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07 Computer

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Jakob Aldermann lag mit ausgestreckten Beinen auf der Chaiselongue im Besucherraum. Gähnend scrollte er durch den Quellcode der neuen Website. Wie üblich hatte er keine Fehler gemacht. In der Mitte des riesigen Zimmers gruppierten sich zwei Designersofas um einen geschwungenen Marmortisch. An den Wänden hingen Bildschirme im Heimkinoformat, und neben dem offenen Kamin ragte ein metallenes Bücherregal eingerahmt von zwei Olivenbäumen. In der Ecke war eine gläserne Bar aufgebaut und daneben schob sich die Chaiselongue ins Sichtfeld. Es war der größte und schönste Raum der Altbauwohnung. Jakob gefiel es, wenn seinen Gästen vor Neid die Spucke wegblieb. Doch ihn ödete das Zimmer an. Jeder Investmentbanker konnte sich das leisten. Es war nichts Besonderes. Er schmiss das Tablet beiseite und stellte sich ans Fenster. Vielleicht würde es uns wirklich besser gehen, wenn wir alle akzeptieren, dass wir nur Idioten und wilde Tiere sind, dachte er. Hanne Bergstrom hatte das verstanden. Zuerst fand er ihren Blog amüsant, ihre Texte unterhaltsam. Doch der Vortrag im verlassenen Institut für Anatomie hatte etwas mit ihm gemacht. Was sie sagte, klang groß. Es klang nach Zukunft. Nach Macht und Bedeutung. Seit Jahren hatte er auf eine solche Gelegenheit gewartet. Die Formel könnte die Probleme des BCC in Luft auflösen. Und gleichzeitig würde er mit dem Programm Geschichte schreiben. Ein paar Anpassungen im Code würde sicherlich niemand merken. Besonders Hanne nicht. Sie war eine starke Frau, aber einfach zu manipulieren. So wie alle. Etwas an ihr erregte ihn. Wahrscheinlich war es ihre Dominanz, ihre Energie, überlegte er. Eine Trophäe, die sich nicht so schnell erbeuten lassen würde wie Ronja. Er schmunzelte noch immer als es klingelte.

Hanne Bergstrom begrüßte Jakob mit einer Umarmung. Parfüm trug er nicht, dafür steckte er in dem gleichen Rollkragenpullover von ihrem vergangenen Treffen. H&M, billige Kinderarbeitsmode, dachte sie, sagte aber nichts.

„Jonas ist schon da“, meinte er und bat sie herein. „Wollte noch jemand von der Konferenz kommen?“

Hanne folgte ihm durch den breiten, fensterlosen Altbauflur mit Fischgrätparkett. Von der Decke baumelten kreisrunde Glühbirnen mit geschwungenem Draht im Inneren, die den Gang in Licht tauchten, das schläfrig machte. Die Wände waren hell gestrichen, genau wie die abgehenden Kassettentüren.

„Beate und Ago haben sich bei mir angekündigt. Nur Manfred, unser Technikgegner, wollte mir seine Handy-Nummer nicht verraten.“ Sie lachte. „Sag mal, was ist das eigentlich für ein Name, der auf eurem Briefkasten steht?“

Jakob blieb stehen und fasste sie an den Schultern.

„Ago kommt auch?“, fuhr er sie an, ohne ihre Frage zu beachten.

„Ich habe kein gutes Gefühl bei ihm. Besonders nach dem, was du erzählt hast. Er weiß zu viel über dich. Wenn ich darüber nachdenke, war alles an ihm falsch und aufgesetzt. Er ist nicht zu unserem Treffen gekommen, weil er sich für die Formel interessiert. Was glaubst du, weshalb war er da? Um Fotos zu machen?“

Hanne sah ihn misslaunig an.

„Ich glaube, er war auf der Veranstaltung, weil er ein Cop ist“, redete er weiter. „Wahrscheinlich vom BND.“

„Was sollten die von uns wollen?“, fuhr ihn Hanne an.

„Die Formel ist nicht so harmlos wie du denkst. Dem Staat wird das nicht gefallen. Wir müssen vorsichtig sein.“ Jakob spielte mit dem Ring in seinem Ohr.

„Soll ich Ago also absagen, oder was willst du?“

„Wir werden ihn beobachten. Er wird versuchen, dich auszufragen. Ich hoffe, du weißt, dass alles was hier passiert vertraulich ist!“

„Es ist ein Kunstprojekt“, entgegnete Hanne. „Ich sage ihm, dass die Formel nur ein Kunstprojekt ist. Und den nächsten Termin machen wir ohne ihn. Einverstanden?“

Jakob ging weiter, als wäre nichts geschehen.

„Dahinter liegen unsere Büros“, seine Stimme hatte wieder ihren angenehm weichen Klang.

„Man braucht seine Ruhe zum Programmieren. Oder zumindest seine eigene Playlist. Manche von uns wohnen hier auch. Aber meistens nur vorübergehend.“

„Ganz schön groß eure Hütte.“ Hanne deutete auf den langgestreckten Flur.

„Bad und WC sind ganz hinten, und hier ist unser Besucherraum.“ Jakob blieb stehen und winkte sie zu der angelehnten Tür. „Komm, ich muss dir dringend etwas zeigen. Aber erst: Handy in die Strahlenbox!“

Das Zimmer hatte die Ausmaße eines Tennisfeldes, mit vier Meter hohen Stuckdecken und ausladenden Fenstern, die zu einem Balkon mit Sicht auf den begrünten Hinterhof führten. Auf einer Couch entdeckte sie Jonas, der in einem Magazin mit Edward Snowden als Titelbild blätterte. Gegenüber tippten Ronja und ein ihr unbekannter Mann versunken in ihre Tablets.

„Willst du was trinken?“, fragte Jakob und lief an die Bar. „Ronja kennst du ja schon. Und daneben ist Marc. Einer unserer besten Entwickler.“

Ronja stand auf, um sie zu umarmen, doch Hanne streckte ihr die Hand entgegen, wodurch sie sich erst die Hände reichten und ihre Körper daraufhin ungeschickt aneinanderdrückten. An Ronjas linkem Unterarm zeichneten sich mehrere weiße Narben ab. „Von früher“, sagte Ronja, als sie Hannes Blick bemerkte. Bei Jonas klappte die Umarmung besser. Marc hatte einen festen Händedruck und Arme wie Boxsäcke, als würde er mehr an Fitnessgeräten arbeiten, als am Computer. Er wirkte, wie einer dieser sonderbaren Menschen, die sich bei Gruppenfotos vor alle auf den Boden legen. Einer mit den schlechtesten Ideen, und der lautesten Stimme, dessen größte gedankliche Leistung es war, sich die Spind-Nummer im Fitnessstudio zu merken. Hanne konnte sich kaum vorstellen, dass er tatsächlich programmierte.

„Ich würde ein Bierchen nehmen“, antwortete sie Jakob, der an der Bar wartete. Er klatschte in die Hände und kam ohne Flasche zu ihr zurück.

„Wie viele Banken musstet ihr ausrauben, um euch so eine Bude leisten zu können?“ Hanne wackelte amüsiert mit dem Kopf, als sie plötzlich etwas an der Schulter stupste. Zwei schwarze Kameralinsen blinkten ihr entgegen. Hinter ihr war ein kleiner Roboter gefahren, kaum die Größe eines Schuljungen, mit Rollen als Füßen, einer Flasche in der einen Aluminium-Hand und einem Tablett samt gefülltem Bierglas in der anderen. Sie griff sich das Glas und musste wieder lachen.

„Das war also was du mir zeigen wolltest?“ Sie grinste und nahm einen Schluck.

„Dass du einen kleinen Roboter hast, der Getränke bringen kann?“ Sie verschluckte sich vor Lachen und fing an zu husten.

Jakob wies auf die Bar, woraufhin sich der Roboter piepsend nach hinten trollte. „Komm schon, Steve hört aufs Wort. Und er ist wirklich ein netter Kerl“, meinte er lachend.

„Nein, ich wollte dir etwas viel Besseres zeigen. Sehr viel besser.“

„Was ist denn jetzt mit diesem Namen an eurem Briefkasten? Woher kennst du Ballhorn?“, bohrte Hanne nach. Bevor er antworten konnte, klingelte es und Jakob verschwand im Flur. Er kam zurück, begleitet von Beate und Ago. Als Jakob das Treffen eröffnen wollte, läutete es erneut und Manfred stand in der Tür. Niemand wusste, wie er die Adresse gefunden, oder wer ihm den genauen Treffpunkt verraten hatte, trotzdem freuten sie sich, sein breites Grinsen und das Piratentuch wieder zu sehen.

„Mein Institut ist zwar etwas weitläufiger, aber gar keine schlechte Residenz, Jakob. Fehlt nur etwas Chaos, ist ja alles so kacksteril hier“, brummte er und klopfte ihm auf die Schultern. „Ich hoffe, ihr wolltet nicht ohne euren Kapitän anfangen. Jetzt bin ich ja hier, Kinder.“ Ein paar lachten.

Er hielt Jakob fragend seinen Tabak hin und der zuckte zur großen Zufriedenheit von Manfred mit den Schultern. Manfred hatte ein neues Paar Latzhosen an. Trotzdem verbreitete er einen strengen Geruch.

Jakob klatschte zweimal in die Hände und der Bildschirm an der Wand sprang an. Er kramte ein Tablet unter dem Sofa hervor und stellte sich vor die Gruppe.

„Ich freue mich wirklich sehr, dass ihr alle gekommen seid. Vor allem freue ich mich, dass du Hanne hier bist. Wir Hacker sind Punks. Cyhperpunks um genau zu sein. Wir haben wenig für den Staat übrig und viele glauben an eine libertäre Gesellschaft wie Ayn Rand sie uns versprochen hat. Je weniger Staat desto besser. Doch Hanne, du bist kein Hacker. Du willst einen Staat erschaffen, der die Menschen kontrolliert, für sie sorgt und sie vereint. Du willst einen mächtigen Staat. Ohne die Möglichkeit, diese Macht zu missbrauchen – da an der Spitze eine Formel, ein Programm steht. Ich denke, wir brauchen einen starken Staat. Doch einen, dem wir vertrauen können! Und unserem heutigen Staat können wir nicht mehr vertrauen.

Ich habe Hanne versprochen, dass ich die besten Programmierer kenne und die Möglichkeiten habe, die Formel umzusetzen. Leider hassen einige Hacker die Idee – mehr als ich gedacht habe. Sie glauben, wir erschaffen ein datenfressendes Monster. Ich glaube, dass keine soziale Revolution je ohne Risiken war. Einen unserer Programmierer konnte ich allerdings von der Formel überzeugen. Marc Schenk ist einer der schnellsten und klügsten Coder, die ich kenne.“

Marc erhob sich aus dem Sofa und hüpfte nach vorne neben Jakob Aldermann. Er war ungefähr einen Kopf kleiner, dafür muskelbehangen, ohne Bauchansatz, trug ein farbloses T-Shirt mit V-Ausschnitt und hatte blonde Locken. Jakob bat ihn sich wieder zu setzen. Während er weitersprach, untersuchte Manfred die kleinen Kartoffelchips-Tüten auf dem Tisch und ließ immer wieder eine in seinen Rucksack fallen. Ago beobachtete ihn, ohne eine Miene zu verziehen. Er drehte sich zu Hanne und als sich ihre Augen trafen, sah er weder weg, noch lächelte er. Da lag etwas Dumpfes und Düsteres in seinen Augen, als drückten ihn seine Gedanken hinunter in die tiefsten Täler.

„Marc, Ronja und ich werden das Gerüst der Formel erstellen Als erstes brauchen wir, denke ich, eine sichere Internetseite, auf der Interessierte diskutieren können. Eigentlich ist das nicht schwer. So etwas habe ich mit 14 programmiert. Allerdings arbeitete ich damals mehr als eine Nacht dafür.“

Er drückte auf das Tablet und auf dem schwarzen Bildschirm erschien ein weißer, eingeklammerter Schriftzug:

( THE FORMULA )

Er klickte auf das Logo und es verwandelte sich in ein zweites Wort, bevor es verschwand.

= PEACE

Daraufhin tauchte ein Text über die Grundzüge der Formel auf. Kopiert aus Hannes Blog. Und darunter hing eine Anmeldemaske.

„Diese Seite ist noch nicht online, aber sie hat alle Funktionen, die wir für den Anfang benötigen. Lasst es mich demonstrieren.“

Hanne donnerte ihre Bierflasche auf den Marmortisch und erhob sich. Ihre Haut leuchtete und an ihrem Hals quollen die Adern nach außen.

„Hast du eigentlich irgendwas verstanden?“, fuhr sie Jakob an.

„Die Formel kannst du nicht einfach in einer Nacht programmieren. Wenn sich Leute dafür entscheiden sollen, musst du ihnen die Möglichkeit geben, sie mitzugestalten. Auf meinem Blog diskutieren sich die Leute die Finger wund, wie das Programm funktionieren könnte, und du baust es einfach. Klatscht es ihnen vor die Füße. Fresst oder sterbt?“

Jakob versuchte ihre Hände zu packen, doch sie schupste ihn weg und eilte zur Tür.

„Hanne, warte!“ Sie blieb auf der Hälfte des Weges stehen und drehte sich mit verschränkten Armen um.

„Es bringt nichts, tagelang nur zu reden, zu philosophieren. Wir brauchen etwas, das man ausprobieren kann.“

„Natürlich brauchen wir das. Deshalb bin ich zu euch gegangen. Aber ich will keine Alleingänge mehr!“ Hanne baute sich vor Jakob auf. „Wenn wir es nicht einmal schaffen, uns als Gruppe ordentlich zu organisieren und abzusprechen, wie sollen wir dann ein System entwickeln, mit dem sich Milliarden von Menschen organisieren?“

Jakob stimmte ihr zu. Er griff sich das Tablet und begann die Funktionen seines Prototyps zu erklären. Jeder, der sich auf der Formel anmelden wollte, musste die Grundsätze der Formel lesen und akzeptieren. Sie beinhalteten: Ein Bekenntnis zu den Menschenrechten und eine Erklärung als Formelbürger Steuern zu zahlen.

„Wer macht denn freiwillig mit, wenn man sofort was bezahlen muss?“, warf Ago ein. Seine Hände umklammerten die Schlaufe des schwarzen Rucksacks, ohne den er nicht aus dem Haus zu gehen schien. „Das ist doch schwachsinnig!“

„Ja, wir müssen bei der Registrierung vermerken, dass die Formel kostenlos ist“, fiel ihm Hanne ins Wort. „Wer längere Zeit Mitglied ist, bekommt eine E-Mail, dass er in Zukunft Steuern zahlen muss. Immer ein bisschen mehr, gemessen an seinem Einkommen.“

Im Herzstück der Formel vermisste Hanne noch das Meiste ihrer Idee. Es gab bisher lediglich die Möglichkeit zum Diskutieren, Gruppen und Parteien zu bilden und abzustimmen. Doch ihre Vision war es, einen ganzen Staatsapparat ins Internet zu legen. Es sollte in der Formel Gewaltenteilung geben, dezentrale Regierungen für verschiedene Regionen, Parlamente, eine Gesamtregierung, ein Weltparlament, Petitionen und die Möglichkeit für die Bürger jeden Schritt der Regierung zu überwachen. Die totale Transparenz. „Die Funktionsweise der Formel muss sich ganz an einer modernen Demokratie orientieren, mit denselben Häusern und Kontrollmechanismen. Diese Errungenschaften können wir nicht verleugnen“, rief Hanne, die schon wieder aufgesprungen war und einen Punkt nach dem anderen aufzählte, während ihre Stirnfalten auf und abtanzten. Marc schrieb widerwillig jede ihrer Ausführungen mit.

„Lasst uns starten mit einer Gesamtregierung und einem Weltparlament. Die Größe der Parlamente und Regierungen muss sich an der Größe der Regionen und der Zahl an Formelbürger, die dort leben, orientieren. Das heißt, bis jetzt wären die Parlamente noch sehr, sehr klein.“

„Darf ich dann Gesundheitsminister werden?“, fragte Manfred und lachte etwas Tabakrauch aus seiner Lunge. „Ich würde gerne eine Steuer für Nichtraucher einführen. Weil sie mit ihrem langen, ekelhaft gesunden Leben unsere Rentenkassen plündern.“ Hanne ignorierte ihn, andere lachten.

„Wir müssen die Formel intelligent machen. Sie muss ein Gehirn bekommen. Sie muss Ungerechtigkeiten aufspüren, Machtmissbrauch und eine Gefährdung unseres Lebensraumes. Dafür benötigt sie – aber nur sie – Zugang zu Millionen von Daten. Und das wird wohl der schwierigste Teil.“

Jakob unterbrach sie. „Die künstliche Intelligenz wird uns einige Zeit beschäftigen. Die restliche Plattform können wir dir in ein paar Tagen bauen. Gib uns, sagen wir, zwei Wochen. Dann steht der virtuelle Staat. Sollen wir diese erste Version hier trotzdem schon ins Internet stellen?“

Hanne lächelte ihn fragend an. „Von mir aus, aber auf welche Seite willst du das laden?“

„Auf dein Blog. Ich brauche nur deine Passwörter und schon schmückt dieses schicke Formel-Netzwerk deine Website.“

Hannes Hände begannen zu schwitzen und sie wandelte hektisch hin und her. „Stehe ich dann noch im Impressum als Inhaberin?“, meinte sie und Jakob brummte etwas, als sei es ihm gleichgültig.

Sie übernahm das Tablet und zog sich auf die Chaiselongue zurück. Seite für Seite klickte sie sich durch die Website. Sie las jedes Wort in ihrem Kopf laut vor, machte Notizen und überprüfte jeden Link.

Der Rest der Gruppe setzte sich auf den Balkon in die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Sie rauchten Zigaretten und reichten einen Joint herum, diskutierten, lachten über Manfreds Witze und seine wenig glaubwürdigen Anekdoten aus der „alten Commodore-Zeit“. „Manfred, du bist echt der Beste“, kreischte Beate, „du solltest in die Politik gehen!“ Ago stand etwas im Abseits, lachte mit, ohne selbst etwas zu sagen, und trank am schnellsten von allen.

Zwischendurch kam Manfred in den Besucherraum gestampft und packte einige Dosen aus der Bar in seinen Rucksack. „Umverteilung“, meinte er nur, als Hanne ihn dabei beobachtete und lachte. „Ich bin der singularische Robin Hood. Ich kümmere mich um Arme in der Einzahl. Um mich.“

„Bring mir lieber mal ein Bier, Manfred Hood“, meinte Hanne, ohne eine Miene zu verziehen. Nach einer Stunde reichte sie Jakob einen handgeschriebenen Notizzettel samt Passwörtern und Korrekturen. Die Gruppe johlte, Jakob brachte ihr ein Bier und kurz bevor die Sonne hinter der Häuserfassade verschwand, prosteten sie sich zu und tranken auf die Formel. Sie sprachen über Designs, neue Features auf der Seite, Einführungstexte und spannen, in der Zukunft sogar eine eigene Formel-Verfassung zu schreiben. Hanne begann ihre Mitstreiter immer stärker ins Herz zu schließen, nur Marcs anzüglichen Witze widerten sie an, genauso wie sein aufgepumptes Äußeres. Um den Frieden zu wahren, ließ sie sich nichts anmerken. Ago dagegen hatte sie fast schon vergessen, so unauffällig hatte er sich in die Gruppe eingefügt.

Jakob machte sich daran die Seite zu korrigieren und auf Hannes Website zu integrieren. Nach einer halben Stunde kam er zurück und grinste über beide Ohren.

„Wenn Sie soweit sind, Frau Formel?“ Hanne drückte ihn weg und winkte alle in den Gästeraum. Sie kontrollierte hastig die von ihr angemahnten Fehler und nickte Jakob zu.

„Auf drei schalte ich die Website online. Die erste Beta-Version der Formel“, sagte er und ließ seinen Finger dramatisch über dem Mousepad schweben.

Sie zählten hinunter und bei „Drei“ jubelten sie sich zu, fielen sich in die Arme und entkorkten eine Flasche Sekt. Ago saß allein auf der Chaiselongue und kramte in seinem Rucksack. Das Sektglas lehnte er ab. Marc startete seine Lieblingsmusik und Manfred wedelte ungeschickt mit den Hüften zu den Reggae-Klängen. In einem günstigen Moment flüchtete Hanne auf den Balkon.

„Und, was hältst du von der Seite?“, fragte Jakob Aldermanns Stimme, der ihr heimlich nach draußen gefolgt war.

„Ich finde sie großartig. Aber du musst das mit mir absprechen. Ist dir das klar?? Sonst funktioniert das nicht mit dem Vertrauen.“

„Du kannst uns Vertrauen“, meinte er und fühlte nach ihrer Hand.

„Und wenn du heute keine Lust mehr hast, nach Hause zu gehen, kannst du auch gerne hierbleiben. Dann gebe ich dir noch eine Führung durch unsere Büros.“

Hanne zog ihren Arm zurück.

„Ein anderes Mal vielleicht. Was arbeitet ihr eigentlich genau? Wie habt ihr so verdammt viel Geld gemacht, dass ihr euch diese Bude und einen Roboter leisten könnt?“

„Dies und Das“, antwortete Jakob gelassen. „Oft bezahlen uns Firmen, damit wir nach Schwachstellen in ihren Systemen suchen. Und sonst machen wir was eben anfällt.“

Hanne presste eine Zigarettenpackung aus ihrer Bluse und hielt eine Kippe an ihr Feuerzeug.

„Ich rauche nur zu ganz besonderen Anlässen. Tabakplantagen zerstören den Regenwald“, meinte sie und reichte ihm eine Zigarette. Sie bliesen den Rauch vor sich her und schauten in den spärlich beleuchteten Innenhof. „Und was hältst du von Ago?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir sollten ihn beobachten. Vielleicht gehst du mal mit ihm aus, um mehr zu erfahren. Ich wette, er hat ein Auge auf dich geworfen.“ Hanne lachte, ohne sich von dem Innenhof zu lösen.

„Warum sollte er ein Auge auf mich geworfen haben?“

„Na, weil du mit Abstand das schönste Mädchen hier bist.“ Sie legte ihre Hand auf seine Wange und küsste ihn kurz über den Mund, um ihn gleich danach eine Schelle zu verpassen. „Für das Kompliment und für den Alleingang.“ Von drinnen wummerte die Musik dumpf nach draußen und Agos Blicke fielen durch die Fensterscheibe auf das Paar.

„Dann schläfst du vielleicht doch hier?“, fragte Jakob und rieb sich lächelnd die Wange. „Ich hab einen Freund. Das weißt du doch.“

Plötzlich gab es einen lauten Knall und Beate stürzte schreiend zu Boden. Auf dem Parkett hatte sich ein Meer aus Scherben gebildet. Die gläserne Bar samt Flaschen und Gläsern war auf dem Boden zersprungen. Daneben lag Beate und aus ihrem Bein lief Blut. Hinter ihr fuhr der Roboterbutler Steve immer wieder gegen eine Wand.

Jakob gab Marc ein Zeichen die Musik auszuschalten und packte den Roboter am Hals, wo sich der Aus-Knopf befand.

„Ich hätte es wissen müssen. Ich habe ihn auf Sprachsteuerung programmiert. Er hat die laute Musik zusammen mit den Gesprächen nicht verkraftet.“

Ronja rannte ins Bad und kam mit Pflaster und Desinfektionsspray für Beate zurück und verarztete den Glasschnitt an ihrem Bein. Während Jakob in die Küche eilte, um Putzzeug zu holen, stützte sich Beate auf, humpelte zu dem Roboter und riss ihm eine Kameralinse aus dem Metallschädel. Sie drehte sich zur Gruppe und legte ihren Finger auf den Mund, während sie die Linse in ihrer Tasche verstaute. „Pssst“.

Als erster verließ Manfred das BCC-Büro. Das viele Bier hatte ihn ruhig und behäbig gemacht. Jonas brachte die hinkende Beate nach Hause und bald machte sich auch Ago auf den Weg zurück. Als Letzte verließ Hanne die Wohnung, bedankte sich überschwänglich bei Jakob und umarmte alle drei Mitglieder von BCC.

Beim Hinabsteigen der Treppen stolperte sie über eine Stufe und konnte sich gerade noch ans Geländer klammern. Das Treppenhaus drehte sich und schien in tausend pulsierende Punkte zu zerfallen. Vor den Briefkasten hielt sie kurz inne und studierte noch einmal angestrengt die Namensschilder. Es stand tatsächlich Ballhorn darauf. Sie hatte es sich nicht nur eingebildet.

Vor der Tür bemerkte sie Ago, der gerade telefonierte. Als er sie registrierte, zischte er noch ein paar eilige Worte in den Hörer und steckte das Gerät zurück in seine Tasche.

„Musst du auch zur U-Bahn?“ Hanne hakte sich bei ihm ein und ließ sich zur Station führen. Ihre Schritte wurden wieder fester und sie glaubte den Schwindel besiegt zu haben.

„Ago, Ago, aus dir soll mal einer schlau werden“, lachte Hanne und zwinkerte ihn betrunken an.

„Wenn du schlauer werden willst, mein Angebot mit dem Café steht.“

Hanne lachte kopfschüttelnd.

„Wie kann man so hartnäckig sein? Aber na gut. Lass uns ein Bier oder ein Abendessen daraus machen.“ Sie liefen ein Stückchen schweigend nebeneinander her.

„Und wie findest du es jetzt?“; fragte Hanne. „Meine Formel. Ganz schick geworden, oder?“

Ago wackelte mit dem Kopf.

„Ich muss ehrlich mit dir sein: Im Internet findest du für jeden Fetisch und jede Haltung jemanden, dem es gefällt. Das macht es nicht richtiger. Die Formel ist gefährlich. Ich frage mich, warum jemand wie Jakob Aldermann da mitmachen will.“

„Darf ich dir mal ein Geheimnis verraten“, unterbrach ihn Hanne. „Du darfst es allerdings niemanden aus der Gruppe sagen. Es wissen nicht alle.“

Ago packte ihre Hand und drückte sie etwas zu fest zusammen.

„Über dich oder deine Eltern?“

„Nein, über die Formel“, antworte sie und riss sich ärgerlich los.

„Es ist ein Kunstprojekt. Wir meinen das nicht ernst. Wir filmen alle Treffen heimlich mit und warten, wo das hinführt. In ein paar Monaten gibt es eine Ausstellung und ich hoffe du kommst.“

Das Erwachen der Formel

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