Читать книгу Fürstin des Nordens - Trilogy - Juryk Barelhaven - Страница 6

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„Der Wald ist unruhig. Die natürlichen Pfade werden nicht mehr gegangen. Es wird Wochen dauern, bis sie wissen, wie es zu laufen hat“, sagte Claudile am nächsten Morgen, als sie allein mit Korporal Axel über die Straße zum Marktplatz ging. Sie trug gemäß der Etikette ein doppelgewebtes Kleid mit Rüschen, die an sich schon übertrieben vornehm wirkten. Zum Glück war das ganze Kleid blutrot, so dass niemand den Prunk auffallen würde. Über ihre Augen trug sie eine dunkelglasige Brille, die ihre Augen vor dem Licht der Sonne schützen würde. Nach einer anstrengenden Nacht beliebten es die Herren, sich zu schonen. Sie wirkte sehr müde; und nicht nur in körperlicher Hinsicht. Sie hatte schweigend zugehört, als der Korporal berichtete, was die Leute in aller Frühe auf dem Marktplatz gefunden hatten. Leichen.

Von Wölfen.

Er blickte sie von der Seite aus an. „Wölfe haben des Öfteren uns heimgesucht.“

„Ja, sie brauchten einen Denkzettel.“

Er schluckte als Antwort.

Sie deutete auf die Blutlachen vor sich. „Lyren hat als Wolf versagt – das ist schlimmer als seine Verbrechen gegen euch. Er darf kein Mitleid erwarten.“ Sie spazierten rüber zu einem Fleischerstand, der zufälligerweise Wolf im Angebot hatte. Es waren nur drei gewesen, erinnerte sich Claudile dumpf, die sich hässlich ihr gegenüber geäußert hatten. Der Rest war über die Berge verschwunden. „Die Wölfe werden euch nicht mehr behelligen, denke ich.“

„Denkt Ihr, so.“ Der Korporal blickte sie zweifelnd von der Seite an.

„Ja, könnte natürlich sein, dass ein weiterer Jungwolf mich herausfordern will. Ich denke, kurz vor dem Winter solltet ihr achtsam sein.“

„Wir Menschen?“

„Ja. Aber genug davon. Führt mich herum.“

„Na schön, wie Ihr wollt.“

Aus der Nähe betrachtet war Blaqrhiken noch schlimmer als befürchtet: Berge aus Müll stapelten sich in den Gassen, Kinder mit verdreckten Gesichtern liefen durch gefrorenen Matsch und spielten mit einer toten Ratte während Erwachsene sich an starkem Selbstgebranntem erfreuten.

Axel bewegte sich ganz wie ein Gentlemen und deutete auf die Gasse vor ihnen. „Dort leben die Schwestern des Schmieds, den ihr gestern getroffen habt. Sie haben den Blechschmied Erich geheiratet. Das heißt, nur Eine von ihnen, aber die andere fühlt sich sehr wohl im Haushalt und jetzt muss Erich für sie beide sorgen. Seht Ihr den hageren, kleinen Mann hinter seinem Arbeitsplatz? Das ist Erich. Heh, Erich!“ Er winkte dem Mann zu, der mit offenem Mund halb zu schlafen schien. Er wirkte blass und völlig ausgelaugt. „Armer Kerl. Sie nehmen ihn zu hart ran…“

„Ihr meint, …“ Claudile errötete leicht.

„Schrecklich, nicht wahr?“ Axel wirkte ehrlich mitfühlend. „Sie wollen, dass er doppelt so hart arbeitet. Ich weiß aber, dass die beiden die ganze Zeit nur in ihrem Laden sitzen und über die Leute herziehen. Sie sind das Sprachrohr der Gemeinde, könnte man sagen.“

„Ach so.“ Die Fürstin nickte dem Mann mitfühlend zu. „Er wirkt auch nicht glücklich.“

Alle Häuser und Zelte spotteten der Beschreibung Behausung. Was dieser Ort brauchte, waren Handwerker. Aber die kosteten Geld, und wie es um die Finanzen stand, bemerkte sie, als sie am Stand des Bäckers die Auslage sah: graue Klumpen erinnerten in der Ferne an Brot. Das Brot sein sollte, aber kaum als Nahrungsmittel durchging. Probeweise nahm sie eins in der Hand und witterte Wasser, etwas altes Mehl, Sägemehl und braune Brocken, die sie nicht identifizieren wollte. „Was soll das sein?“

„Brot.“

„Wo sind die Pasteten, für die ihr so bekannt seid?“

Der Bäcker starrte sie aus einer Mischung aus Wut und Verwunderung an. Er selbst wirkte, als hätte er selbst seit Wochen nicht mehr richtig gegessen.

„Vergesst die Frage“, beeilte sich Claudile zu sagen und eilte schnell hinter Axel weiter.

„Seht Ihr das Haus am Ende der Gasse? Dort oben wohnt die Glückliche Bettina. Sie ist mit Erich, dem Müllkutscher verheiratet und hat sechszehn Kinder. Ja, Ihr habt richtig gehört. Wissen nicht, wie sie alle ernähren können, aber ihre Liebe ist schon legendär. Lassen sich praktisch nie aus den Augen. Sehr romantisch, findet Ihr nicht?“

Claudile ächzte beinahe unter der Vorstellung und unterdrückte ein Grinsen. „Sechszehn! Das ist erstaunlich, sage ich nur.“

„Dort in dem Ziegelhaus leben und arbeiten die Ghrosnik-Brüder. Drillinge, um genau zu sein. Und die besten Holzfäller, die es gibt. Tun keiner Fliege etwas zu Leide, aber wenn sie beim Bärendrücker waren, dann gehe ich ganz bewusst nicht auf Streife, wenn Ihr versteht, was ich meine.“

„Bärendrücker? Eine Taverne“, fragte sie.

„Ja, sie ist dort drüben. Bester Schnaps aus gegorenen Kartoffeln. Der Wirt lässt anschreiben. Seine Spezialität sind Kartoffelscheiben in der Pfanne mit Ei und Wurst.“

„Wirklich?“

„Vor Jahren schon.“

So ging es weiter und weiter. Korporal Axel kannte alles und jeden, und jeder kannte ihn. Axel vermied es, auf die hervorstechenden Probleme zu weisen sondern erfüllte seine Pflicht als Stadtführer vorbildlich.

Der gutaussehende Mann nahm keinen Anstoß an ihrem wahren Wesen. Aber die Reaktionen der anderen Leute blieben nicht ohne Einfluss auf Claudile. Es bereitete ihnen Unbehagen, sie in ihrer Mitte anzutreffen. Nach einer Weile sprach sie es doch an: „Warum hungern die Menschen?“

„Sie wurden nicht bezahlt. Der Bäcker mischt gemahlene Nüsse in das Mehl, das zuvor mit Sägemehl gestreckt wird. Natürlich kein Vergleich zum alten Brot, aber von irgendetwas müssen die Menschen leben.“ Er blickte ernst zu ihr. „Es ist nicht erlaubt zu Jagen. Nicht nur Hirsche, sondern auch Wildschweine und Hasen. Versteht ihr das Problem?“

„Sie sind hiergeblieben – warum?“

„Wo sollten wir hin?“

„Hinter den Bergen im Westen beginnt das Königreich der Menschen.“ Ganz ohne Werwölfe, dachte sie, und erzähl mir nicht, das hätte niemand versucht.

Axel schien zu überlegen. „Könntet Ihr mit eurer Familie zwei Tage durch einen dichten Wald flüchten, nur um dann an einer Gebirgskette stehen zu bleiben? Es führt kein Weg über das Gebirge. Der Westen ist versperrt. Der Norden soll nur Eisflächen bieten, und der Osten ist dichtes Waldgebiet. Man erzählt sich, dass Menschen tagelang umhergeirrt sind, bevor sie schließlich an Erschöpfung starben. Wir sind nur Menschen, Herrin. Die Wölfe und Bären leben dort.“

„Mmh.“

„Sich gegen die Wünsche eines Werwolfs zu stellen, bedeutet den Tod zu wählen, Herrin.“

„Ah, ja. Nun, bei mir nicht“, antwortete sie selbstbewusst. „Bei mir darf jeder sagen, was er zu sagen hat.“

Claudile sah zur Seite und sah aus einem verfallenen Gebäude einen grauhaarigen, kräftig gebauten Mann treten, der sie bei den Worten missbilligend anstarrte. Er trug einen dunkelbraunen Leinensack mit schmalen, dunklen Streifen auf Schultern und Ärmeln und hatte ein kantiges Gesicht und einem schlotterweißen Bart, der ihm fast bis zum Bauchnabel reichte. „Als Herrin eurer Ländereien solltet Ihr euer Volk zu ernähren wissen!“ schimpfte er laut und kam näher. Ohne Furcht stellte er sich offen vor ihr hin und maß sie mit seinen dunkelbraunen Augen, als wäre sie ein Ärgernis, das er zurechtrufen müsste. „Seht die großartige Fürstin, wie sie durch unsere Reihen stolziert!“

Claudile war verblüfft.

Korporal Axel kam zur Hilfe. „Das ist Pater Brain. Er wacht über den Seelenfrieden der Gemeinde. Hör mal, Brain, das muss…“

Claudile wollte eine Frage stellen, aber Pater Brain bedeutete ihr zu schweigen. „Habt Ihr das ernst gemeint? Das jeder offen sprechen darf?“ grollte er mit tiefer sonorer Stimme.

„Ja, aber…“ Sie unterbrach sich für einen Moment. „Ihr seid verstimmt, …“

„Aber was kümmert es den Bauer, was die Schweine denken“ sagte der Pater laut, so dass es alle hören konnten. „Mächtige Männer werden immer mächtiger, reiche Männer immer reicher. Welche Macht wählt aus, wer arm ist und wer reich?“ Sein Blick war eisig, als er sie musterte.

„Ich war nie besonders religiös“, gab Claudile zu und kämpfte gegen den Drang an, laut zu bellen. „Ist das nicht euer Gebiet?“

Pater Brain verzog das Gesicht, als hätte er auf einen Stein gebissen. „Die Menschen ertragen unerträgliches Leid. Sie haben die Grenze schon längst überschritten. Bevor ihr daran denkt, mich zu häuten, so sage ich, dass ich selbst nichts mehr zu verlieren habe.“

„…“

„Ihr schweigt, und Ihr tut gut daran. Ihr kommt daher mit eurer Kutsche und all eurer Macht und glaubt, Ihr könntet über uns befinden, wie Ihr es für richtig erachtet. Diese Kreaturen haben uns einen Herrscher gesandt, der Nacht für Nacht aus dem Dunkeln geschlichen kam, um sich an den Schwachen zu ergötzen. Lyren war ein brutaler Mann, der jede Frau zur Witwe machte, die ihm gefiel. Die Rechnungen wurden nicht bezahlt. Fürchtet die Wölfe! Fürchtet sie!“ blaffte er laut und blickte auf seine offenen Händen, die tiefe Schwielen aufwiesen. „Das brachte ich meinen Kindern bei, kurz bevor sie … auch verschwanden.“

„Ich bezweifle nicht, dass ihr Schlimmes erdulden musstet“, antwortete Claudile kalt, „doch ich werde mein Bestes geben…“

„Jetzt ist Lyren verschwunden. Wie sieht euer nächster Schritt aus, Hoheit? Eure Ladyschaft? Gepriesene Fürstin von allem, was Ihr seht?“ höhnte der Geistliche und grinste selbstgefällig in die Runde. Von allen Seiten kamen immer mehr Leute, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. „Steuern erhöhen? Mit der Begründung, dass Norfestas Armee Pfeile in den Köchern braucht, um die schurkischen Südländer in Schach zu halten? Oder für eine neue Brücke, die bis heute nicht gebaut wurde?“

„Nein, ich…“

„Vielleicht das Recht der Ersten Nacht? Lyren war ein großer Verfechter...!“

„Ein Fest“, beeilte sie sich zu sagen, wusste aber gleich, dass sie damit einen wunden Punkt getroffen hatte. Die Menge stöhnte leise auf. Man musste kein Intellektueller sein, um zu wissen, dass Pater Brain die Punkte holte.

„Was!?“ schimpfte er und ragte noch bedrohlicher auf als bisher. „Ein Fest? Wem zu Ehren, Teuerste? Wir brauchen Essen. Nur einer Sache verdankt Ihr eurer Macht: dem Bösen selbst. Ich sehe keine glorreichen Geschöpfe des Waldes – nur ein Kind mit zu viel Macht.“

Das saß. Perplex nahm sie ihre Brille ab, wollte tief Luft holen doch… kein Wort kam über ihre Lippen.

Hilflos sah sie sich um. Die verhärmten Gesichter wirkten anklagend.

Er winkte herrisch ab und wirkte plötzlich müde und ausgelaugt. Theatralisch breitete er die Arme aus und kniete sich hin.

Er kniete tatsächlich. Claudile fühlte sich mehr als nur überrumpelt. Sie war in die Ecke gedrängt worden – von einem Geistlichen, von einem Menschen. Wie konnte er es wagen?

„Und jetzt schlagt mir den Kopf ab oder verschwindet auf eurer Burg. Macht, was ihr wollt. Ich kann euch nicht mehr sehen…“, beendete er müde sein Plädoyer.

Die Menge ächzte leise. Alle Blicke wandten sich ihr zu. Jetzt kam es auf sie an.

Ein Schlag mit der Hand, zischte das Tier in ihr. Niemand redet so mit uns! Töte es! Mach schon!

Hätte jemand in dem Moment nach einem Knüppel gegriffen, hätte der Tag schrecklich geendet.

Der schwere Eichenstuhl flog um die eigene Achse und zerschellte mit einem Knall an der Mauer. Claudile raste vor Zorn, während Korporal Axel und Francesco aus sicher Entfernung zusahen, wie sie die Einrichtung zerdepperte. „Wie kann er es wagen“, gellte sie auf, während sich ihre Haut ums Gesicht gefährlich rot verfärbte. Hände wurden zu Klauen, die im Gestein tiefe Furchen hinterließen.

Francesco hielt sich die Ohren zu. „Seid Ihr verstimmt, Mylady?“

„Dieser kleine Geistliche hat mich lächerlich gemacht! Dieser… betrunkene Mönch…!“

„Daran ist nichts zu ändern…“

Wie bitte?“

„Er hat recht. Ich fürchte, mit allem.“ Francesco bedeutete dem Korporal zu schweigen und sich nicht zu bewegen, während er langsam zu ihr trat. „Das war zu erwarten. Jede Stimme will gehört werden…“

„Ich bin die Tochter des Großen Khans“, fauchte sie ungestüm und knallte mit der Rechten auf den Eichentisch, der bedenklich zu zittern anfing. In ihr glomm eine kalte Wut, die sich schwer beherrschen ließ.

Fritz erschien mit einem Tablet voller Bechern, verharrte kurz am Eingang und drehte sich ohne ein Wort um. Er war schlimmeres gewohnt.

„Das kann er nicht machen…“, jaulte sie bestürzt und riss sich einen Ärmel ab. „Ich bin kaum einen Tag im Amt, und jetzt das!“

„Es war klar, dass es nicht ausreicht, ein paar Wölfe zur Ordnung zu rufen. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn Ihr ihn an Ort und Stelle getötet hättet.“

Korporal Axel war sichtlich unwohl in seiner Haut, versuchte er doch sich weiter wegzubewegen. „Wenn Ihr mich nicht mehr braucht, Mylady“, begann er und erschrak, als sie ihren Kopf in seine Richtung drehte.

Sie bedeutete ihm zu bleiben.

Tief durchatmen, sagte sie sich. Das ist nicht das Ende der Welt. Er hat dich nur beleidigt – nicht gleich angegriffen. Es war die Tat eines Mannes, der viel… durchlebt hatte. „Also schön“, sagte sie sichtlich erschöpft und winkte dem Korporal zu sich. „Gut, dann betrachten wir die Sache mal aus einer gewissen Distanz heraus. Habe ich recht, Francesco?“

Francesco nickte eifrig. „Sehr gut, Mylady. Einen kühlen Kopf bewahren.“

„Schön.“ Sie dachte kurz nach. „Erzähl mir alles über ihn, Axel.“

„Über Pater Brain?“

Sie nickte geduldig.

„Er kam vor zwanzig Jahren mit seiner Frau und seinen Kindern hierher und baute eine recht große Gemeinde auf. Er trank nicht, bis… nun ja. Er hat sie alle verloren. Seitdem ist er verstimmt.“

Claudile ließ ihn ausreden. Nach mehreren Minuten sah sie wieder klar. Plötzlich änderte sich das Bild in ihr von dem Pater. Bedrückt starrte sie auf ihre Hände. „Ich glaube, ich verstehe.“

Francesco bot seine Hilfe an. „Wir können es auf die Art der Werwölfe erledigen, oder auf die Art der Fürsten und Barone.“

Er fuhr als Erklärung mit dem Zeigefinger über seine Kehle.

„Oder… Ihr handelt wie ein Mensch.“

Wutentbrannt zog sich Claudile zurück.

Sie brauchte Raum zum Atmen. Freiraum.

Schnell nahm sie ein Dutzend Stufen auf einmal – es gab jede Menge Treppen in der Burg – und kam nach wenigen Momenten in ihrem Privatgemach an. Dort wurde es auch nicht besser.

Schrank, Kommode, Bett, Spiegel, Stuhl. Menschenmöbel. Hah!

Ihre Klauenhand formte sich zu einer beeindruckenden Pranke, die mit Leichtigkeit den Stuhl an der Lehne packte und wie Papier zerknüllte.

Sie atmete schwer und starrte an sich herunter. Sie dachte zurück an früher: das Rudel beschützte sie, pirschte sich an die Beute heran, Vater und Mutter an ihre Seite und ihre Brüder deckten den Rücken. Fressen, wenn man Hunger hat. Trinken, wenn man Durst hat. Töten, wenn man… in Gefahr war.

Doch sie war nicht in Gefahr.

Langsam beruhigte sie sich etwas. Nein, sie musste das Problem genau erfassen. Das ging nicht, wenn sie sich ständig bedroht sah. Abstand gewinnen. Von oben betrachten.

Sie ging auf den Balkon und setzte sich auf die Wehre.

Sie zog ein Notizbuch hervor und starrte auf die Kritzeleien, holte einen Stift hervor und markierte.

-Stadt ist arm; Menschen unruhig

Ja, das passte. Wer konnte es ihnen verdenken? Es hieß, es gab Gesetze für die Reichen und Gesetze für die Armen, aber das stimmte nicht. Es gab keine Gesetze für jene, die Gesetze schufen, auch nicht für Werwölfe, die sich Barone nannten und auf ihrem Land Menschen schlecht behandelten. Claudiles Mutter, die „Schattenprinzessin“ und Oberste aller Werwölfe, hatte erst reagiert, als der Schatzmeister berichtete, dass Blaqrhiken verlassen war. Claudile hatte sich nichts dabei gedacht, als sich ihre Mutter in dem Moment umdrehte und sie zu sich rief.

Du hast eine Aufgabe, mein liebes Kind.

Welche, Mutter?

Herrsche.

Sie schluckte trocken und notierte weiter.

-Wald ist in Aufruhr; Keine Ordnung. Wölfe greifen an.

Nein, das war erledigt. Sie zog einen Strich.

Was hatte Korporal Axel gesagt?

-Wo ist der Baron?

-Offene Feindschaft; Gefahr einer Revolte

-Sägewerk = lukrativ?

-Müll in den Straßen

-Totes Mädchen?

Beim letzten Punkt stutzte sie. Wer hatte davon gesprochen? Ihr fiel Fritz, den netten, sehr alten Haushalter ein, der nur in einem Satz bemerkte, dass etwas Schreckliches passiert war. Jemand war gestorben. Sie merkte, dass sie etwas auf der Spur war und schrieb weiter:

-Keine Arbeit, kein Lohn

-Burg im desolaten Zustand; Schmutz, brauchen Menschen um sauber zu machen

Sie fuhr mit dem Finger über die Wehre. Selbst draußen war dieser Schmutz zu spüren. Widerlich. Baron Mattes Lyren war nicht sehr geschickt gewesen. Er hatte sich zu sehr dem Tierischen hingegeben, hatte gemordet und seine Herde nicht im Griff gehabt.

Ja, Werwölfe herrschten über die Menschen – aber sie dezimieren nicht die Herde, weil es ihnen gerade in den Kram passte. Wie ein Bauer, der seine Kühe schlug oder ein Reiter, der sein Pferd die Flanken blutig schlug. Das war Irrsinn.

Er musste dafür bezahlen.

Die Welt war in einem grässlichen Zustand, fand Claudile. Francesco meinte, die Sanftmütigen würden sie einst erben. Welche Sünden hatten ihre Untergegebenen begangen, dass sie diese verdienten?

Sie wandte sich um, ging durch ihr Gemach und steuerte auf das Arbeitszimmer zu.

Menschenmöbel. Papiere, Bücher und Staub.

Lyren hatte hier gearbeitet.

Tja, was man so Arbeit nannte.

Die Tinte in dem Tintenfass war getrocknet, der Federkiel zerbrochen. Mahnungen und Rechnungen lagen zerknüllt auf dem Boden und neben dem Tisch lagen Flaschen. Probeweise hob sie eine auf und besah sich das Etikett. Schnaps. Viele leere Flaschen, einige lagen im Kamin und viele standen auf dem Schrank. Sie rümpfte die Nase und witterte.

Der Geruch war kaum wahrnehmbar, aber er hatte hier gesessen und getrunken. Viel getrunken.

Warum trank ein Werwolf Alkohol?

Hatte er Kummer?

Im Teppich witterte sie getrocknete Schnapsflecken. An der gegenüberliegenden Wand bemerkte sie Glassplitter und die Reste einer Flasche. Er war kein dezenter Trinker gewesen.

Der natürliche Ernst dieser Situation litt ein wenig unter dem Umstand, dass gerade jetzt Claudile den Geruch von Blut wahrnahm. Eine frische Spur, jedoch nicht von einem Menschen…

Harzig. Moschus. Sehr alt.

Der Werwolf hatte geblutet.

Interessant, dachte sie und folgte der Spur. Jede weiter sie der Spur folgte, desto mehr vernahm sie auch den beißenden Geruch von Furcht war. Aber nicht menschlich. Tropfen von Tränen. Seine Tränen. Claudile schüttelte es, als die Erkenntnis sich Bahn brach. Ungeheuerlich. Werwölfe weinten nicht. Vielleicht klagten sie, aber nur kurz. Tränen waren ein Zeichen von Schwäche.

Hatte er Kummer?

Vor einigen Jahrhunderten hatte das neue Reich die Pax Magnis erzwungen. Sie ließ sich mit den Worten zusammenfassen: „Kämpft nicht, oder wir töten euch.“ Aber wie ließ sich das bewerkstelligen, wenn Werwölfe trauerten?

Schwäche wird nicht geduldet.

Warum, Mutter?

Weil sie sich sonst erheben.

Mit einem Mal wurde es ihr klar: der Werwolf hatte seine Herde geschunden und sich dann zurückgezogen, um zu trauern. Er hatte Schwäche gezeigt. Auf zweierlei Arten: zuerst hatte er maßlos gewütet und die Herde unruhig gemacht – und sich dann seiner Schwäche ergeben.

„Du kannst ruhig hervortreten, Fritz“, murrte sie leise und sah zur Tür.

„Herrin, ich“, begann der alte Mann und verbeugte sich umständlich. „Der Herr ist nicht da“, erklärte er überflüssigerweise.

„Das Volk steht kurz vor der Revolte“, bemerkte sie spitz und überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. „Du wirst mir alles sagen.“

„Da war ein Mädchen“, stammelte Fritz und wich an die Wand zurück, während seine Drüsen Angstpheromone produzierten. Claudile schnupperte und unterdrückte ein Schütteln. Widerlich.

„Und weiter?“ knurrte sie.

„Der Herr… war besorgt um sie.“

„Was hat sie gemacht??“

„Was sie gemacht hat? Nichts, nehme ich an. Ihre Mutter hatte nur neun Kinder großgezogen, in zwei Zimmern, die einmal genug Platz bieten, um sich ganz auszustrecken. Sie nähte Hemden für zwei Cent das Stück. Die ganze Familie arbeitete rund um die Uhr, so auch die Tochter Alexandra Häberlein. Ja, so war ihr Name“, brabbelte der alte Mann hilflos und sah ihre Krallen bedrohlich näherkommen. „Er wollte sie haben. Sie war die Tochter des Tünchers, er versuchte sie vor ihm zu verbergen doch der Herr wollte sie. Er besuchte die Familie, und…“

„Still“, mahnte sie und sah sich nochmal um. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Ja, da waren Kratzspuren im Holz, in den Steinen. Überall. Der Baron war unruhig geworden. „Er konnte sie nicht haben“, schloss sie zusammen. „Sie liebte ihn nicht. Wie frustrierend für einen mächtigen Mann, nicht wahr?“

Sie nahm am Schreibtisch Platz, nahm erneut ihr kleines Buch und notierte:

-Alexandra Häberlein??

„Wo ist sie jetzt?“

Erneut schien er mit sich zu ringen, während seine Augen unstet hin und her gingen. „Vermutlich tot… nach dem Brand…“

„Brand?“ fragte sie.

„Das ganze Haus in der Tuchmüllenstraße. Niemand weiß es. Ich schwöre es, Herrin.“

Erneut schien ihr irgendetwas an dem Haushalter sonderbar, aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was.

Francesco trat durch die Tür.

„Er hat das hier gelesen, oder?“

Claudile schaute auf. In seinen Händen eine Art Buch, ein zerfleddertes Irgendetwas. Als es Fritz sah, geschah etwas Seltsames: er wurde kreidebleich.

„Was ist das?“ fragte sie und nahm es entgegen.

Fritz wollte etwas sagen, schwieg aber schnell.

Es waren Notizen auf Pergamentpapier, die mit einem einzelnen Faden zusammengehalten wurden. KLÄRUNG DER SINGULARITÄT. Ein Regelwerk für die Töchter der Einen.

Claudile stutzte kurz, und blätterte.

Die Erde muss von Wahnsinn, Krieg und Verbrechen befreit und eine Zivilisation ermöglichen werden, in der es geistige Gesundheit und Frieden gibt. Um dies tun zu können, müssen sie dem Einzelnen helfen, sich von seinen individuellen spirituellen Belastungen zu befreien und die dem Menschen grundlegend innewohnende Güte wiederzuerlangen. Zu diesem Zweck müssen wir uns läutern lassen von der Einen, die Alles sieht, die Alles kennt und die das Grün bevorzugt.

„Es war im Zimmer des Barons“, bemerkte Francesco kühl und maß Fritz mit unverhohlener Verachtung: „Es kommt dir bekannt vor, oder Fritz?“

Fritz fuhr sich mit der Zunge über die trocknen Lippen. Seine Augen verengten sich und seine angespannte Haltung sprach eine deutliche Sprache.

Claudile blätterte weiter. Es war nicht nur ein Regelwerk, sondern mehr eine schwulstige, nicht besonders gut verfasste Offenbarung. Eine Zukunftsvision, die keine Werwölfe duldete. Und ein Hohelied auf die „Eine“.

„Die Eine“, las sie laut vor, „ist das Gesamte der ganzen Kraft, die seit Tausenden von Jahren über alles Grün herrschte. Wir sind nur Staubkörner in ihrem Wesen, aber wenn wir befolgen, was sie befiehlt, wird sie uns vom Joch befreien.“ Sie schloss kurz die Augen und fasste für sich zusammen: „Er las ein Buch, dass eine Welt verspricht, in der die Werwölfe nicht existieren? Wer ist diese „Eine“?

„Hat dieser Geistliche etwas damit zu tun“, herrschte Francesco den Mann an. „Religionen sind nicht gestattet!“

Fritz straffte sich. Seine unterwürfige Körperhaltung veränderte sich zunehmend als wäre eine Verwandlung vorgegangen. Hochaufgerichtet und schweratmend starrte er sie beide an. „Der Herr… fand dieses Buch bei einem der Dorfbewohner. Er nahm es an sich. Mehr weiß ich nicht. Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich mich gern zurückziehen.“

Claudile beobachtete ihn genau. Er lügt. Ich weiß nicht, warum aber er lügt.

„Ja, sicher. Geh nur.“

Francesco schüttelte ungläubig den Kopf. „Fritz weiß mehr, als er zugibt.“

„Lass ihn. Wir haben andere Probleme.“

Sie lehnte sich langsam zurück und überflog ihre Notizen.

Jede Menge Probleme.

„Sie hassen uns“, sagte sie bedrückt und starrte aus dem Fenster. „Das wird in einem Unglück enden, sage ich dir.“

Francesco kam näher, stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick. „Wieso uns? Ich bin ein Mensch.“

Sie wandte sich ihm zu.

„Nur ein Scherz.“ Er lächelte sanft und tätschelte ihre Schulter. „Ich schlage vor, dass wir zu Arbeiten beginnen. Ich werde Personal auftreiben und sehen, welche Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ich nehme an, dass ich über das Geld verfügen darf, Eure Ladyschaft?“

„Selbstverständlich.“ Sie knabberte an ihren Fingernägeln.

„Und Ihr macht am besten das, was Ihr am besten könnt.“

„Herrschen?“

„Jagen“, stellte er klar und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. „Holt Euch den Mistkerl.“

Claudile trat ins Schlafzimmer des Barons und war nicht überrascht, dass es ähnlich wirkte wie das Arbeitszimmer. Krallenspuren, Dreck und überall der unverkennbare Geruch von Angst und Kummer. Blutstropfen. Sein Blut. Er hat sich selbst verletzt. Warum?

Die Angelegenheit wurde immer merkwürdiger.

Lyren war ein brutaler Mann, der jede Frau zur Witwe machte, die ihm gefiel. Die Rechnungen wurden nicht bezahlt.

Das Fenster stand weit auf und zeigte zum Wald hin. Die Spur war unverkennbar. Es war Zeit, den Herrn zu Rede zu stellen.

Behände sprang sie aus dem Fenster, rollte sich am Boden ab und ging gleich in ihre natürliche Form über: Muskeln, Sehnen und Fell. Die Spur war wie ein glühender Faden vor ihr, die es nicht zu Verlassen galt.

Als Wolf trippelte sie erst langsam los, ging über in einen schnellen Galopp und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald, das Vögel entsetzt aufstoben. Nach einer Weile begleiteten sie ein Rudel Wölfe.

Sie ahnten, dass es was zu sehen gab.

In der Krone einer stattlichen Kiefer hatten geschäftige Hände einen sicheren Hort gebaut. Von außen kaum zu erkennen und vor allem sehr schwer zu erreichen. Die einzige Person, die dort im Schatten kauerte, unterbrach ihr Mahl und beobachtete dem Werwolf, wie sie schnell Richtung Nordosten lief. Sie trug eine engansitzende Lederkleidung und einem dunkelgrünen Mantel – ganz nach der Art der Waldläufer. Aber sie war kein Waldläufer.

Die Gestalt lächelte sanft, beendete das Mahl und nahm Stift und Pergament um sich Folgendes zu notieren: „14/10/43: Die Fürstin ist angekommen. Tochter von Alemont. Sie schnüffelt.“ Die Gestalt runzelte die Stirn und strich den letzten Eintrag. „Geht auf die Jagd und hat Wölfen Grenzen aufgezeigt.“ Schrieb sie stattdessen. Nun gut, es war kein Roman aber dennoch haltbar. Die Frau schirmte ihr Gesicht von den einfallenden Sonnenstrahlen ab und fluchte dezent, als Licht auf ihre kalkweiße Haut traf. Sofort kräuselten sich die Haare und der Geruch von verbranntem Haar machte sich breit.

Sie musste unbedingt die Stelle ausbessern, nahm sie sich vor. Sonst würde sie eines Morgens als Häufchen Asche aufwachen und das war mehr als nur störend.

Dennoch lächelte sie hinter ihrer Kapuze. Die Fürstin würde interessante Dinge tun.

Fürstin des Nordens - Trilogy

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