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02 Blumen

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Das Ladenfenster der Schillergasse 23 war dekoriert mit Farnen, Gummibäumen, Yuccas, Birkenfeigen, Orchideen und Kakteen, sodass man kaum hineinblicken konnte. Die vom Rost zerfressene Hausnummer hing schief daneben. Auf einem bohnengrünen Schild stand in abgewetzten Lettern: „Blumen- und Pflanzenhaus Familie Rott“. Wobei die Bezeichnung „Haus“ bei weitem übertrieben war, da es sich um einen einzigen Verkaufsraum mit angrenzendem Arbeitszimmer und Lager handelte. Auch von „Familie Rott“ war lediglich eine vertrocknete Witwe übriggeblieben, die selten selbst im Laden stand, und den Verkauf ihrer schlecht bezahlten Aushilfe überließ. Wer immer sich in das Geschäft wagte, betrat eine üppige Oase, die mehr an ein Tropenhaus erinnerte, als an einen Blumenladen.

Hanne Bergstrom platzierte fünf Rosen auf einem Bambusbrett und fuhr mit dem Messer über die Stiele. Mit einer beiläufigen Handbewegung warf sie einige Zweige, Gräser und Blätter zu den Blumen, genauso wie ein Koch, der Salz und Kräuter in seine Brühe schnippt. Sie schnürte die Blumen zusammen und präsentierte sie einem Mädchen vor dem Tresen.

„Das ist ja ein Paradies hier“, meinte die Kundin, ohne sich von der Ecke mit den Orchideen, Agaven, Jasminblüten und Magnolien zu lösen.

„Stimmt. Das macht 18,50 Euro“, sagte Hanne lächelnd. Sie zeigte gut gelaunt auf die zwei Messingdosen vor der Kasse.

„Falls du was spenden willst. Die eine Dose ist für ein Schulprojekt in Tansania. Die andere ist für prekäre Blumenverkäuferinnen, die sich um das Pflanzenhaus hier kümmern. So ein Paradies ist schließlich auch immer bedroht.“

Hanne wickelte die Blumen in Papier, nahm das Geld und bevor die Kundin ging, warf sie einige Münzen in die Dose mit Hannes Namensschild, und in die Büchse daneben, auf die Hanne das Foto eines abgemagerten, schwarzen Babys geklebt hatte.

Es schien, als schluckten die Pflanzen alles Lärmen, Brummen und Stinken der Stadt. Ein Duft von Blüten, feuchter Erde und tropfenden Blättern durchtränkte die Luft. Hanne war gern allein. Sie atmete tief ein, und die Gedanken stoppten für einen Moment. Sie war Ende zwanzig, hochgewachsen, hatte flachsblonde, schulterlange Haare, eine grotesk große Brille auf der schmalen Nase und wenn sie redete, warf sie ihre Stirn in Falten, um ihren Worten mehr Bedeutung zu unterstellen. Das Blumen- und Pflanzenhaus war ihre liebste Zuflucht. Während der Schichten vergaß sie die gescheiterten Bewerbungen nach dem abgebrochenen Studium. Die Enge ihrer Pärchen-Wohnung, die mit ihren auserzählten Ikea-Möbeln, überpinselten Schimmelflecken, geduckten Decken und dem falschen Mann auf der Couch, nichts als Stagnation versprach. Im Grün des Blumenladens erinnerte wenig an die Betonwelt vor dem Schaufenster. Sie zog einen Arbeitshocker heran und ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Hanne trug ein einfarbiges Top, mit knielangen Jeanshosen, die ihre stoppeligen Beine entblößten. Sich die Körperhaare wachsen zu lassen, war für sie ein Statement. Eine Revolution im Kleinen.

Eine „Eilmeldung“ von 23 Toten vibrierte auf ihrem Smartphone. Ein Anschlag irgendwo. Enttäuscht schob sie das Gerät zurück auf die Kasse und starrte das erloschene Display an wie eine Leiche. Oder waren es 24 Tote gewesen? Sie hatte es schon vergessen. Hanne wusste, dass es unwahrscheinlich war, aber vielleicht hatte Herrn Schmitz ihre Idee ja gefallen. Sie versuchte sich vorzustellen, dass er ihr jeden Moment antworten würde und etwas ihre Leben wie Zahnräder ineinanderschob. Sicher hatte er ihre eindringliche, handgeschriebene Nachricht bereits aus seinem Briefkasten gefischt. Nur was, wenn er die Idee nicht verstand, quälte sie sich. Was, wenn die Formel als Witz im Internet verpuffen würde? Wie verlockend war es, neue Gedanken zu verspotten, wenn man selbst keine besaß! Als Absender des Briefes hatte sie ein Pseudonym verwendet und nur eine Mailadresse zur Kontaktaufnahme hinterlegt: Joinus@the-formula.info.

„Meine Formel“, murmelte sie und als sie aufsah, stand zu ihrem Erstaunen schon wieder jemand im Laden. Die Lichtschranke der elektronischen Klingel musste ausgefallen sein, weil sie den Mann nicht hatte kommen hören.

Er war wenige Jahre älter als sie und unter den stoppelig abstehenden Haaren musterte sie ein zusammengekniffenes Augenpaar. Die Hände vergrub er in der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers. Es schien Hanne, als reichten sich seine Finger hinter dem Stoff einen Gegenstand hin und her, dessen Konturen sich immer wieder dadurch abzeichneten.

„Blumen“, meinte er stockend.

„Du verkaufst Blumen?“

Hanne seufzte lächelnd. „Ne, wir machen hier Autoreparaturen. Das sieht man doch. Lass deinen Wagen einfach auf der Straße stehen und gib mir den Schlüssel. Ich fahre ihn gleich rein.“

Der Mann zeigte keine Regung. Nur seine Hände hörten auf in der Bauchtasche zu kramen, als müsste er über etwas nachdenken, das seine ganze Konzentration beanspruchte.

„Ich wollte einen Strauß kaufen.“, sagte er und zog die rechte Hand heraus, um auf die Blumenkübel am Fenster zu zeigen. Die andere Hand hielt er weiter unter seinem Pullover versteckt. Daneben drückte sich etwas durch die Tasche. Es besaß etwa die Größe eines Geldbeutels, doch war eher länglich und hatte unregelmäßige Ecken und Kanten.

Hanne hüpfte von ihrem Hocker. Während sie zu den Kübeln mit Amaryllis, Rosen, Gerbera und Lilien steuerte, spürte sie, wie seine Blicke jede ihrer Bewegungen verfolgten. Auf ihrem Arm stellten sich die Härchen auf.

„Guck, hier steht alles, was wir an Schnittblumen haben. Genau 15 verschiedene Sorten. Für wen soll der Strauß denn sein?“

Er antwortete nicht und glotzte sie weggetreten an. Sein Kopf war etwas zu klein für den 1,92 Meter Körper, als hätten die Wachstumshormone kurz nach den Schultern keine Lust mehr gehabt den Menschen vernünftig zu Ende zu bauen. Seine Mimik war festgefroren in einem unentschiedenen Zustand zwischen Lächeln, Wut und ein bisschen Glückseligkeit.

„Hallo? Was willst du denn für Blumen?“

Sie wedelte mit der Hand vor seiner Nase, bis er aufschreckte und sich ein Grinsen abmühte. Es wirkte, als würde er eines der Smileys aus Chatprogrammen nachahmen.

„Was ist das denn, was du gerade gemurmelt hast: Die Formel?“ Sie bemerkte, dass die linke Hand in seinem Pullover zu zittern begann.

„Willst du Blumen kaufen, oder warum bist du hier? Wie gesagt, eigentlich sind wir auch ein Autohaus. Das mit den Blumenkübeln ist nur Tarnung. Also ich könnte dein Auto …“

Er entschuldigte sich und zeigte auf die gelben Chrysanthemen. „Vielleicht solche. Ist für meine Mutter. Sie liegt drüben im Krankenhaus und hat nicht mehr lange.“

Hanne mühte sich ein freundliches Verkaufsgesicht ab. Der Mann jagte ihr starkes Unbehagen ein. Sie konnte sich nicht genau erklären warum. Seine bloße Anwesenheit störte sie ungemein. Perverse Typen gab es ja genug, aber was sollte so einer in ihrem Blumenladen? Misslaunig pickte sie ihm aus den Eimern einen sommerlichen Strauß zusammen und eilte in den Arbeitsraum hinter dem Tresen, um einige Zweige und eine Strelitzie dazu zu stecken. Im Verkaufsraum sah sie ihn hin und her laufen, während sie das Grün um die Blumen steckte.

„Es tut mir leid, aber…“, rief er zu ihr hinein. „Du siehst einer Bekannten von mir ziemlich ähnlich. Wie heißt du denn?“

Sie band ein rotes Papier um das Bouquet und überreichte ihm den Strauß, den er behutsam mit der rechten Hand auf den Tresen legte, ohne die linke Hand aus der Bauchtasche zu nehmen. Anschließend drückte er mit der gleichen Hand einen Geldbeutel aus der Jeans. Er entdeckte die beiden beschrifteten Trinkgelddosen.

„Meinen Namen kann ich dir leider nicht verraten. Ich bin Datenschützerin.“ Sie musste schmunzeln. „Und deine Bekannte kenne ich nicht.“

„Ich bin erst vor kurzem in die Gegend gezogen“, meinte er.

„Naja mein Lieber, in einem Blumenladen wirst du wohl keine neue Freundin kennenlernen“, antworte Hanne und schnippte ihm die zwanzig Euro aus der Hand.

„Wir sammeln für Kinder in Tansania. Und für den Blumenladen und seine Verkäuferin. 230 Euro haben wir schon. Davon kann man mindestens 30 Schulbücher kaufen. Also für die Kinder.“

Sie zeigte auf die zwei Messingdosen. Er nahm den Strauß und drehte sich noch einmal zerstreut nach ihr um, bevor er den Laden in Richtung Krankenhaus verließ. Dieses Mal surrte die elektronische Klingel, als seine Beine die Lichtschranke passierten.

„Geiziges Arschloch“, dachte Hanne. Sie zog einen Flachmann unter dem Tresen hervor und nahm einige Schlucke, um wieder gute Laune zu bekommen.

Das Erwachen der Formel

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