Читать книгу Das Erwachen der Formel - Julius van Caspar - Страница 7
05 Rede
ОглавлениеHanne trat ans Pult und sortierte ihre Notizen vor sich, bis sich eine erwartungsvolle Stille über den verfallenen Hörsaal legte. Sie sog die Luft des ehemaligen Instituts für Anatomie noch einmal tief ein, bevor sie begann. Es roch modrig und nach Baustelle.
„Als Kind durfte ich manchmal mit meinen Eltern die Nachrichten gucken. Ich habe den Mann vor der blauen Wand nie verstanden. Warum kann es keinen Frieden geben, und warum können nicht alle genug zu essen haben, habe ich meine Eltern damals gefragt. Sie haben gelacht und geantwortet: Das ist kompliziert. Und dann haben sie weiter Fernsehen geglotzt. Aber so kompliziert ist das nicht: Unsere Welt ist krank. Jedes Kind versteht das. Wir sitzen heute in dieser verlassenen Universität, weil wir das ändern wollen. Weil wir wissen, dass wir es ändern können! Weil es unsere Verantwortung ist, endlich zu handeln. Weil es an der Zeit ist, alles neu zu denken. Für einen radikalen Umsturz.“
Hannes Stimme bebte vor Aufregung. Mit jedem Satz beruhigte sich ihr Herzschlag. Ihr war, als könnte sie sich von oben beobachten, während sie unten am Pult stand. Jakob Aldermann lächelte sie an, Beate hatte ihr Strickzeug gezückt, und Manfred klappte sein Messer mechanisch auf und zu.
„Unsere Demokratien sind fleischlose Hüllen. Sie sind Huren der Industrie, der Banken und der Geheimdienste. Unser System schafft Ungerechtigkeit, Elend und Konflikte. Klar, es ergibt alles irgendwo Sinn. Es kann dir immer jemand schlüssig erklären, warum die Dinge so sind, wie sie sind und nicht anders sein können. Doch das sind Lügen der Eliten. Wir können die Welt verändern! Ja, dieses System funktioniert, aber es funktioniert nicht gut. Manchmal ist das einzig Richtige, die Gesetze zu brechen.“
Ein Knirschen ließ Hanne innehalten. An der Schwelle zum Hörsaal stand ein bekanntes Gesicht. Sie brauchte einige Momente, bis sie es zuordnen konnte. Es war der merkwürdige Mann, der ihr im Blumenladen begegnet war. Um seinen Hals hing ein Fotoapparat. Er machte einige Schritte auf sie zu und wippte unsicher mit dem kleinen Kopf. Ihr Blut pochte an die Schläfen.
„Setz dich zu den anderen“, meinte Hanne, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
„Wie heißt du?“
„Ago“, meinte er trocken.
„Ich bin zufällig vorbeigekommen und wollte eigentlich nur ein paar Fotos von dem Institut machen.“
Er deutete auf seine Kamera. Mit seiner enormen Körpergröße schien er viel zu lange Beine für die Stuhlreihen zu haben. Trotzdem quetschte er sich umständlich zwischen die Bänke. Seine Miene versteifte sich in demselben unentschiedenen Ausdruck, der Hanne schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen irritiert hatte. Nur seine Pupillen schienen jedes Detail seiner Umwelt gierig einzusaugen.
Sie wühlte in den Blättern vor sich und das Knistern des Papiers kam ihr unendlich laut vor.
„Also, wo war ich? Formel. Dummheit der Masse. Moment.“ Sie räusperte sich und begann weiter aus den Notizen vorzulesen, bis die zweifelnden Stimmen in ihrem Kopf verstummten und nur noch die eigenen Worte darin widerhallten.
„Die Welt ist global geworden. Wir können jederzeit mit jedem kommunizieren. Und dennoch errichten Menschen Mauern zwischen Nationen, bringen sich gegenseitig um, lassen Flüchtlinge an ihren Grenzen verrecken, schreiben einander vor, wie sie zu leben haben, wen sie zu lieben haben, und zanken sich über Religionen, die alle das Gleiche aussagen und merken nicht, wie die Banken ihr Geld entwerten. Lasst mich eines von Anfang an klarstellen: Menschen sind Idioten. Sie sind Volldeppen. Trottel. Arschlöcher. Besonders in größeren Gruppen. Sie sind dumm, leicht beeinflussbar, emotionale Wracks und fehlgeleitet. Mach ihnen Angst und sie geben freiwillig alle Freiheitsrechte ab. Gib ihnen ein Feindbild und sie werden dir bedingungslos folgen.“
Jakob flüsterte seiner Begleiterin kichernd etwas zu. Hanne schlug ihren Fuß gegen das Pult und es war wieder ruhig. Sie rückte ihre Brille zurecht und las weiter, während ihre Stirnfalten auf- und abtanzten.
„Ihr fragt euch vielleicht: Was ist die größte Dummheit dieser außerordentlich dämlichen Menschen? Größer noch als ihre Arroganz, ihre Weinerlichkeit und ihr Narzissmus? Es ist ihr Nationalismus. Nationalismus hat uns nichts als Leid gebracht und tut es immer wieder. Meiner Meinung nach gibt es nur eine Möglichkeit, diese größte Dummheit der Menschen zu brechen.“
Hanne hielt kurz inne.
„Lasst uns die Nationalstaaten endlich abschaffen! Jeden Einzelnen und ein für alle Mal. Wer braucht Grenzen in einer globalen Welt, wenn sie jedem, überall die gleichen Chancen einräumen würde? Reichen euch Fußballclubs nicht? Da kann man sich auch kloppen und zusammen stumpfe Lieder singen.“
Einige kicherten. Sie registrierte wie Ago unauffällig sein Handy über die Tischkante hob und mehrmals darauf drückte. Schließlich steckte er es zurück in seinen Rucksack und für einen kurzen Augenblick blitzte etwas Metallisches hinter dem Reißverschluss hervor. Hanne beschloss nicht weiter darüber nachzudenken.
„Die Formel macht Nationalstaaten überflüssig und vereinigt alle Menschen als ein Volk mit gleichen Rechten. Die Formel ist eine Plattform, die einen globalen Staat im Internet gründet. Die weltweiten User der Formel verbinden sich online über das Programm der Formel, eröffnen eigene Parlamente, wählen Minister und Regierungen, veranstalten Abstimmungen und verteilen das Geld gerecht, das sie selbst als Steuer in die Formel einzahlen. Die User der Formel erschaffen mit einem Mausklick einen globalen Staat ohne Grenzen, der Nationalstaaten überflüssig machen wird. Es gibt einen einfachen und plausiblen Grund, weshalb diese Vision einer Weltregierung, die schon Denker wie Kant, Lessing und Herder vor mir hatten, jetzt Wirklichkeit werden könnte: Das Internet.“
Bis auf das Getuschel von Jakob und Ronja gab es keine Regung in ihrem kleinen Publikum und langsam kam die Nervosität in Hanne zurück. Ago schien unter dem Tisch etwas zu tippen und schüttelte immer wieder den Kopf. Eine Sekunde dachte sie darüber nach, ihn rauszuwerfen, konzentrierte sich aber schließlich wieder auf ihre Rede.
„Doch die Formel will keine globale Demokratie erschaffen. Sie ist eine globale, konstitutionelle Monarchie. An der Spitze der Formel steht ein digitaler Monarch. Die Formel gibt uns hitzköpfigen und kurzsichtigen Menschen nicht die absolute Macht. Wer immer sich der Formel anschließt, akzeptiert das System der Formel, ihr Programm, als seinen einzigen und allmächtigen Herrscher. Die Formel besitzt eine künstliche Intelligenz, die darauf programmiert ist, eine gerechte und glückliche Gesellschaft zu erschaffen, die sich nicht selbst vernichten kann – so wie wir Menschen das gerne tun. Wir haben alle etwas Dunkles in uns. Jeder hat etwas gut zu machen. Menschen sind fehlbar. Macht korrumpiert. Die Formel wird unser digitaler Anführer. Sie entscheidet: Wer kriegt was und warum. Die Menschenrechte stehen unlöschbar in ihrem Code. Sie ist der moralische Kompass, der Gesellschaftsvertrag, den wir als Menschen direkt miteinander schließen für einen globalen Staat.
Wir schaffen Nationen ab und damit die Kriege. Wir verpflichten die Menschen zum gerechten Wirtschaften, weil die Formel ihr Geld automatisch umverteilt, sobald sie zu große Ungerechtigkeit registriert. Wir retten die Natur, weil das Gehirn der Formel Umweltwerte misst und Industrien abstraft, wenn sie unserem Lebensraum schaden. Wer sich auf diese Einschränkungen einlassen kann, darf Bürger der Formel werden. Nur wenn der Mensch versagt, greift der automatische Monarch ein: Die Formel.“
Jakob und seine Begleiterin Ronja fingen an zu klatschen. Hanne bat sie mit der Hand um Ruhe. Noch war die Rede, an der sie Monate gearbeitet hatte, nicht zu Ende.
„Viele werden jetzt sagen: Klar, das klingt interessant, doch so ein radikaler Neubeginn lässt sich niemals erreichen. Und ja, ich habe weder Waffen noch das Geld welche zu kaufen. Ich brauche sie auch nicht! Das Internet gibt uns, dem Volk, eine riesige, weitgehend ungenützte Macht. Wir können uns verbrüdern zu Millionen – losgelöst von nationalen Grenzen. Wir User sind die mächtigste Armee der Erde. Wir können dafür sorgen, dass ein globaler Staat aller Menschen entsteht – unter der Herrschaft eines vernünftigen Prinzips. Das Mittel dazu ist ziviler Ungehorsam und Gewaltfreiheit. Danke Gandhi und danke Thoreau.
Ein Staat ist nur mächtig, solange er Geld hat. Ein Staat ohne Geld ist handlungsunfähig. Der größte Nutzen eines Staates ist, dass er Geld von seinen Bürgern sammelt und verteilt, damit wir in einer sicheren Umgebung leben. Wenn ein Staat kein Geld mehr hat, ist er obsolet. Unsere heutigen Staaten müssen den größten Teil des Geldes, das wir ihnen geben, als Schulden an die Banken zahlen. Unsere Steuern stärken nicht die Bürger, sondern das Kapital. Deshalb müssen wir unser Geld einem neuen System geben. Die Formel sorgt für eine ideale Verteilung des Geldes, ohne Schulden, Korruption und Krieg.
Am Anfang existiert die Formel neben den Nationalstaaten. Die Bürger der Formel zahlen eine geringe Steuer an unser System und erhalten dafür Vorteile, wie eine Krankenversicherung. Je mehr Menschen sich der Formel anschließen, desto mächtiger wird das unsichtbare Netz der Formelbürger, das sich schleichend um die Nationalstaaten schlingt, bis es sie von innen zersetzt. Verwehrt der falschen Macht euer Geld und eure Dienste und gebt es einem System, das sich euch anpasst.
Sorgen wir dafür, dass unsere Kinder einmal in den Nachrichten keine Kriege, Flüchtlingstote und Zerstörung sehen. Sorgen wir dafür, dass unsere Kinder nicht mehr stolz auf ihre Nationen sein werden, sondern stolz auf ihren Planeten. Die Zukunft gehört denen, die handeln! Lasst uns alle vereinen. Fo fo formula!“
Hanne reckte ihre Faust in die Luft und schrie noch einmal.
„Fo fo Formula!“
Eine schreckliche Stille breitete sich vor ihr aus. Sie senkte die Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz hinten hörte sie Manfred husten. Oder war es ein Lachen? Plötzlich fing Beate an zu applaudieren. Jonas klopfte auf seine Bank und auch Jakob und Ronja klatschten erst zögerlich und dann immer lauter in ihre Hände. Als der Applaus abschwoll, meldete sich Manfred lächelnd.
„Transformation“, meinte er, während er an einer Zigarette nuckelte und eine weitere Weizenbierdose aus seiner Latzhose fischte. „Die Gesellschaft hat sich desaströs verändert, ohne es selbst zu merken, da stimme ich dir zu.“ Er ließ die Dose zischen und nahm einen Schluck. „Doch glaubst du wirklich mit Computern die Welt retten zu können? Wieso können nicht die Menschen selbst für Umverteilung und Umweltschutz sorgen? Wieso brauche ich dafür ein solches Formel-Programm? Und wer führt den Diskurs darüber, was die Gerechtigkeit ist, von der du sprichst? Ab welchen Prozentzahlen fängt sie an? Gebt einfach mal jemandem wie mir einen Euro. Das würde mehr transformieren.“
Er lachte laut, als hätte er einen Witz gemacht, und riss dabei sein riesiges Maul auf.
„Ja, warum willst du das machen?“, rief Ago dazwischen.
„Weil Menschen versagen. Immer wieder. Es liegt in ihrer Natur. Sie sind nicht fähig, sich zu einigen und Frieden zu wahren. Ich will es wieder gut machen“, sagte Hanne. „Ich glaube, was uns fehlt, ist eine Utopie. Eine echte Vision von der Zukunft. Demokratie, Kommunismus, Monarchie und auch der globale Kapitalismus. Es ist alles gescheitert. Und jetzt gibt uns die Technik endlich die Chance auf eine bessere Gesellschaft. Computer sind keine Feinde, wie unsere Großväter dachten, sondern nützliche Werkzeuge. Eine moderne Utopie muss digital sein.“
Plötzlich stand Jakob Aldermann auf und schritt langsam zum Pult, neben sie.
„Ich mag das“, sagte er und musterte ihre Aufzeichnungen und dann sie.
„Ich mag wie du redest. Deine Begeisterung. Den Wahnsinn. Ich mag, was du sagst. Die Idee ist umwerfend: Einfache Menschen wie du und ich erschaffen ihren eigenen, globalen Staat im Internet. Und sie ordnen sich einem moralischen Prinzip, einem intelligenten Programm unter. Ein Staat im Internet ist hoch riskant und anfällig für alle Arten von Manipulation. Der Code müsste Open Source sein, eine Blockchain, mit eigenem Geldsystem und ohne jeglichen Fehler. Niemals dürfte das Vertrauen der Bürger in die Technik und das Programm der Formel erschüttert werden. Du bräuchtest ein Team der besten Programmierer, die sich darum kümmern. Eine große Community, die den Code ständig überwacht. Einen Ort, an dem die hochsensiblen Daten von Millionen von Bürgern sicher verwahrt sind, gut verschlüsselt. Das ist ein Mammutprojekt. Fast nicht zu bewältigen. Eigentlich vollkommen unmöglich.“
Er schmunzelte sie an.
„Und deshalb würde ich gerne bei dir mitmachen.“
Jakob Aldermann legte seinen Arm um ihre Schultern und sie roch, dass er Parfüm aufgelegt hatte. Etwas blumiges, herbes, das sie an schlechten Sex erinnerte.
„Und du bist also der Typ, der ‚die besten Programmierer‘ hat und das ‚Unmögliche‘ möglich machen kann? Ganz schön beeindruckend, der Herr“, sagte Hanne etwas abschätzig und stieß seinen Arm weg. Er musste lachen.
„Einer der Besten steht gerade vor dir. Und ja, da lässt sich sicher jemand von uns finden, der die Formel programmieren könnte.“
„Von euch?“
„BCC. Blind Copy Club. Wir sind eine bescheidene Gruppe von – nun ja, wir werden gerne Netzaktivisten genannt, Hacker oder auch Kriminelle. Im Grunde sind wir ganz normale Mädchen und Jungs, die sich mit Computern auskennen und die Vision eines „freien“ Internets noch nicht ganz aufgegeben haben.“
Seine weiten Pupillen leuchteten tief schwarz.
„Ich hatte wirklich gehofft, dass ein Programmierer zu dem Treffen kommt“, sagte sie und konnte ihr Lächeln nicht mehr verbergen.
Die anschließende Diskussion zog sich über zwei Stunden. Jakob schlug vor, dass ein neues System eine neue virtuelle Währung bräuchte, die völlig unabhängig von Börsenkursen und Kryptowährungen wie Bitcoin sein müsste. Manfred wurde mit der Zeit immer stiller und konzentrierte sich auf das Drehen und Rauchen von Zigaretten, die er mit seinem Klappmesser stutzte. Nur dann und wann lachte er unvermittelt auf oder stellte eine komplizierte Frage, die niemand verstand. Ago dagegen blieb weitgehend stumm. Unter ihm kippte der offene Rucksack nach hinten und etwas Hartes schlug auf den Boden. Er fasste hinunter, griff sich das matt glänzende Teil und steckte es unbemerkt zurück. Der leblose Ausdruck auf seinem Gesicht verfestigte sich.
„Ich kann einen Auftritt in der Universität organisieren“, rief Jonas Simon überschwänglich und versprach, bei seinen Kommilitonen für die Idee zu werben, Flyer zu drucken und die Formel mit seinen Wirtschafts-Kenntnissen zu unterstützen.
Am Ende ergriff Jakob das Wort und lud die Gruppe für das kommende Wochenende in das BCC-Büro ein. Anschließend leerte er die Handys aus der strahlensicheren Tasche, suchte sein Smartphone und das seiner Begleiterin Ronja und verschwand wortlos, mit einem Winken aus dem Hörsaal. Manfred hievte sich ebenfalls aus der Bank und kam nach vorne gestampft. Hanne kramte einige Münzen aus ihrer Hosentasche und hielt sie ihm entgegen. Er begutachtete die vier Euros in ihrer Hand und nahm sie schulterzuckend.
„Ich brauche keine Spende von dir. Nichts für ungut, Mäuschen. Ich fand deinen Vortrag gut. Nur jedes komplizierte System enthält Fehler und unvorhergesehene Eigenschaften, glaub mir.“
Er zwinkerte ihr zu und verschwand in den Gängen. Hanne blickte ihm unschlüssig nach. Wenn ich ein Mäuschen bin, dann bist du eine fette Ratte, dachte sie.
„Das war unglaublich“, meinte Beate, die sich neben sie gestellt hatte. „Wirklich inspirierend. Ich weiß, ich bin nicht mehr ganz so cool, wie der Rest hier. Aber den Häkelkurs werde ich jetzt nicht mehr vermissen.“
„Warum den Häkelkurs?“, fragte Hanne gedankenverloren.
„Na ich bin rausgeflogen. Aber jetzt habe ich ja diese Gruppe. Unter uns: Ich bin für alles zu haben und kann gerne von zu Hause ein paar Aufgaben übernehmen, wenn mein Karl in der Kneipe ist.“ Sie zog einen Schminkspiegel aus ihrer Tasche und puderte routiniert ihre Wagen ab. „Die Aufregung. Da fange ich immer an zu glänzen“, meinte sie erklärend.
Hanne starrte durch sie hindurch. Ein Gedanke ließ ihr keine Ruhe, und sie konnte dem Gespräch kaum folgen. Doch aus Höflichkeit fragte sie weiter.
„Und warum bist du aus dem Häkelkurs geflogen?“
„Ach, dumme Geschichte.“ Beate winkte ab.
„Habe im Streit den Pullover meiner Freundin angezündet.“ Sie lachte verlegen auf und Hanne ließ sich anstecken. Plötzlich löste sich Hanne aus dem Gespräch und rannte aus dem Hörsaal. Sie überholte Manfred, der gerade hustend in seiner Schlafkammer verschwand und erreichte Jakob, als er mit Ronja auf die Wiese vor dem Institut trat.
„Warte! Ich muss noch eine Sache wissen. Gestern Morgen im Chat? Bist du Deroga17?“, rief sie und bremste nach Luft schnappend vor ihnen.
Jakob Aldermann hielt ihr sein überhebliches Lächeln entgegen.
„Da kann ich dir nicht weiterhelfen. Ist auf jeden Fall ein toller Chat-Name. Klingt nach einem tapferen Ritter. Oder eher einem pubertären Ritter. Ich hieß früher im Chat allerdings Beach-Lady-13 und hab schmierige Typen verarscht.“
Er lachte und hob die Hand zum Abschied. „Ich muss jetzt wirklich los. Bis bald, Hanne. Wir hören voneinander!“ Ronja folgte ihm und drehte sich noch zweimal um, bevor sie hinter einer Häuserecke verschwanden.
Auf dem Rückweg zum Hörsaal kamen ihr Jonas und Beate entgegen, die noch immer diskutierten. Sie umarmte beide, bedankte sich für ihr Kommen und eilte den Gang weiter. Inzwischen dämmerte es, und in das von Sträuchern und Bäumen umwucherte Institut drang nur noch wenig Tageslicht. Hanne bog zu früh ab und merkte erst als sie gegen einem Seziertisch stieß, dass sie in einen falschen Teil des Instituts gelaufen war. Durch einen Torbogen konnte sie in den ehemaligen Kühlraum sehen. Die quadratischen Leichenfächer waren verriegelt, als würden dahinter noch immer die toten Körperspenden rotten. Sie machte kehrt, und irrte durch die verlassenen Gänge, bis sie vor einer Tür ein Pappschild mit der Aufschrift „Manfred“ erkannte und von hieraus zurück in den Hörsaal fand. Als sie den Saal betrat, beugte sich Ago gerade über das Pult und blätterte in ihrem Notizbuch.
„Bist du bescheuert?“, fauchte sie ihn an und rannte auf ihn zu.
„Entschuldigung“, meinte Ago und machte eilig einige Schritte zurück.
Hanne schlug ihn beiseite.
„Schon mal etwas von Privatsphäre gehört, du Vollidiot? Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er entschuldigte sich nochmals und huschte mit eingezogenen Schultern zu seinem Rucksack, sodass Hanne ihr Fluchen schon wieder leidtat.
„Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du mit der Formel nichts anfangen kannst? Und wie hast du die Seite gefunden?“, fragte sie, nachdem sie ihre Sachen eingepackt hatte.
Ago wühlte stoisch in seinem Rucksack – hielt einen Moment inne – ratschte den Reißverschluss zu und ging langsam zur Tür.
„Sollen wir zusammen zur Bahn?“, fragte er und sie willigte ein.
„Du hattest was von einer Formel gemurmelt. Im Blumenladen. Und ich habe auch schon mal in einem Forum darüber gelesen“, fing er an. „War nicht so schwer das im Internet zu finden. Und ich fand die Texte auf dem Blog wirklich interessant. Aber ich glaube nicht, dass so etwas funktionieren kann. Manfred hat Recht: Warum sollten wir uns einem Programm unterordnen, das uns regiert?“
„Und dann hast du mich angeschrieben. Im Chat?“ Unterbrach ihn Hanne. „Wie?“, fragte Ago.
„Na, du hast dir ein anonymes Profil gemacht und mit mir gechattet, oder?“
„Ich verstehe nicht, was du meinst. Es tut mir jedenfalls leid, dass ich etwas über dich recherchiert habe. Ich fand dich spannend dort im Blumenladen. Die Formel klang irgendwie verrückt. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich eigentlich gehofft…“
Er stockte und half ihr aus dem Fenster des Instituts zu klettern. Ein kühler Wind stellte sich ihnen entgegen.
„Was hattest du gehofft?“, fragte Hanne. Die Wiese unter ihren Sohlen war schon feucht von der sich ankündigenden Nacht.
„Dass wir ein bisschen Zeit haben, miteinander zu sprechen. Ich würde dich zum Beispiel gerne auf einen Kaffee einladen. Auch wenn du einen Freund hast und vielleicht gerade andere Probleme. Ich würde dich gerne kennenlernen. Etwas besser, verstehst du?“
Hanne drückte ihren Körper durch das Loch in der Hecke.
„Ne, tut mir leid, das verstehe ich nicht. Nichts für ungut, Ago.“
Die Bahn rauschte in die Haltestelle. Hanne warf Ago eine knappe Verabschiedung zu und rannte so schnell sie konnte in Richtung des Zuges. Im letzten Moment sprang sie durch die Tür und Ago, der am Gehweg stehen geblieben war, entfernte sich immer weiter. Woher will er wissen, dass ich einen Freund habe, dachte sie noch, als sich der Tunnel um die Bahn schlang.