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04 Konferenz

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Das Quietschen der Straßenbahnen drang dumpf in den Hörsaal. Durch die blühenden Bäume vor dem Fenster strahlte die Sonne auf die Sitzreihen und verwandelte die staubige Luft in leuchtende Funken. Hanne Bergstrom hatte sich auf das Pult gesetzt und die Arme verschränkt. Draußen pfiffen Amseln ihr Lied. Sie griff einen Betonbrösel vom Pult und warf ihn in die Sitzreihen. Der Staub wirbelte in Fontänen nach oben. Sie dachte an die beiden Polizisten und Clemens falsches Alibi. Wie immer wollte er sie beschützen. Auch wenn sie beide wussten, dass er das nicht konnte. Ob sie irgendwann jemand finden würde, der sie wirklich verstand? Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Felix Ballhorn war tot. Es machte sie weder traurig noch wütend oder ängstlich. Gleichzeitig fühlte sie eine Schwere, wie eine düstere Vorahnung, die sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Vor ihr bauten sich die leeren Sitzreihen des Hörsaals auf. Bisher war niemand zu dem Treffen gekommen. Was gab es auch für einen Grund, an einem sonnigen Tag in einen verrotteten Hörsaal einzubrechen, um über all das Böse zu reden, das unser Leben bestimmt? Warum sollte man den Frühling nicht einfach Frühling sein lassen und glücklich sein, dass man satt und fett war, gesund, oder es zumindest warm hatte. Ist nicht alles andere nur der Wahn komplizierter Geister, die es verlernt haben Glück zu fühlen, und wie Junkies an Nachrichtentickern hängen, um sich neue Sorgen zu spritzen? Wie könnten wir über jeden Toten trauern, bei 150 000 Menschen, die täglich auf unserem Planeten verrecken? Namenlose Alte, Mordopfer, Unfälle und verhungerte Kindstode, die keinen Sinn ergeben. Hanne schleuderte einen weiteren Klumpen nach vorne und der Staub zischte auseinander.

Aus dem Flur hörte sie schleppende Schritte, die sich dem Hörsaal näherten. Ein kugeldicker Mann in zerlumpter Latzhose trat an die Tür und blieb misstrauisch stehen. Er musterte sie halb spöttisch, halb zornig und schaufelte in lauten Zügen Luft durch seine aufgedunsene Nase. Sein gelblich, grauer Zottelbart lockte sich an den Backen weit nach außen und schloss wie ein Kranz mit seinem Haupthaar ab, das sich schon weit hinter die Stirn verlagert hatte. Um seinen wuchtigen Schädel hatte er ein rot-weiß gepunktetes Leinentuch geknotet.

„Was wird das hier?“, brummte er. Hanne rutschte vom Pult.

„Hallo. Ich bin Hanne. Kommst du wegen der Formel? Dann setz dich dahinten hin.“

Sein Mund formte sich zu einer riesigen Öffnung und er hustete und lachte gleichzeitig.

„Was ist es denn dieses Mal? Bist du hier um Stimulanzien zu verticken? Also wenn du etwas Tetrahydrocannabinol hast…“

Hanne verneinte irritiert. „Wir wollen über Politik reden. Über ein neues politisches System. Und Sie? Was wollen Sie hier?“

Wieder lachte er laut auf und zeigte seine fauligen Zähne. „Das hatte ich noch nicht. Ich bin Manfred“, er reichte ihr die klebrige Hand. „Das hier ist mein Revier, weißt du. Eigentlich musst du immer den Manfred fragen, bevor du reinkommst! Ich muss gucken, dass nichts havariert, sonst werfen sie mich raus. Aber macht nur eure Sache mit der Politikos. Ich setze mich da hinten hin und passe auf.“

Er schlurfte keuchend in eine der oberen Reihen und begann sich eine Zigarette auf der Bank zu drehen. Er zückte ein Klappmesser und schnitt den Tabak an der Spitze vorsichtig ab. Mit einem Streichholz zündete er die Zigarette an und pustete lächelnd Rauch in Hannes Richtung, während er das Messer mit einer lässigen Handbewegung zusammenklappte.

„Politik. Das hatte ich noch nicht. Finde ich gut. Dachte, euch hat der Kapitalismus schon vollkommen betäubt.“

Hanne zwang sich ein Lächeln ab und vertiefte sich in ihre Notizzettel.

„Politik“, murmelte er. „Wusstest du, dass Politik nur der Spielraum ist, den die Wirtschaft ihr lässt? Hat Heidegger mal gesagt. Oder war es Hildebrandt?“ Er kratzte sich am Bart. „Also was zünden wir als erstes an? Einkaufszentren? Banken?“ Hanne hob die Schultern ohne aufzusehen.

Es dauerte zermürbende 10 Minuten, bis sie endlich wieder Schritte hörte. „Die Formel?“ Ein Junge mit asiatischen Zügen und dünnem Bart steckte seinen Schopf in den Hörsaal. Er wirkte ausgesprochen jung, trotz seiner hohen Stirn und der tiefdunklen Ringe um die Augen. Hanne winkte ihn herein und reichte ihm die Hand.

„Noch sind wir eine intime Runde. Nimm schon mal Platz. Wie heißt du?“

„Jonas Simon. Also einfach Jonas“, antwortete er und setzte sich in die erste Reihe. Gleich darauf betrat eine Frau mittleren Alters den Hörsaal und nahm sich den Platz neben Jonas. Sie trug eine Kurzhaarfrisur, ein geblümtes Kleid, das über eine Schnur unter ihren Brüsten zusammenhielt und einen goldenen Ring um den Finger.

„Beate“, rief sie in die Runde und ergänzte zu Jonas gewandt: „Das ist ja so aufregend.“ Hanne nickte ihr freundlich zu, und sie winkte strahlend zurück.

„Hallo zusammen“, fing Hanne an. „Ich würde sagen, wir warten noch fünf Minuten und dann…“

Ein stämmiger Typ mit Rollkragenpullover und eine jüngere Frau traten ein. Der Mann hatte seine dunkelbraunen Haare zu einem Seitenscheitel gekämmt, dazu trug er eine breit gerahmte Brille. In seinem Ohr steckte ein Piercing, das so gar nicht zu seinem bubenhaften Erscheinungsbild passen wollte. Seine Begleiterin, eine vorwurfsvoll dünne Frau mit rosafarbenem Spaghetti-Top, tätowierten Armen und jungenhaften, etwas zu breiten Schultern, blieb kurz hinter ihm stehen.

„Ist das die Konferenz?“ Hanne bejahte und bedeutete den beiden sich hinzusetzen.

„Habt ihr schon die Handys eingesammelt?“, fragte er weiter und holte einen Beutel aus seinem Mantel. Er schritt eilig durch die Reihen und bat jeden, sein Smartphone hineinzuwerfen, wobei die Frau ihn begleitete. Manfred zuckte nur mit den Achseln, als er ihn aufforderte sein Handy abzugeben.

„Der Beutel hier hat eine strahlenabweisende Schicht. Ist abhörsicher. Man weiß ja nie. NSA, BND, Mossad“, meinte er. Manfred beulte seine Taschen nach außen und lachte ihn teerartigen Schleim hustend an.

„Ich bin immer abhörsicher! Wenn du mir dein Handy gibst, kann ich es auch abhörsicher machen. Ich brauche nur einen Ziegelstein dafür. “

Er ignorierte Manfred, ging nach vorne ans Pult und reichte Hanne die Hand. „Du musst Hanne sein. Freut mich dich zu treffen. Jakob Aldermann, und das ist meine Kollegin Ronja. Sie arbeitet auch bei uns.“ Hanne begrüßte beide.

„Sie arbeitet bei euch?“ fragte sie, nachdem sie ihr Handy in den Beutel gelegt hatte. „Was macht ihr denn?“

„Codes schreiben. Hacken. Pizza essen. Solche Sachen eben.“ Er schmunzelte und nahm mit Ronja zwei Reihen hinter Jonas und Beate Platz. Die Konferenz konnte beginnen.

Das Erwachen der Formel

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