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06 Klingel
ОглавлениеKommissar Wiebke wusste was richtig und was falsch war. Meistens war die Welt ganz einfach: Es ist richtig, anderen zu helfen und falsch, sie zu ermorden. Es ist richtig, höflich und zuvorkommend zu sein und falsch, Menschen zu beleidigen. Kommissar Wiebke war ein Mann, der keine Zeit zum Zweifeln hatte. Ein einziges Mal zauderte er in seiner Karriere, und wäre beinahe daran gestorben. Das würde ihm nie wieder passieren. Kommissar Wiebke verabscheute halbe Sachen. Das passte einfach nicht zu ihm. Nach drei Monaten hatte er seine spätere Frau gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Nach sechs Monaten standen sie vor dem Altar, nach sieben Monaten war sie zum ersten Mal schwanger und nach zwei Jahren zum zweiten Mal. Alles hatte seine Richtigkeit gehabt. Doch irgendwie ist es am Ende falsch gelaufen. Wie es immer irgendwann falsch lief. So sehr er sich dagegen stemmte, manchmal hatte er das Gefühl, er würde das Falsche magisch anziehen. Wie ein Magnet für Scheiße. Womöglich hatte es ihn deswegen zur Polizei gezogen. Weil er ein Scheißemagnet ist. Das Leben ist wie die Frauen, sagte er gerne. Kaum zu verstehen und immer bereit, dir ohne Ankündigung in die Eier zu treten. Dann, wenn es eigentlich gerade gut läuft. So wie bei ihm und seiner Frau. Er hätte nie gedacht, dass sie eine dieser Fremdgeherinnen ist. Aber sie hatte es nun mal getan. Also musste er die Ehe beenden. Weil sich das so gehörte und man immer zu sich stehen musste. Sie meinte, dass sie sein Schweigen nicht mehr ertragen und er die Kinder nie verstanden hätte. Er sei der Grund gewesen, weshalb die Große kaum mehr nach Hause kam, und der Kleine die Schule geschmissen habe. Er habe sie erdrückt. Er sei ein Diktator. Kommissar Wiebke hatte nur milde gelächelt. Was störte es die stolze Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr wetzt. Er wünschte seiner Frau noch ein schönes Leben und reichte ihr die Hand zum Abschied. Er wusste genau, was sie in diesem Moment gedacht hatte. Kommissar Wiebke kannte die Menschen. Er wusste wie sie tickten, kannte tausend lügende Gesichter, wusste von den kleinen und großen Erniedrigungen, die sie sich antaten, er kannte die Muster, von Generationen zu Generationen, Opfern zu Tätern, wie sich alles vererbte, wie Narben im Verborgenen glühten und irgendwann entflammten. Warum Leute taten, was sie taten. Er verstand, welche Verletzungen sich hinter aufgeregten Zeugen verbargen. Mit welchen Anschuldigungen sie sich selbst enttarnten.
Kommissar Wiebke stand kurz vor der Rente und bald sollte das Haus endlich abbezahlt sein. In letzter Zeit hörte er immer häufiger von Kollegen, dass sie die Jugend nicht mehr verstünden. Kommissar Wiebke glaubte nicht an neue Zeiten. Der Mensch blieb Mensch. Egal wie viele Computer und Maschinen er sich an die Brust heftete. „Wir wollen schon immer das Gleiche. Liebe, Zuneigung, Anerkennung, Macht, Reichtum. Wenn wir das über eine App bekommen, nun gut.“ Die Motive blieben die gleichen, sagte er.
Trotzdem grübelte er in letzter Zeit immer stärker über die Worte seiner Kollegen. Gestandene Polizisten, die zugaben, den Bezug zur Welt zu verlieren. Nur weil sie oberflächlich keine Lust mehr hatten, die Bedienung eines Smartphones zu lernen. Je tiefer er sich in die Ermittlungen zum Mord an Ballhorn stürzte, desto näher fühlte er sich seinen Kollegen. Felix Ballhorn erschien ihm rätselhaft– fast so wie sein eigener Sohn. Er sprach mit Ballhorns Eltern und den zwei Freunden, die sie ihm nennen konnten. Weder seine Eltern noch die Freunde, wussten besonders viel über Ballhorn zu erzählen. Nur, dass er die meiste Zeit am Computer verbracht und hunderte Freunde im Netz hatte. Eigentlich sei er immer beschäftigt gewesen. Hätte noch ein Video schneiden müssen, einen Blogartikel schreiben, chatten, oder befand sich mitten in einem Computerspiel, wenn sie anriefen. Er habe jedem seiner Fans persönlich geantwortet. Dafür sei schon die Hälfte seines Tages drauf gegangen. „Hat er auf euch einen glücklichen Eindruck gemacht?“, fragte Wiebke seine Freunde und sie glotzten ihn verwirrt an. „Klar, er hatte alles, was er wollte.“
Felix Ballhorn habe keine echten Feinde gehabt. Vielleicht hätten ihm mal ein paar Verrückte gedroht. Das sei normal im Netz. Das Problem war nur, dass seine beiden Freunde ihn erst seit einem Jahr kannten. Davor musste etwas vorgefallen sein. Doch nicht einmal seine Eltern wussten, was er damals gemacht und mit wem er seine Zeit verbracht hatte. „Er war immer ziemlich verschlossen. Vielleicht habe ich ihn zu oft gefragt, ob er eine Freundin in Berlin hat“, meinte seine Mutter, bevor der Kommissar auflegte.
Selbst Hanne Bergstrom hatte sich als Sackgasse herausgestellt. Ein nettes, wenn auch vorlautes Mädchen, ehrlich geschockt vom Tod des Bloggers. Eines mit verqueren Ideen, aber im Grunde besaß sie ein gutes Herz. Das hatte er gleich gespürt. Deshalb blieben nur noch Ballhorns virtuelle Freunde als Verdächtige übrig. Es bereitete den Kollegen einige Mühe den Computer des Toten zu entsperren. Als Kommissar Wiebke nach Tagen einen eingeschränkten Zugang bekam, wies ihn Paul auf einen Namen hin, der immer wieder in verschlüsselten Ordnern auftauchte: „BCC – Blind Copy Club“. Ein Verein von Hackern aus Berlin.
Die Mittagssonne spiegelte sich in den parkenden Luxuswagen und die Bäume der Allee ragten allzu perfekt gestutzt in den Himmel. Hanne Bergstrom trug eine kurze Hose und ein luftiges Top. Von der gegenüberliegenden Straßenseite gaffte ihr ein Mann im Anzug auf die stoppeligen Beine. Sie streckte ihm den Mittelfinger entgegen und er lief aufgebracht – in sein Handy tippend – davon.
Das Büro des Blind Copy Clubs lag in einer Wohngegend mit renovierten Gründerzeithäusern, niedriger Verkehrsdichte und hoher Gentrifizierung. Sie blieb in der Auguste-Viktoria-Straße stehen und prüfte das kupferne Klingelschild, ohne sich zu bewegen. Etwas hinderte sie die Klingel zu drücken, so als wäre diese winzige Handlung ausreichend eine Lawine auszulösen, die sie überrollen würden. Als würde der Klingelknopf eine Kettenreaktion in Gang setzen. Unter ihrer Brille sammelten sich Schweißperlen und sie bemerkte einen Obdachlosen, der sie von einer Verkehrsampel aus beobachtete, doch dieses Mal weniger lüstern, sondern vielmehr neugierig und verschroben.
Auf einmal kam alles in ihr wieder hoch: Die Gestalten von früher, die unreifen Gedanken und die Verwirrung. Hanne Bergstrom wuchs auf in einem ordentlich eingereihten Haus am Rande von München, mit akkurat verteilten Grünflächen, Gartenzaun und kleiner Einfahrt. Es war kein Ort, an dem man gerne am System zweifelte, weil hier jeder seinen scheinbar gerechten Teil vom Kuchen abbekommen hatte; das Auto auf Raten, den Basketballkorb über dem Garagentor, den Elektro-Rasenmäher, das mit Duftsteinen dekorierte Badezimmer, die Einbauküche mit Süßigkeitenfach, die mit Pizza, Fleisch und Erbsengemüse gefüllte Tiefkühltruhe, die Schrankwand mit bunten Gips-Figuren, das Kunstledersofa samt gefliestem Sofatisch, den Fernseher im Wohnzimmer und die Fernsehzeitschriften. Man war vernünftig hier und bereitete sich mit Versicherungen und Sparbüchern auf jede denkbare Krise vor. Die Berater klingelten gerne an den niedrigen Zäunen, denn nirgendwo sonst ließen sich ihre Sorgenfrei-Pakte, Kleinkredite und Abonnements so gut verkaufen. Im Winter fuhr Hanne Schlitten, im Herbst baute sie Burgen aus Laub und im Sommer spielte sie Fußball.
Doch nach der letzten Krise kroch auch in der Vorstadt der Rost an die Autokarosserien. Gärten verwilderten, Bettler belagerten die Bürgersteige und Straßen bekamen Löcher. Zuerst verlor Hannes Vater seinen Job in der Fabrik an eine der neuen Industriemaschinen und letztendlich musste auch der Laden der Mutter schließen, weil eine größere Kette aus Amerika in der Nachbarschaft eröffnet hatte. Unglückliche Verlierer der Krise nannte man das.
Der erste Zweifel wuchs in Hanne, als der Vater nach ihrem letzten gemeinsamen Urlaub an ihr Zimmer klopfte – sie war damals 12 Jahre alt – und ihr erklärte, dass sie sich trotz der Trennung noch jede Woche treffen würden. Und als er meinte, dass Mama und Papa sie beide unendlich lieben würden, um auch etwas Positives zu sagen. Sie versteckte ihr Gesicht im Bettlaken und stieß ihn davon. Papa habe die Familie ins Unglück gestürzt, sagte Mama. Ihr Vater dagegen meinte, dass alles nur ein böser Albtraum sei, der wieder vorüberginge.
Plötzlich war die Welt düster geworden, oder „kompliziert“, wie die Erwachsenen sagten. Plötzlich hasste sie ihren Vater, weil ihre Mutter ihn einen bösen Menschen nannte. Plötzlich machten ihre Eltern ihr das Leben unverständlicher Weise kompliziert und logen trotzdem, sie zu lieben. Es gab getrennte Weihnachten, festgelegte Mama- und Papa-Zeiten und peinliche Verhöre über das Leben des anderen. Ihre kindliche Welt hatte Risse bekommen. Sie konnte nicht mehr schlafen und fing an von Revolutionen und der Formel zu träumen. Die Welt stimmte nicht mehr mit ihrem gelernten Anstand überein. Auf dem Weg zur Schule, an den Bushaltestellen, beim Fußballtraining, am Kassenband – überall witterte sie jetzt krumme Fratzen über Anzugfassaden, feindliche Blicke über scheinbar glückslachenden Mäulern und wütende Fäuste unter den gebügelten Ärmeln. Oft saß sie stundenlang im Bahnhof und beobachtete die Menschen am Gleis. Wie sie drängelten und schoben, Schaffner anbrüllten oder ihre Handys, sich vor allen in die Züge quetschten und sich wie Fleischstücke begafften. Die Welt, die sie studierte, deprimierte sie. Jeder kämpfte für sich allein. Manager, Arbeitslose, Polizisten, Angestellte, Handwerker. Am liebsten mochte sie die Taschendiebe. Es gab zwei Banden und man erkannte sie daran, dass sie am häufigsten lächelten. Für Hanne waren sie die ehrlichsten Heuchler der ganzen Vorstadt. Am Abend, wenn sich die Vorstadt zur Ruhe legte, und nur noch die Mücken um das gelbe Bahnhofslicht schwirrten, begriff Hanne, was Einsamkeit bedeutete. Es war ein dumpfes, graues Gefühl, kalt, weil einen niemand wärmen würde, und gleichzeitig ein Abenteuer. Sie wischte sich über die Augen und stand auf. Sie fühlte sich frei. Sie war mutterseelenallein auf diesem Planeten, irgendwo im Nirgendwo des endlichen Alls. Aber sie war stark. Sie brauchte niemanden. Der Wind kämmte ihr durchs Haar und die Nacht machte unheimliche Geräusche. Und schließlich musste sie doch weinen und rannte zurück nach Hause.
Nach vier Jahren beschloss Hanne den Kontakt zu ihrem Vater wiederaufzunehmen und ihn in seiner Wohnung in der Stadtmitte zu besuchen. Er war zu Geld gekommen und hatte sich eine dummschöne Freundin angelacht, die er mit neuen Handtaschen bestach. Ohne sich anzukündigen, fuhr Hanne mit der Straßenbahn zu der Anschrift, die auf seinen Briefen stand und wäre er nicht zufällig aus der Haustür getreten, sie hätte die Klingel wohl weiter angestarrt und wäre nach Hause gefahren, ohne auf seinen Namen zu drücken.
Hanne dachte nicht gerne zurück. Sie hatte die Trennung der Eltern, den letzten Familienurlaub und die Schuldzuweisungen, so gut es ging vergessen und die Erinnerungen mit neuen Eindrücken überschüttet, bis sie verschwanden. Es gab Wichtigeres zu tun. Plötzlich war es Hanne, als warte sie wieder vor der Wohnung ihres Vaters, mit talgiger Haut – pickelbeladen – Angstschweiß, 16 Jahren und schlechtsitzenden Kleidern. Nur heute stand sie in einer anderen Stadt, vor einem anderen Mietshaus und auf dem Klingelschild las sie zwischen all den Müllers, Schmidts und Meiers, „BCC – Blind Copy Club“. Sie dachte an die Umarmung ihres Vaters, das Familienfoto auf dem Marmor-Küchentisch – daneben sein Autoschlüssel und ein Bild seiner dummen Freundin – den vertrauten Gestank in den fremden Räumen und die bekannten Mäntel in der Garderobe. Hanne Bergstrom war nicht geschaffen für Romantik, Kitsch oder Nostalgie, zumindest wollte sie es nicht sein.
Zwei Straßen weiter hatte ein Café Gusseisenstühle und -bänke auf dem Gehweg gruppiert, auf denen sich jetzt die Stadtmenschen einträchtig angrinsten oder in Kaffee und Laptop vertieft die Sonne erfühlten. Hanne beschloss eine Runde zu spazieren. Je näher sie dem Café kam, desto wahrscheinlicher erschien es ihr, Clemens auf einem der Stühle zu ertappen wie er ihr nachspionierte. Sie suchte die Gesichter der Gäste ab. Ihr Freund war nirgendwo zu sehen.
Clemens offenbarte ihr weder seine Wut, dass sie ihm nichts von der Formel erzählt hatte, noch bat er sie darum, an den Treffen teilzunehmen. Ihre Befragung durch die Polizisten und sein falsches Alibi erwähnte er mit keinem Wort. Am Morgen sagte sie: „Ich gehe heute zum Computer Club. Du weißt ja, für das Projekt.“ Und er nickte nur und blickte nicht einmal von seinem Smartphone auf. Als sie die Küche verließ, meinte er: „Dass ich dich immer beschützen muss.“
Im Rausgehen zeigte sie ihm den Mittelfinger und hoffte, dass er es nicht gemerkt hatte. Clemens war ein ruhiger Charakter. Nur ein einziges Mal war er vor ihr ausgerastet. Und irgendwie hatte es ihr gefallen, ihn so zu sehen.
Hanne passierte das Café und bog nach rechts in einen Park. Ohne die fußballspielenden Jungs zu beachten, die mit Kotbeutel bewaffneten Hundebesitzer, welche sich ganz auf das Hinterteil ihres Tieres konzentrierten und die alten Männer, die mit Brottüten gegen das „Bitte nicht füttern“-Schild vor dem Ententeich rebellierten, drehte sie eine Runde durch die blühende Anlage und kehrte schließlich zurück in die Auguste-Viktoria-Straße. Ihr Gehirn fühlte sich eigenartig leer an. Sie drückte „BCC“, es surrte und sie lief hinein. Der Boden war mit weißem und rotem Marmor ausgelegt, und die Briefkästen hatten goldene Klappen und Messingschilder. Nur am Briefkasten des BCC klebten einige mit Tesafilm befestigte Zettel mit Namen. „Aldermann“ las sie im Vorbeigehen und daneben „Ballhorn“. Erst im zweiten Stock, fiel ihr schlagartig ein, woher sie den Namen Ballhorn kannte. Konnte es sein, dass der ermordete Felix Ballhorn hier eine zweite Wohnung hatte? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Oder besaß rein zufällig jemand beim BCC denselben Namen? Es erschien ihr reichlich unwahrscheinlich, denn Ballhorn war ein seltener Nachname. Möglicherweise lief sie gerade in die Arme seines Mörders, dachte Hanne, doch da erspähte sie Jakob lächelnd an der Schwelle seiner Wohnung. Es war zu spät, um kehrtzumachen.