter und hatte noch ihren Babyspeck. Ihr Gesicht war rosig, ihr Haar dunkelblond mit hinreißenden, von der Sonne gebleichten Strähnen, die sie sich gern über die Augen fallen ließ, und es fettete schnell – Sheila befand sich noch nicht in dem Stadium, das Haarwäschen im Fünfminutentakt einschloß. Sie war störrisch und gnadenlos.
Während Kenny offenbar damit zufrieden war, auf dem Boden zu sitzen und zu malen, war sie überall und nirgends im Haus, energiegeladen bis zum Platzen, und manchmal trat oder schlug sie nach allem, was ihr in den Weg kam, vor allem nach ihrem kleinen Bruder.
Wie es für Kenny notwendig gewesen wäre, alles ein wenig leichter zu nehmen, hätte es ihr gutgetan, sich abzuregen, und Skip hatte schon diverse Mahnungen in dieser Richtung heruntergeschluckt. Jimmy Dee lag das nicht unbedingt. Er verlor die Nerven und schrie seine Nichte an. Aus diesem Grund blieb sie störrisch, aber Skip wußte auch, daß sie ihn bewußt zu solchen Ausbrüchen reizte. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern, er wußte einfach nicht, wie er Sheila den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Er sah nur, daß sie jemanden angriff, der kleiner und schwächer als sie war, und stellte sich auf die Seite des Unterlegenen.
Sheila mußte irgendwem die Schuld an ihrem Unglück geben, am Tod ihrer Mutter, dem Verschwinden ihres Vaters; dafür, daß sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in eine fremde Stadt verschleppt worden war. Und Jimmy Dee war einfach der Nächstbeste. Sheila war zweimal zu einer Therapeutin gegangen und hatte sich dann so sehr dagegen gesperrt, daß es einfacher gewesen war, sie nicht zu zwingen.
Skip liebte das Mädchen heiß und innig – sie liebte sie beide, aber mit Sheila identifizierte sie sich. Sheila fühlte sich unwohl in ihrem Körper, ebenso, wie es Skip lange Zeit ergangen war, bis sie erkannt hatte, daß Größe auch ein Vorteil sein konnte, und Polizistin geworden war.
Sheila war durch die Umstände gezwungen, an einem Ort zu sein, den sie nicht mochte. Skip war sich während ihrer gesamten Kindheit und Jugend wie eine Außerirdische vorgekommen, die bei einem Volk gestrandet war, dessen Kultur sie nicht verstand – und genau das war Sheila tatsächlich passiert.
Sheila hatte eine Menge Eigenschaften, die man eigentlich Jungen zuschrieb, ebenso wie Skip.
»Vielleicht sollten wir Kenny ein paar Barbiepuppen kaufen und Sheila einen Football«, hatte sie einmal vorgeschlagen.
Dee-Dee hatte eine Braue hochgezogen. »Als ob es nicht verwirrend genug für sie wäre, bei einem schwulen Onkel aufzuwachsen.« Aber dann hatte er einen Augenblick darüber nachgedacht. »Und außerdem glaube ich, das wird nicht reichen. Kenny würde vielleicht lieber Gobelins sticken, denke ich, oder stricken. Und Sheila braucht ein Samuraischwert.«
»Du magst sie nicht, wie?«
Er zog eine Grimasse. »Wie kann man ein Kind nicht mögen? Aber sie ist so gewalttätig. Was kann ich nur dagegen tun?«
»Mal sehen. Erst mal muß sie in Newcomb als Kappa angenommen werden –«
»Ach, sei still.«
Es gab zwei Möglichkeiten, mit beiden Kindern zurechtzukommen – eine bestand darin, sie zu einem Abenteuer auszuführen, jeglicher Art von Abenteuer, und ihnen hinterher noch ein Eis zu versprechen. Die andere war, ein paar spannende Polizeigeschichten zu erzählen. Skip mußte diese Geschichten zensieren, und sie kam sich ein bißchen komisch vor, von solchen Dingen zu erzählen, von Gewalt und Brutalität, aber sie wußte auch, ihre Berichte waren harmlos, verglichen mit der Realität auf der Straße. Und außerdem hielt sie sich gern für ein gutes Vorbild.
Heute berichtete sie von einem Verdächtigen, der über einen Zaun gesprungen war, als sie ihn verfolgte, und dabei seine Brieftasche verloren hatte, die Namen und Adresse enthielt. Als Skip den Inhaber der Papiere verhaften wollte, hatte seine Frau behauptet, er habe den ganzen Tag mit Grippe im Bett gelegen. Skip hatte ihn trotzdem verhaftet, war aber unsicher geworden, als sie zwei Tage später selbst die Grippe bekam.
Kenny, der sich schon auf die »Nudeln mit Käse« gefreut hatte, vergaß beinahe zu essen. Sheila schlang die Pasta mechanisch herunter, trotz des Genörgels über den »Schweinefraß«.
Kenny starrte sie an. »Er war’s nicht. Jemand hat ihm die Brieftasche geklaut.«
»Nein, er war es. Er ist auf Kaution wieder rausgekommen, also bin ich zu ihm nach Hause gegangen, mit neununddreißig Grad Fieber. Und da lag er im Bett, ganz anders als zwei Tage zuvor, schweißgebadet. Wir hatten uns beide bei seiner Frau angesteckt, die auf die Idee mit der Grippe gekommen war, weil sie sie selbst hatte.«
»Kriminelle haben eben keine Phantasie«, sagte Sheila. Sie schaute Dee-Dee an, dann Skip, und Skip spürte ein Kribbeln. Einen Augenblick lang war alles vergessen und vergeben; Onkel und Tanten waren vorübergehend in die menschliche Gesellschaft aufgenommen.
Kenny sagte: »Sie war doch nicht kriminell, sondern er.«
Sheila schlug nach ihm. »Ach, halt die Klappe.«
Kenny heulte auf.
Jimmy Dee hatte inzwischen schon ein Glas Wein getrunken. Skip war der Ansicht, daß so etwas seine erzieherischen Fähigkeiten immer beflügelte. »Sheila, würdest du dich bitte bei Kenny entschuldigen?«
»Ich hab doch nichts getan.«
Jimmy Dee warf Skip einen hilfeheischenden Blick zu. Sie sagte: »Schatz, bei der Polizeiarbeit gibt es so was auch. Weißt du, was unzulässige Gewaltanwendung bedeutet?«
Kenny antwortete für sie: »Das ist, wenn man jemanden haut, den man eigentlich gar nicht hauen müßte.«
Schon wieder hatte Sheila die Hand gehoben, bereit zu einem zweiten Schlag. Aber dann sah sie Skip an. »Overkill?«
Skip nickte. »Overkill. Wie in: das reicht jetzt.« Schnell wechselte sie das Thema. »Es hat nicht zufällig einer von euch einen Laptop, den ich mir ausleihen könnte?«
»Ich hab ein Notebook. Das ist sogar noch besser.«
Also ging sie mit einem Computer nach Hause, den sie mit ins Bett nehmen konnte. Jimmy Dee hatte ihr gezeigt, wie sie das Modem anschließen mußte. Und nun brauchte sie nur noch die Nummer der TOWN zu wählen (die Jimmy Dee auf ihre Bitte einprogrammiert hatte).
Klar doch. Sie kannte sich bestens aus. In spätestens einer Woche würde sie die Anfangsschwierigkeiten ausgebügelt haben und anfangen können zu arbeiten.
Aber nein: Wie durch Zauberei stellte sich die TOWN selbst vor und bat um ihre User-ID. Steve. Dann das Password: SkiplDdu. Und, schwups, war sie in der TOWN.
Und nun?
Es war tatsächlich ganz wie in einer richtigen Stadt – zum Beispiel New York oder Paris – mit achtzig Millionen verschiedener Möglichkeiten. Sie konnte auf einen Kaffee um den Block gehen oder es mit einem Opernbesuch probieren. Und wieso nur eine Oper? Wieso nicht erst ins Kino, dann in die Oper, dann Kaffee und danach einen Eisbecher?
Es gab Kategorien: Körper und Geist, die Welt, Interaktion, Kunst, Sport, Politik, Oben und Unten, Computer – und so weiter; sie zählte insgesamt dreiundzwanzig. Und unter jeder Kategorie gab es Konferenzen. Bei einigen zwölf oder vierzehn, bei anderen zwei oder hundert. Nach dem Zufallsprinzip wählte sie eine aus: Haustiere. Es erschien eine weitere Themenliste. Wie Steve ihr geraten hatte, gab sie den Befehl für chronologische Sortierung ein. Jetzt waren die neuesten Themen ans Ende der Liste sortiert. Das letzte, Nummer 256, lautete: »Bewohner der TOWN empfehlen Tierärzte«; die meisten Einträge bezogen sich auf Praxen an der Westküste. In Nummer 255 ging es um »Krankheiten von Kalikofischen«.
Sie versuchte es mit einer anderen Konferenz: »Beziehungen«. Noch schlimmer – hier gab es 733 Unterthemen. Eigentlich hatte sie schon mehr als genug davon, und dabei blätterte sie erst fünf Minuten. Sie konnte verstehen, wieso Leute sich bei dieser Sache sicher fühlten – alles war so gewaltig, man war nur ein Graffiti-Sprüher unter Tausenden. Und erstaunt begriff sie, daß dieser Vergleich mehr als zutraf: Vieles las sich wirklich wie unerlaubte Kritzeleien an den Wänden anderer Leute.
Ich schau einfach mal, was interessant aussieht, und lese dort weiter, sagte sie sich.
Zunächst landete sie bei der »Beichte«. Alles andere als langweilig. Die Datei, die sich mit Geoff befaßte, hatte den ziemlich flapsigen Titel »Jüngst verzogen«. Empört hatte Lenore (die ihren eigenen Namen als User-ID benutzte) ein Kapitel unter dem Titel »TOWN ohne Gnade« begonnen, in dem sie die Einwohner aufforderte, sich mit ihrem Voyeurismus auseinanderzusetzen, mit ihrer Herz- und Gefühllosigkeit. Jemand namens Bboy hatte geantwortet: »Mach mal halblang, Lenore. Ich finde, neunundneunzig Prozent der Einsendungen sind wirklich teilnahmsvoll. Der Dateiname ist ein bißchen überzogen, aber du weißt doch sicher auch, daß schwarzer Humor eine der Hauptmöglichkeiten ist, mit Trauer umzugehen.«
Ein dritter User, kein anderer als der legendäre Bigeasy, hatte einfach erklärt: »Es gibt ein tolles Buch über dieses Thema: Der Kreislauf der Trauer von T. M. Collins.«
Darauf hatte Greenie geantwortet: »Ich finde, Lenore hat recht. Haben wir uns nicht ein bißchen wie Aasgeier benommen?«
»Rede lieber nur über dich selbst, Grüner: -).« schrieb Arthurx. Das kleine Piktogramm war etwas, das sowohl Steve als auch Jimmy Dee (ein Veteran des America-Online-Netzes) ihr erklärt hatten – ein kleines umgedrehtes Gesicht, ein ›Smiley‹, der die Funktion hatte, alles abzumildern, was hätte sarkastisch klingen können, um zu zeigen, daß der Autor der Meldung nur Spaß machte.
Wenn es darum gehen sollte, einem das Gefühl zu geben, man nähme an einem wirklichen Gespräch teil, dachte Skip, dann war das hier ein erschreckend gutes Beispiel. Viele Gespräche waren tatsächlich so – banal. Leute machten unaufhörlich Bemerkungen, die man lieber vergaß, und zum Glück waren sie normalerweise zwei Minuten später wirklich vergessen. Diese Einträge würden sich ewig halten – legale Graffitis.
Sie kehrte zu »Jüngst verzogen« zurück. Das war erheblich interessanter. Sie mußte zugeben, daß die Computertechnologie für sie in einem ganz anderen Licht erschien, wenn sie hier verfolgte, wie es von der einfachen Meldung, ein Einwohner der TOWN sei gestorben, bis hin zum Autopsiebericht gekommen war. Nie hätte sie so etwas für möglich gehalten. Lenore, Layne (Teaser) und Bigeasy hatten viel eingegeben, vor allem Lenore und Layne. Beide waren tief in diese Tragödie verstrickt, wollten, daß es weiterging, wollten Geoff auf diese Weise vielleicht lebendig erhalten (oder den Verdacht von sich ablenken). Aber neue Informationen gab es nicht – nichts, was Skip nicht schon von Layne erfahren hatte.
Während sie weiterblätterte, fand sie eine Datei, die die Nuancen der ›Smileys‹ erläuterte, und eine andere, die die in der TOWN geläufigen Abkürzungen erklärte: VAZA bedeutete zum Beispiel »von Angesicht zu Angesicht«, eine Kommunikationsform, die die meisten in der TOWN tunlichst vermieden. Dann gab es NMUM – nach meiner unmaßgeblichen Meinung, GMADG – geht mir auf den Geist; MIML wie in »der MIML sagt« – der Mann in meinem Leben – und Skips Lieblingsabkürzung, EBEM, wie zum Beispiel in »Ich hab mich von meinem Freund getrennt, es war nicht Liebe, nur EBEM« – eine bescheuerte Erfahrung mehr.
Nur, um die Sache abzurunden, wandte sie sich der Kategorie »Sex« zu. Thema 543, am Ende der chronologischen Liste, beschäftigte sich mit »Ohren als erogenen Zonen«. Sie sah die ganze Liste durch und entschied sich schließlich für »Was ist deine Lieblingsperversion?« Verblüffend. Leute, deren Namen man mit einem Knopfdruck erfahren konnte, ließen sich hier ganz offen über Sex zu dritt, Hunde »zum Vergnügen dressiert«, »Nippeln« (eine Erfindung desjenigen, der es beschrieb) und diverse Grade von Sado-Masochismus aus.
Ein wenig erschlagen wandte sich Skip dem Gebiet »Bücher« zu – sozusagen, um ein Gegengewicht zu schaffen. Wenn sie eine hochliterarische Diskussion erwartet hatte, wurde sie vom ersten Kapitel enttäuscht, das sie ausprobierte: »Was finden die nur alle an Die geheime Geschichte?«
Die Einträge lauteten unter anderem:
»Umwerfend, einfach umwerfend. Tut euch was Gutes an und geht sofort in den Buchladen.«
»Ich fand die Typen zum Kotzen.«
»Ach, ich hab schon schlimmere Arschlöcher erlebt. Aber was für eine unglaubwürdige Handlung!«
Sie fühlte sich versucht, selbst einzugreifen: »Ich glaube, Georgie und Rinty, die Autorin hat nur versucht, eine Allegorie zu schaffen, in der weder die Handlung noch die Figuren wirklich wichtig sind. Es ging ihr eher darum, die moralische Bankrotterklärung des zeitgenössischen Collegestudenten darzustellen –«
Irgendwas Dummes und Bedeutungsloses in dieser Art – etwas Lachhaftes sogar –, aber sie wollte es diesen Spinnern zeigen, die ihr mit solch unqualifizierten Äußerungen die Zeit stahlen. Wen interessierte das denn?
Skip jedenfalls nicht. Nicht im geringsten. Sie langweilte sich schier zu Tode mit »fand’s ganz gut«, »eigentlich nicht«, »doch, aber aus anderen Gründen« und »ich auch nicht«, woraus sich ein großer Teil der »Konferenzen« zusammensetzte, wenn sie keinen bestimmten Zweck verfolgten, wie Spiele oder Fachsimpeleien über Computerprobleme oder Einkaufstips. Jedesmal, wenn sie vor lauter Langeweile schon ganz betäubt war, wandte sie sich einem anderen Thema zu, einer anderen Konferenz. Sie war verblüfft, als sie auf die Uhr sah und feststellte, daß es schon halb vier war.