Читать книгу Fürstin des Nordens - Trilogy - Juryk Barelhaven - Страница 5

Aller Anfang… 1

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Die Sonne ging unter. Von hohem Südturm hatte man einen herrlichen Blick auf das Grün der Kieferwälder, die nur von den felsigen Schiefergebirgen im Norden und dem grauen Matsch unterhalb der Burg unterbrochen wurde. Das Sägewerk weit hinten am Fluss arbeitete scheinbar ohne Pause. Einzelne Lichter und das Geräusch von Menschen und harter Arbeit drangen bis zu ihr. Claudile Alemont saß betrübt auf einer Zinne und dachte nach.

Sie witterte zwei Rehe, wie sie vorsichtig durchs Unterholz liefen und den einzelnen Wolf, der knapp vierhundert Schritte ihre Fährte aufgenommen hatte. Fern der Stadttore unterhielten sich schnatternde Gänse in einem künstlich angelegten Teich, während Kühe und Schafe auf einer Weide zur Ruhe kamen. Eine Hasenfamilie huschte durch dichtes Blattwerk am Rande der Mauer. Das und noch viel mehr nahm Claudile war. Sie konnte nicht anders.

Francesco machte sich keine Mühe leise die Treppe nach oben zu gehen. Mit Pfeife und einem Tablett mit einem Glas Wein kam er oben an und blickte sie kritisch an. „Eure Ladyschaft“, begann er langsam, „ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass die Etikette am Hof geachtet werden muss. Ihr trag noch immer meine Uniform.“

„Ich weiß, dass du es gesagt hast“, maulte sie leise.

„Warum macht Ihr es mir so schwer?“

„Männerhosen tragen sich gut. Wen, bitte schön, soll ich hier beeindrucken!?“

Francesco stutzte kurz und reichte ihr den Becher. „Guter Punkt“, gab er zu und stöhnte behaglich, als er auf den Schindeln sich zurücklehnte. „Wie denkt Ihr darüber?“

„Dieser Ort ist grauenhaft. Über allem liegt Angst wie ein nasses Segeltuch. Sie fürchten sich. Der Ort macht mich krank.“

Francesco nickte ernst. Er kam aus der Gosse, zugegeben. Beim Militär hatte man ihm Selbstdisziplin, das Marschieren und den Umgang mit Waffen beigebracht. Seit seinem erzwungenen Dienst als Privatlehrer hatte er sich daran gewöhnt jeden Tag zu Baden. Daheim am Hofe des Werwolfskönigs hatte selbst er Diener gehabt, die ihm jeden Tag die Kleider zurechtgelegt hatten. Man kochte für ihn, man putzte ihm die Stiefel und Geld spielte keine Rolle. Aus offensichtlichen Gründen. Zu seinem Glück interessierten sich die Werwölfe seit langem für höfische Etikette. Das hatte ihm einen gehobenen Lebensstil eingebracht. Jetzt stand er wie Claudile sprichwörtlich im Matsch und musste für sich selbst sorgen. Denn Diener gab es hier nicht. Noch nicht, berichtigte er sich.

„Die Koffer sind ausgepackt und der Kutscher hat die Rückreise angetreten.“ Er beugte sich etwas vor. „Der Baron hat die Leute terrorisiert. Über Jahre fürchteten sie seine Willkür. Er nahm sich alles, was er brauchte…“

„Genug.“

Francesco gehorchte.

Nach einer Weile sah sie ihn traurig an. Ihre gelben Augen stachen beeindruckend durch die aufkommende Düsternis des Abends. „Ich will das nicht. Ich will heim, Francesco.“

„Wenn Ihr geht, bekommen wir beide Ärger, vergesst das nicht. Die Königin hat uns aufgetragen, dieses Land zu halten. Es ist, wie es ist.“

„Mir gefällt das nicht“, entgegnete sie knapp und beobachtete die Rehe, wie sie vor dem Wolf Reißaus nahmen. Sie hatten seine Witterung aufgenommen. Anfänger, dachte sie säuerlich. „Heute auf dem Platz roch ich ihre Angst. Sie werden in ihren Häusern bleiben und sich verschanzen. Wie sollen sie mich lieben?“

Und da haben wir das Problem, dachte Francesco säuerlich.

Kein Mensch kam auf die Idee, sich offen gegen die dominante Spezies zu stellen. Tat man es doch, waren die letzten Sekunden gezählt. Sie mussten keine Rücksicht nehmen. Selbst, wenn alle Burgen verfallen und alle Dörfer menschenleer waren, so konnten die Werwölfe weiter durch die Wälder streifen. Es änderte sich kaum etwas für sie. Und dann war da Claudile…

Claudile nahm die Leiden und Sorgen der Menschen persönlich. Sie wollte alles besser machen, für jeden. Aber wenn man ein Werwolf war, durfte man sich nicht mit dem Menschen auf eine Stufe stellen.

Jeder hing seinen Gedanken nach.

„Haben wir Gold?“ fragte sie nach einer Weile.

„Die Kammern sind voll, möchte ich meinen. Wir haben genau vierzehntausend und sechshundertdreiundreissig Norfesta-Münzen. Sowie eine ansehnliche Sammlung an Perlenketten, erlesenen Büchern und Ölgemälden. Entweder ist der Baron ein Meister in Kalkulation gewesen, oder er hat sich nicht um die Rechnungen gekümmert. Sicherlich müssten einige Schulden beglichen werden. Sein Arbeitszimmer ist ohne System, aber da arbeite ich mich schon rein.“

„Wir werden die Leute bitten, wieder zurückzukommen.“

„Das wird nicht einfach.“

„Wir sollten ein Fest geben.“ Ihr Gesicht hellte sich etwas auf. „Ich will Musik und Tanz.“

„Eure Ladyschaft“, begann Francesco langsam aber hielt in einem neuen Gedanken inne. „Ich meine, Ihr seid jetzt Fürstin von diesem Ort. Wir werden gemeinsam dieses Problem lösen, aber bedenkt, dass Ihr eine höhergestellte Person seid! Von nun an delegiert Ihr. Ihr seid nicht wie die. Wie ich“, fügte er leise hinzu. „Menschen haben zu gehorchen!“

„Ich fange morgen an, eine Fürstin zu sein.“ Sie stand auf – nicht wie ein Mensch, sondern fliesend wie ein Werwolf mit der Grazie einer Antilope. Einer Antilope mit Zähnen. „Jetzt will ich jagen.“

Francesco stöhnte leise. „Seid aber pünktlich wieder zuhause. Und lasst Euch nicht von anderen Tieren provozieren.“

Claudile zog den Soldatenrock und die Stiefel aus und stand nun barfuß und nur mit Unterhemd und Hose bekleidet dar. Von weitem konnte man sie fast für einen jungen Mann halten, der seine Haare wild und lang wachsen ließ. Von sehr weit weg.

Sie wandte sich kurz um und nickte ihrem Freund zu. Dann ließ sie sich nach hinten fallen.

Der Mann lächelte knapp, griff zum Becher und blieb noch ein bisschen auf den Schindeln liegen. „Bleibt mehr für mich.“

Wie ein Geschoß flog sie in die Tiefe, passierte das Ende der Mauer und drehte sich im richtigen Moment, um sich kurz vor dem Aufprall abzurollen und sofort wieder wie ohne Blessuren stramm stehen zu können. Wie die meisten Werwölfe hatte sie das Maximum ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit längst erreicht und als Sprinterin und Jägerin sich den Respekt ihres Rudels verdient. Das kurze Donnern ihres Sturzes verklang schnell. Sofort nahm sie den Wald war, seine Geheimnisse, seine zahllosen Fährten. Und ihre Beute.

Vor ihr duckte sich der Wolf hin und knurrte leise, als sie sich ihm näherte. Er schnupperte aufgeregt und versuchte den neuen Geruch einzuordnen.

Wir sind viele, vernahm sie mit ihren Sinnen. Du bist anders – nicht wie er!

Der Jungwolf heulte leise.

Geh weg, signalisierte sie. Das ist mein Revier.

Zwei weitere Augenpaare erschienen im Dunklen. Lefzen wurden gezogen, und sie begannen ihr Spiel, indem sie sie umkreisten. Knurrend bewegten sie sich vorwärts.

Claudile kannte das Genüge. Wölfe waren nicht dumm. Sie spürten Gefahr, aber sie forderten auch gerne heraus. Zähne wurden gebleckt. Wenn sie weglief oder aufgab, war ihre Dominanz dahin. Der Wald hatte ein Gedächtnis.

Wir beißen. Wir reisen. Du wirst dein Rudel nie wieder sehen.

Triumphierend bellten die männliche Wölfe und machten sich zum Sprung bereit.

Claudile lächelte und griff an.

Die Bewohner von Blaqrhiken duckten sich auf ihren Schlaflagern, als sie das Gebell hörten. Wenige schliefen weiter. Die meisten konnten nicht schlafen, horchten in der Dunkelheit und fürchteten die Geräusche, die nichts Gutes brachten. Der Wald bot keinen Schutz für Menschen, sondern war eine grüne Mauer um sie herum – mit einem Monster in ihren Reihen. Kinder wichen näher an ihre Eltern heran, wimmerten leise. Begütigende Laute der Eltern brachten nicht den ersehnten Frieden, da ihre eigenen Stimmen zitterten. Der Wald hatte ein Gedächtnis.

Und er wusste, wo es gefahrlos Fressen gab.

Das Mädchen des Försters lag in ihrem Bett und kauerte hilflos in einem Wulst aus Decke und Kissen. Das Trippeln von Pfoten auf dem Dach hatte sie aufgeschreckt. Es kam vor, dass Wölfe des Nachts kamen und nach Beute Ausschau hielten. Nie die erste Wahl für einen Wolf – wie gesagt, sie waren nicht dumm – aber eine lohnende Sache für den Jäger. Das Mädchen richtete sich auf, lauschte ins Dunkle ihres Zimmers und rüttelte hastig an der Schulter ihres Vaters. Langsam kam er hoch und starrte zu der Stelle des Zimmers.

Und dann bewegte es sich in das hereinfallende Licht des Mondes, so dass man ihn gerade eben erkennen konnte, ein Schatten aus einem Alptraum: Canis Lupus – ein Wolf.

Immer wieder prüfte er den Raum. Mit seinen unnatürlich glatten Wänden und dem menschlichen Gestank, der nach Furcht roch. Die Krallen scharrten über den Boden, und alles in ihm drängte daran, wieder raus in den Wald zu laufen. Auf der anderen Seite saßen zwei Menschen und sahen ihn nahen. Aber sie flohen nicht. Sie gaben selten ein Geräusch von sich, sahen sie nie kommen, sondern standen bloß da. In regelmäßigen Abständen gingen sie schlafen, standen wieder auf und taten, was Menschen tun. Die Menschen merkten nie etwas. Sie lasen keine Spuren, sondern trampelten über sie hinweg. Sie machten Lärm, aber konnten nicht kämpfen. Sie bemerkten sie nie. Sie waren dumpf, verweichlicht und langsam. Im Rudel konnten sie gefährlich werden, mit ihren Spitzen und dem Feuer, um das sie sich gerne scharrten. Aber jetzt nicht. Der Mann war kein Problem – ein schneller Sprung an seine Kehle und dann das Kind. Es würde schnell gehen.

Die Menschen sprachen miteinander.

Er fragte sich, ob ihre Knochen so zerbrechlich waren wie die eines Kaninchens. Er fragte sich, ob sein Blut so warm war wie das des Rehs, dass vor wenigen Tagen das Pech hatte, ihm zu begegnen.

Genug des Wartens.

Plötzlich hielt er inne. Ein unerwartetes, plötzliches Chaos. Krieger, die schreiend starben. Dort flammte es auf, rauschte über die Bäume und hielt auf ihn zu. Kein Mensch. Kein Tier. Nein, es war schlimmer.

Der Wolf blinzelte verwirrt. In seinem Kopf wirbelten Fragmente von Erinnerungen und Instinkten herum, die er nicht einordnen konnte. Der alles durchdringende Schmerz des Verlustes, eines unwiederbringlichen, betäubenden Verlustes strömte durch seinen Körper. Er bedeutete nichts und alles.

Das Fenster gab nach, etwas Schweres und sehr Kraftvolles landete vor ihm auf den Boden und rollte sich perfekt ab. Der Wolf duckte sich weg – nicht wegen der Kraft eines ausgewachsenen Bären oder der Schnelligkeit einer Schlange, sondern wegen dem Geruch. Der Geruch von etwas sehr Altem, das sich behaupten konnte. Etwas wölfischem, aber dazu etwas Kaltem und sehr Scharfem.

Sie.

Die Meister waren nicht willkommen. Sie gehörten nicht zum Wald – nicht zu diesem Revier weit hoch im Norden. Das Licht und die Kraft. Mehr Kraft als Mensch. Mehr Licht als Wolf. Aber sie gehörten nicht hierher…

Mein Revier, bellte er.

Gewesen, sagte die Präsenz.

Er jaulte leise, als er die Meisterin erkannte.

Ihre strukturelle Perfektion wurde nur noch von ihrer Feindseligkeit übertroffen. Sie war eine Überlebende, die sich weder durch Bewusstsein, Gewissen oder moralische Illusionen behindern ließ.

Der Wolf legte sich hin und jaulte seine Zustimmung.

Was blieb ihm anderes übrig?

Fürstin des Nordens - Trilogy

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