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Justine

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Ein Kristallleuchter wirft mattes Winterlicht in den Raum, Schatten aus Sonnen, Monden und Sternen bevölkern die Wände. Das Sofa im Louis Seize Stil, ein wenig verlassen an der Fensterfront, der überdimensionale Schreibtisch in der Ecke, dunkel und streng. Nichts hat sich verändert seit sie allein ist und wie lange das zurückliegt weiß sie nicht mehr, ihre Erinnerung besteht aus Schattenbildern, die hin und her springen. Abends liegt sie hier und spürt wie die andere in ihr hochkriecht, sich ausbreitet, die Frau, die sie mit ihm gewesen ist. Wie viele sie schon war als sie ihm begegnete und wie viele sie noch sein könnte, auch im Alter noch, bis in alle Ewigkeit wenn sie wollte. Andere Rollen, andere Leben, andere Geschichten. Hineinstürzen und nicht nachlassen. Sie bleibt treu, sich selbst, nicht anderen. Der Sprung ins Leere, begonnen im Moment als sie sich festhielt an dem Glauben, für ihn bestimmt zu sein, wieder der Sprung ins Leere als sie erkennt, ein Irrtum, nichts weiter. Abstürze, die den Höhenflügen der Liebe folgen wie Naturgesetze. Gefühle schwingen sich auf, breiten ihre Flügel aus, suchen eine Zuflucht im weißblauen Himmel, die Alltagssonne im Nacken, die Schwerkraft zieht sie zu Boden. Sie starrt auf den Kristallleuchter, in das Winterlicht, streicht über das samtene Sofa, die abgenutzten Sitzflächen treten schon seit langer Zeit deutlich hervor. Unter ihren Fingerspitzen kaum Widerstand, sanft gleiten sie über den Plüsch hinweg, hin und her, ziehen Kreise, Schlangenlinien, legen Spuren und verwischen sie wieder. In der Erinnerung flattern Bilder an ihr vorbei wie Fotos aus einem digitalen Familienalbum, heller und klarer als jede Gegenwart.

Damals ist heute und heute ist damals. Zeiten schieben sich ineinander und verwischen zu einer einzigen Zeit. Espressowellness hält sie in den letzten Wochen mühsam wach, eine dampfende schwarzbraune Flüssigkeit, immer und immer wieder in den Rachen geschüttet wie bittere Medizin. Seit einigen Tagen hat sich eine Erkältung angeschlichen, vielleicht auch eine Virusgrippe, ohnmächtig ihr Körper wie zähes Fleisch, das von Tag zu Tag schwerer an ihren Knochen hängt. Die Träger ihres BHs nach oben verstellt, das Haarefärben, vor einigen Jahren begonnen mit Strähnchen hat sich zu einer mühsamen Prozedur entwickelt, die sie fast jedes zweite Wochenende durchplanen muss. Stunden gehen dahin, Stunden, in denen sie anderes tun könnte, Stunden, die nichts mehr bewirken als den unaufhaltsamen Verfall einzudämmen. Ansatzfärbung beim Friseur, Botox spritzen für die Stirn, Hyaluronsäure für das Kinn, enthaaren mit Wachs, Arme, Beine, Oberlippe, Bikinizone.

In schwarzweiß Previews sieht sie sich über die Straße gehen, die Zukunft ist angebrochen, keiner erkennt sie mehr, das graugesträhnte Haar hängt schwer ins Gesicht. Ihr Gang ist vorsichtig, Trippelschritte, schwankend, ein Luftzug könnte sie umstoßen. Ihre Stiefel und das weitschweifende Kleid passen nicht zum Gesichtsausdruck, in den Augen steht rund und groß ein fragendes Ich, das den Glauben an sich verloren hat. Sie streunt umher durch Schuhläden, Designerkaufhäuser, Drogeriemärkte, Lederwarengeschäfte. Die Rollen in ihrem Leben sind aufgebraucht, haben eine Hülle zurückgelassen, die papierdünn hin und her weht. Jetzt etwas kaufen, jetzt eine Reise buchen, jetzt Mails schreiben, jetzt Freundinnen treffen, jetzt den Job wechseln, die Wohnung, die Stadt, das Land, es ist einerlei, das Alter holt sie ein, der Tod wartet schon. Im Spiegel erschrickt sie über ein graues Gespenst, das nichts mehr mit ihr zu tun hat, ein lebendig verwesender Körper aus fahler Haut, brüchigen Knochen und stumpfem Haar. Könnte sie doch in ihren Vorstellungswelten leben, sich nicht an der Wirklichkeit stören, nicht an dem Alltag, der sie in eiserne Rüstungen zwingt. Ihre Welt, in hellen Bildern entwerfen, Pinsel ausschwingen und malen statt zu jammern, Jahrzehnte auf großen Reißblättern planen wie Architekten ihre Gebäude. Am besten wäre es, den Umsturz gar nicht zu bedenken, die Möglichkeit des Scheiterns nicht in Betracht ziehen. Surfen im Leben wie im Internet, sich treiben lassen, die Fähnchen nach dem Wind richten. Könnte sie es, könnte sie es, sie kann es nicht, sie muss es können.

Blutstropfen rinnen über Justines Stirn, teilen und verästeln sich, versickern in einem Papiertaschentuch auf ihrem Schoß. Ein Hämatom oder zwei oder drei verschwinden in ein paar Tagen. Diese Nadelstiche beim Botox sind unvermeidlich. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken. Sie schweigt, hält den Atem an, ausatmen oder husten beim Einstich der Nadel mildert den Schmerz. Warum tut sie sich das an? In drei Monaten spätestens wird die Stirn wieder mit Falten übersät sein wie zuvor, die Haut wie mit einem Stempel in der Mitte ihrer Stirn plattgedrückt, an die Seiten gedrängt wölben sich Hautreste auf und bilden weitere Unebenheiten. Faltenneubildung nicht ausgeschlossen, beschränkte Haftung. Täler und Hügel, ihr Gesicht eine Landschaft aus Tälern und Hügeln, ab und zu gepflügt mit Spritzen und Cremes.

Soll sie aufhören, der Natur ihren Lauf lassen bis die Falten zu Kerben werden, die ihr Gesicht zerschneiden, es aufteilen in Facetten wie ein Gitternetz? Das Brennen breitet sich aus und ein greller Schmerz lodert auf, orangerot züngelnd wie Feuer, sie beißt sich auf die Lippen. Wir sind gleich fertig. Die Stimme der Ärztin beruhigt sie, ein paar Tage und sie wird glatt sein, die Stirn, die Folgen ihres Denkens vernichtet, kaltgestellt, gelähmt, das Alter zurückgefahren in seine Grenzen. Schwarze Tränen rinnen über ihre blasse Haut, die Wimperntusche verwischt zu dunklen Rinnsalen. Sie legt den Handspiegel zur Seite, schließt ihre Augen, hält die Luft an. Der Föhnsturm hinter der Stirn wird erst in ein paar Tagen ausbrechen, zuverlässiger als manche Wettervorhersage, Ausnahmezustand bis sich das Nervengift festsetzt und seine Wirkung eintritt, die Falten auseinanderzieht. Zuschauen kann sie wie es geschieht, Verjüngung wie in Filmen, in denen Figuren in frühere Zeitepochen zurückversetzt werden. Pokerface im Job, in der Welt, draußen vor der Tür, überall, der Schutz vor zu viel Einblick in ihre Seele, niemand soll wissen, was sich hinter dieser Stirn verbirgt, wie viel Trauer hinter ihrem Gesicht, ihrem Leben verborgen liegt. Sie hält den Handspiegel hoch, kleine blaurot angelaufene Punkte, Erhöhungen an einigen Stellen, hochschießend, wuchernd im Moment des Betrachtens. Am nächsten Tag ist alles anders, die Stirn glatt und mit ihr die Welt. Marineblau das Kostüm an einem Tag, dunkelgrau am anderen, immer im Wechsel. Sie schaut hinunter auf ihre Mitarbeiter, auch auf die Männer, ihre Körpergröße hat geholfen, schon immer, bei Bewerbungsgesprächen traut man ihr mehr zu als den anderen, ihr breites Kreuz belastbar, das dunkle widerborstige Lockenhaar zum Pferdeschwanz gebunden, die großen Zähne weiß und strahlend, dünner die Sauerstoffzufuhr in luftigen Höhen, aber auch reiner und frischer. Ein kaum künstliches Lächeln zieht sich über ihr Gesicht, ihre Augen bleiben stumpf, ihr Lächeln taut auf und ab, friert ein und taut auf. Ihre Mundwinkel müssten Muskelkater bekommen, aber da ist nichts, zwei dünne Linien mit Hyaluronsäure gut aufgepolstert einziger Hinweis auf eine Mimik.

Die Assistentinnen im Job sehen sie an als wünschten sie, in diesem Alter nicht mehr arbeiten zu müssen. Das Letzte, was Justine braucht, ist Mitleid von Untergebenen, sie hält ihren Kopf aufrecht, stolziert durch die Gänge, Kopf hoch, Brust raus, jetzt erst recht, sie lächelt. Ihre Körpergröße und das hochgesteckte dunkle Haar geben ihr eine Überlegenheit, immer auf Augenhöhe, meist darüber verhandelt sie. Und doch ist ihr alles zu viel, seit Jahren schon, viel zu viel. Nach Meetings schießen Tränen in die Augen, nicht zu gebrauchen, zurückdrängen, auf der Toilette vergießen, sich nichts anmerken lassen, den anderen die Stimmung nicht vermiesen. Sie wischt um die Augenlider, die wasserfeste Wimperntusche schmiert immer wieder, Ströme von schwarzem Wasser laufen hinunter. Warten bis die Kolleginnen den Waschraum verlassen haben, die Stimmen verklungen sind. Sie wird etwas erzählen über Probleme mit neuen Kontaktlinsen, über mangelnde Tränenflüssigkeit und Benetzungslösungen. Selten fragt jemand, sie muss auf alles gefasst sein, Antworten parat haben, reagieren, klarstellen. Sie hört Spülungen rauschen und Kolleginnen vor dem Spiegel Gespräche führen, wie frei sie reden, als fürchteten sie sich vor nichts.

Sekretärinnen, Teamassistentinnen, sie können es sich leisten, eine eigene Meinung zu haben, verlieren sie den Job lassen sie sich fallen in ihre Töchterrollen, Mutterrollen, Ehefrauenrollen. Was hat sie? Nichts, ein Leben im freien Fall wenn sie nicht ihrer Karrierefrauenrolle entspricht, sie anzieht, ihre zweite Haut, sie sich einverleibt, um von ihr gefressen zu werden. Die Vorstellung sich selbst aufzuessen, diese Gedanken kommen und gehen, kommen wieder, gehen wieder, kommen wieder. Zuerst nur ein Knabbern an den Nägeln, den Fingerspitzen, sich die Haare raufen, ausreißen, später die Faust im Mund, am Ende nichts mehr da von ihr, ein offener Schlund, der sich selbst ausgelöscht hat. Sie denkt an die Selbstmorde in Japan, an überarbeitete Menschen, die irgendwo hinunterspringen, sich irgendein Eisen in den Leib rammen, irgendeine Substanz essen oder trinken, sie denkt an Auslöschung und Ruhe. Als sie nichts mehr hört und auch die Schritte auf den Fluren verhallen, die Stimmen abschwellen, die Spülungen ruhen, Lufttrockner schweigen wischt sie ein letztes Mal mit dem doppellagigen Papier über das Gesicht, tupft die Augenwinkel trocken und drückt sehr vorsichtig und langsam die Türklinke. Schon lange möchte sie sich diese Szenen ersparen, nicht mehr heimlich weinen müssen, wie eine Übelkeit drängt der Tränenfluss nach oben, sprüht durch die Luft. Eines Tages, eines Tages lässt sie es einfach laufen, Tränen, Schweiß, alle Flüssigkeiten, die aus ihr heraus laufen, sollen gesehen werden.

Als sie an diesem Tag in den Spiegel schaut ist die Wimperntusche nicht so verschmiert wie sonst, die Augen nur mäßig gerötet, eher blankgeputzt wie staubige Straßen nach einem schweren Sommergewitter. Sie schnäuzt sich, pudert die Haut, tuscht die Wimpern nach, tupft rosé farbenen Gloss auf die bebenden Lippen. Reste schwarzer Farbe unter den Augen lassen sich mit Wasser und Seife leicht entfernen, reißfeste Kosmetiktücher liegen bereit zum Trockentupfen, an alles ist gedacht. Wie faltenfrei ihre Stirn noch ist, wie nachhaltig die Wirkung der letzten Botoxinjektion. Sie kann jetzt beruhigt gehen.

Justine? Hier bist du. Wir haben uns Sorgen gemacht. Alles gut? Sie lächelt, dreht sich um und verleiht ihrer Stimme einen heiteren Klang. Alles gut. Danke. Fragt sie jemand nach ihren Wünschen? Das Leben ist kein Zuckerschlecken, Karriere kein Kinderspiel, Beziehung kein Ponyhof. Sie mag weder Ponyhöfe noch Kinderspiele noch Zuckerschlecken. Und doch wagt sie sich manchmal etwas anderes vorzustellen. Wie es wäre zu schweben in weißblauen Lüften ohne Angst, ohne Reue, ohne Konsequenzen? Große Gefühlsarien auf einer Guckkastenbühne, Vorhang auf, Liebessakte, Eskapaden, operettenhaft schwülstig, schwerer weinroter Samt mit verschlungenen goldenen Kordeln. Am Ende Applaus. Sehnsucht nach dem anderen Leben, ohne zu wissen was das sein sollte jenseits der Sehnsucht. Wach` auf. Reiß dich zusammen. In Klischees zu schwelgen hat noch niemandem geholfen, Sehnsuchtsbilder wie Fleißkärtchen mit kleinen Putten und Engeln in Pastellfarben mit goldenem und silbernem Rahmen. Selbst ist die Frau. Was sie nicht umbringt macht sie nur härter. Jeden Morgen das Haar aufstecken, ihre Naturlocken sind störrisch, schwer zu bändigen, jeden Morgen in den engen dunkelblauen Rock, jeden Morgen in die Seidenstrümpfe, im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß.

In den überhitzten regenreichen Sommermonaten nutzt sie die morgendliche Kühle, bricht früh auf und fährt mit dem Aufzug aus der Dachterrassenwohnung in die Tiefgarage, steigt in ihren klimatisierten Wagen und bringt Charlotte in ihre private Kita. Sie könnten auch zu Fuß laufen, es ist nicht allzu weit, aber alle Kinder werden chauffiert, das ist so üblich. Wie sie hinausspringt, leicht und frei, ein kleines Mädchen mit blonden Locken und einer Brotzeittasche aus rosarotem Lackleder. Der Park, der das Gebäude umgibt, lockt wie ein Märchenwald, hinter dem ein verborgenes Schloss auf Besucher wartet. Ein gusseisernes Gitter trennt sie von der Straße, in der Luft flattert die Leichtigkeit des frühen Morgens, die Stille vor der ersten Unterrichtsstunde, nur von Vogelzwitschern unterbrochen.

Justine wendet, tritt aufs Gaspedal, startet in ihren Tag. Mit dem gläsernen Lift schießt sie in die oberste Etage des Firmengebäudes, das in einem Industriegebiet vor der Stadt liegt. Unter ihr verschwindet der Stau aus hupenden Autos, Fahrrädern, Fußgängern, die in großer Eile in ihre Bürotürme laufen, verschwinden die kupferroten Dächer der Häuser. Sie fliegt dem luftigen Blau des Himmels entgegen. Diese Leichtigkeit, die Füße vom Boden hochgehoben, die Schwerelosigkeit, sie sieht zu wie sie sich immer weiter entfernt von allem, die Welt versinkt wie eine Miniaturstadt unter ihren Füßen. In diesen Momenten noch vom Schlaf erholt, denkt sie an die vielen Dinge, die sie tun würde, wäre sie nicht hier. Beim Aussteigen empfängt sie ein kühler Luftzug. Wie liebt sie die Ruhe der Frühe, die kaum hörbaren Schritte der Kollegen auf dem Teppichboden, das entfernte Rascheln der Tageszeitungen hinter den Türen der Vorstände. Ihre Assistentin serviert duftenden schwarzen Espresso, sie trägt Slingpumps, das wäre nicht nötig, sie trägt sie freiwillig, meint, es wäre nötig. Pressespiegel? Ja bitte. Die neue Espressomaschine ist gut, besser als der Filterkaffee, viel besser, sie freut sich, schaut aus dem Fenster und lächelt. Das Gefühl, es geschafft zu haben breitet sich aus und erreicht seinen morgendlichen Höhepunkt. Noch schrillt kein Telefon, kein Handy, die Mails noch nicht aufgerufen, hunderte jeden Tag, sie beantwortet sie alle. Head of Marketing, sie ist Kopf des Marketing, Marketingkopf. Dieser Espresso, schwarzbraun bitter, ist es wert, die Schule für Charlotte, die Dachterrassenwohnung im Szeneviertel ist es wert. Dafür hält sie ihren Kopf hin, ihren Marketingkopf.

Sie lehnt sich zurück und betrachtet den Stau unten auf der Straße wie aus einer anderen Welt, die Panoramascheiben mit Doppelfenstern lassen keinen Laut durchdringen. Ist es eine Mausefalle, in der ihr Körper feststeckt, die Beine zappeln, die Arme rudern? Je mehr Bewegung umso fester zieht sich die Schlinge zu. Rudern, weiter rudern und der Horizont wird sich auftun, die Weite, das Meer, der Sandstrand. Dieses positive Denken, das Träumen gelingt nicht, es muss dem Alltagswahn weichen, der sich aufdrängt, er versperrt die Türen zu den Träumen, stellt schwere Sandsäcke davor wie zur Verdrängung von Wasserfluten. Das Modell ihres Lebens, es muss gelingen. Muss, muss, muss, morgens erwacht sie mit der Gewissheit des Müssens, abends schläft sie damit ein, muss, muss, muss wie ein lästiges Ohrgeräusch.

Spielen mit Charlotte, sieben, Förmchen mit lockerem goldenen Sand füllen, wie lange ist das her? Sonntagnachmittage in schwüler Hitze, Windeln gewechselt, Trinkflaschen aufgeschüttelt, Nase gewischt, schattenspendende Bäume gesucht. Feiner Sand, der auf feuchte Kuchen gestreut wird, versinken können, die Ruhe vor der nächsten Woche, wie viele Stunden noch? Samstags lenkt sie das Einkaufen ab, Klavierunterricht für Charlotte, sonntags Anstürme von Tränen beim Erwachen. Sie sieht den nächsten Arbeitstag vor sich, die nächste Arbeitswoche, Berge von Arbeit durch die sie hindurch muss, sie türmen sich auf und vermehren sich über Nacht. Es ist zu viel, alles zu viel, viel zu viel. Sie hat Mann, Job, Kind, Kind, Job, Mann. Was will sie mehr? Sie weint, presst ihre Faust auf die Augen und versucht sich zu beruhigen. Du hast doch alles, was willst du noch? Sie weiß es selbst nicht.

Wie ist sie in all das hineingeraten? Mit Anfang Dreißig heiraten alle um sie herum. Seid ihr alle da? Ja. Wie beim Kasperletheater antworten sie einstimmig mit Ja wie gewünscht. Auf einmal erscheinen auf der Bühne des Lebens Traummänner und Traumfrauen, eine ganze Invasion von Paaren, Hochzeitskarten, Babyfotos überschwemmt sie, das erste, das zweite, das dritte Kind. Wie vom Himmel gefallen, aus den Wolken herab geregnet bevölkern junge Familien die Erde. Rosarot und himmelblau strampeln winzige Füßchen in die Luft, Blubberbläschen auf rosigen Lippen, Babyflaum auf den Köpfen, rundherum wohliges Gebrumme. Niemand stellt sein Handeln infrage, als sei das Aufziehen einer weiteren Generation eine Verpflichtung über die man nicht reden müsse. Erst später taucht sie auf, eine Frage, nur eine einzige, die alles entscheidende Frage. Sie naht wie ein Wirbelsturm, bläht sich auf von allen Seiten, knickt Lebensentwürfe um, bricht langjährige Planungen entzwei, stellt sich allem in den Weg was an Erkenntnissen, Weisheiten, Einsichten angehäuft daliegt: Ist das alles? Sie heiratet spät, aber sie heiratet, sie bekommt ihr Kind spät, aber sie bekommt es. Fast vierzig Jahre ihres Lebens sind schon um als sie beginnt an die Familie zu glauben. Jetzt ist sie da, die Frage, jetzt ist sie auch bei ihr angekommen.

Niemand soll es hören, niemand sehen, sie weint, es weint aus ihr heraus, laut und lästig schluchzt sie wie ein kleines Mädchen. Draußen Schneeflockengestöber vor dem Fenster, wirbelnd, zu rasch, ihr wird schwindlig wenn sie zusieht. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken. Sie muss wieder zurück an ihren Schreibtisch. Am späten Nachmittag gönnt sie sich Aperol Spritz, sie schüttet Campari ins Glas, Soda dazu, nicht der Geschmack ist es, der sie lockt, auch nicht die Wirkung, die Farbe stimmt sie froh, das Orangerot, es leuchtet ihr entgegen. Aura Soma, ihre Regenbogenfarben, Farben der Seele. Während sie die Flüssigkeit in winzigen Schlucken am Gaumen entlang gleiten lässt bricht und bröckelt es an allen Stellen, ihr pudriges Makeup hinterlässt ebenso Spuren am Glas wie der dezent rote Lippenstift. Abends vor dem Spiegel sieht sie wie die Haut sich löst, fahle Schuppen abfallen wie Putz oder Mörtel. Eine Maske löst sich aus Make up Resten und Fetzen abgestorbener Haut. Sie betrachtet das weiße Wattepad mit den bräunlichen Spuren, legt es zur Seite, setzt sich auf den Toilettendeckel und schlägt die Hände vors Gesicht. Ihr Kopf vornübergebeugt, das Haar struppig und vom Färben hart, steht zu beiden Seiten des Kopfes ab, in sich zusammengesunken ihr Körper, federleicht, als zerfalle er zu Staub. Und es wird etwas geschehen, was sie nicht vermutet, etwas, was die Dinge wendet und dreht und wieder dreht und wendet.

Er steigt wie ein Phönix aus der Asche ihres Lebens. Ein jugendlicher Liebhaber mit dunklem Locken, er sieht aus wie er aussehen soll, er tut, was sie will. Glutrote Hoffnung, himmelblaue Augen, die besten Absichten, ein Künstler. Und noch ehe sie begreift was geschieht ist schon alles geschehen, noch ehe sie nachdenkt ist ihr Leben ein undenkbares. Und auf einmal kann sie handeln, der Stillstand gerät aus den Fugen, Aufruhr und Bewegung herrschen, fast hatte sie vergessen wie das aussieht. Buntes Leben, helle Tage, hüpfende Herzen.

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