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Charlotte

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Sie liegt in einem Dämmerschlaf zwischen Himmel und Erde, nicht ganz schlafend, noch nicht wach und sieht Leonardos Locken vor sich, schwarze schimmernde Locken, in denen Justines Hand sich vergreift, sein Kopf in ihrem Schoß. Wo hat sie das gesehen? Davor schiebt sich ein anderes Bild. Das Haar ihres Vaters weich und ausgedünnt, sie streicht ihm über den Kopf, es fühlt sich an wie der Pflaum eines Babies. Er ist nicht da, Leonardo ist da. Tagsüber in seinem Arbeitszimmer tippt er Buchstaben in den Computer, sein Körper sitzt dort, er selbst ist anderswo in Gedankenwelten unterwegs. Ein Sirren und Klappern dringt durch die Türritzen, unterbrochen von Pausen, in denen eine Stille sich endlos dehnt. Blass, den Blick in eine weite Ferne gerichtet, stellt er Fragen wie auswendig gelernt. Hast du Hunger? Willst du etwas essen? Trinken? Nein, nein. Sie schleicht sich vorbei ins Kinderzimmer. Allein sein, aus dem Fenster träumen, der Garten unter ihr, Herbstlaub, Schneeflocken, Apfelblüte, Sommerrasen. Auf Apfelblüte, Herbstlaub, Schneeflocken und Sommerrasen kann sie sich verlassen. Der Lärm der Kita, der in ihren Ohren nachhallt schwächt sich ab, die Stimmen versiegen, die Stille des frühen Abends umhüllt sie. Er gefällt ihr nicht, er muss ihr gefallen, er gefällt ihr nicht. Es soll ihr gefallen, der Liebhaber ihrer Mutter, der Mann, der bei ihnen lebt, der dunkelgelockte Fremde. Das Leuchten in Leonardos Augen, Blitze zucken auf wie Feuerwerkskörper und verlöschen. Sie lauscht an seiner Zimmertür wenn das Tippen unterbrochen ist, er telefoniert. Ein Lachen, das sie nur von Stimmen der Bösen aus Hörspielaufnahmen kennt, ein schallendes, hallendes, metallisches Lachen, endlos gedehnt. Sie hört ihn telefonieren, seine Stimme selbstsicher, sein Lachen fremd, ein Telefonlachen, lange und laut, künstlich und scheppernd als lache er jemanden aus, Mä ze nin, Mä ze nin. Mäzenin. Meine Mäzenin. Und wieder dieses Wort: Mäzenin. Klingt wie Kaiserin oder Fürstin oder Mätresse.

Wer nicht fragt, bleibt dumm. Mama, was ist der Unterschied zwischen Mäzenin und Mätresse? Justines blasses abendliches Gesicht fällt in sich zusammen, stürzt ein, ein Altersschub, die Zeit zusammengezurrt, in die Zukunft gebeamt. Leonardo dreht sich zur Seite, um die Mundwinkel zuckt es als bemühe er sich, ein Lachen zu unterdrücken. Eher als vermutet fasst sie sich wieder, die Stirn glättet sich, ihre Stimme fängt sich nach den ersten Worten und endet in einem festen Ton. Erkläre ich dir später. Sie läuft ins Bad, lange rauscht Badewasser, noch länger schließt sie sich ein, als sie die Tür wieder öffnet sind ihre Augenlider geschwollen und das Gesicht rötlich aufgedunsen. Vielleicht bedeutet Mäzenin doch so etwas wie Mätresse, aber Leonardo ist kein Fürst, kein König, kein Herrscher, wie sollte er sich eine Mätresse leisten können? Mäzenin, Mätresse, sie muss das herausfinden, der Klang des Wortes erinnert sie an etwas. Versailles, Paris, Versailles, Hand in Hand mit ihrer Mutter, ihre erste Reise zu zweit.

Ludwig der XIV, der Sonnenkönig mit seinen Mätressen am Hof in Frankreich, einen Tag nach Leonardos Einzug, ihre Reise mit Justine. Was für ein schöner Park! Sie flanieren im verregneten französischen Frühling auf aufgeweichten Kieswegen, ein Sumpfgebiet, in dem jeder Schritt einsinkt. Sie trägt ein Kleid mit hellblauen Streublümchen, weiße Lackschuhe und eine Handtasche aus weißem Kunstleder über die Schulter drapiert. Mit den Schuhen wagt sie es kaum abseits der Wege aufzutreten, um keine Schlammspritzer zu riskieren. Im Schloss laufen sie zwischen Reisegruppen hindurch, schlängeln sich durch Sprachengewirr und blitzende Kameras bis sie in die Unendlichkeit gespiegelter Spiegel fallen. Liegt es an den gespiegelten Unendlichkeiten, an der Überfülle aus Gold und Glanz oder an der Luft, die in dicken Schwaden wie Nebel vorüberzieht, sie hechelt, muss sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.

Ein Blick aus dem Fenster auf die Gartenanlage, sie atmet durch, sie schließt die Augen. Wie wäre es, Marie Antoinette zu sein, die Frau Ludwigs des XVI, am Latona Springbrunnen mit goldenen Fröschen zu sitzen und in die endlose Weite der Parkanlagen zu schauen? Endlose Nachmittage vergehen und nichts geschieht außer dem Plätschern der Springbrunnen und dem Rauschen des Windes, der durch Baumkronen streicht, einige Gesellschafterinnen fächern ihr Kühle zu, man plaudert bis ein Teewagen kommt und Petit Fours mit rosarotem Zuckerguss serviert werden. Als die Sonne versinkt, der Himmel sich violett in Streifen verfärbt und der Fliederduft einer herben Abendnote weicht fährt eine Kutsche vor und bringt sie zu ihren Gemächern. Noch immer hält der Schwindel sie gefangen, je länger sie aus dem Fenster sieht, umso unwirklicher wird ihr eigenes Leben, umso mehr verschwimmt es mit dem, was sie träumt. Diese weißen Kieswege, scheinbar ins Nichts führend, sternenförmig angeordnet wie die Straßen von Paris. Vielleicht gehört sie gar nicht in die Gegenwart, sondern in eine andere Zeit als Prinzen, Prinzessinnen, Könige und Mätressen noch über Schlösserflure mit dicken Geräusche schluckenden Teppichen liefen, in Gartenanlagen flanierten und Kuchen aßen statt Brot während ihre Bediensteten sich beeilten ihre Wünsche von den Augen abzulesen noch ehe sie gedacht waren. Ihr geblümtes Kleid aus Seidentaft und Lackschuhe, die weiße Tasche passend zur Umgebung, nur ein winziger Schritt in der Zeitepoche zurück versetzt und sie wäre verwandelt. Marie Antoinette sein, Königin von Frankreich, eine andere sein, eine neue Rolle spielen stellt sie sich himmlisch vor, verkleiden, schminken, tanzen. Am Ende wieder sie selbst sein, verwandelt und erlöst. Und das alles unter dem tosenden Applaus des Publikums, Millionen klatschender Hände, Jubelschreie wenn sie auf die Balustrade tritt oder in einer goldenen Kutsche durch die Straßen zieht. Ein Fremdenführer spricht in drei verschiedenen Sprachen abwechselnd über die adligen Höfe in aller Welt, die versuchten, den Stil von Versailles zu kopieren. Eine Welt aus Plüsch und Pastellfarben. Glänzende Pralinen aus Nougat und Marzipan zu Schuhen und Stiefeln geformt, mit Zuckerguss überzogene Torten in rosa und weiß stapeln sich vor ihr, Rüschenkleider und Korsetts, auf dem Rücken geschnürt und Damen, die in Café Crème baden wie in Ziegenmilch. Sie sieht das Leben am Hof vorüberziehen, Bankette mit Latte Macchiatogläsern, groß wie Swimmingpools mit einer goldenen Leiter zu erklimmen, um kopfüber einzutauchen, Sahnehäubchen wie schneeweiße Inseln auf heißem Kakao und meterhohe Blaubeertorten mit Vanilleeis gekürt wie Berggipfel. Ich möchte Prinzessin werden. Oder Schauspielerin, eine Schauspielerin, die Prinzessin spielt, einmal Prinzessin, immer Prinzessin. Ich möchte Schauspielerin werden. Mama, hast du gehört? Ich möchte Schauspielerin werden. Das kannst du vergessen. Justines Stimme klingt als beiße sie eine unreife grüne Zitrone. Charlotte lacht als ihre Mundwinkel sich nach unten verziehen, die Haut auf dem Nasenrücken gekräuselt, die Stirn in Querfalten gelegt, das Gesicht von einem Spinnennetz überzogen. Prinzessin? Schauspielerin? Wie kommst du darauf? Mir hat auch keiner den roten Teppich ausgerollt, Erfolg muss man sich erarbeiten, Neid muss man sich erarbeiten, Mitleid bekommt man umsonst. Ich bin auch nicht mit Samthandschuhen angefasst worden. Schauspielerin, das ist das Letzte, das Allerletzte, Schauspieler gehörten bei den Römern zum Lumpenproletariat. Willst du in einer ungeheizten Dachkammer verhungern? Kein Job, kein Mann, kein Kind, willst du das? Sätze wirbeln durcheinander, überschlagen sich, bevölkern ihre Gedanken, schlingen sich um ihre Träume wie Kobras.

Jetzt erst recht. Charlotte sieht sich in der Zukunft spielen, bald, sehr bald, aber noch steht sie nicht auf einer Bühne. Ein Abonnement im staatlichen Schauspielhaus, einmal im Monat Theater, schon Stunden vor der Aufführung bekommt sie fiebrige Wangen. Sie seziert Gesichter und Körper der Schauspieler mit dem Opernglas, der wie ein Röntgengerät alles in eine unnatürliche Nähe rückt. Der vergrößerte Blick in ihre Münder, als könne sie die Art, wie sie die Worte aussprechen, lernen, ihre Mimik, ihre Haut, sie betrachtet jede ihrer Poren, studiert ihr Haar, ihre Körper, ihren Gang, die Bewegung der Arme und Beine. Ist sie schön genug, begabt genug? Sie weiß es nicht. Auf der Bühne riesige hässliche Frauen, kleine Männer, metallene Stimmen, lispeln, stottern und doch spielen sie die anderen gegen die Wand. Charlotte fahndet weiter, ein Geheimnis muss erforscht werden, es liegt in der Luft, wenn sie abends an die Zimmerdecke schaut spürt sie es um sich flattern und knistern, schillernde Farben, glänzende Gebilde, sie greift danach, sie lösen sich auf. Die Zauberformel will gefunden werden, die Schauspielformel, die Kunstformel.

Zerplatzte Seifenblasen mahnt Justines Stimme in ihr, Träume sind Schäume, das wird sowieso nichts werden. Mach`‚ dich unabhängig, verdien` dein Geld, so kannst du dir die Männer aussuchen, die Wohnung, den Job, alles kannst du dir aussuchen. Ihre Stirn legt sich in Falten, eine Mimikspur zieht sich über der Nasenwurzel zusammen, verläuft weiter nach unten und mündet in zwei diagonalen Einkerbungen neben dem Mund. Die Haut ihrer Mutter ist von Zeit zu Zeit straff hinter die Ohren gezogen, lockert sich wieder und fällt ein, als zöge jemand mit einem unsichtbaren Gummiband daran. So wandelbar ihre Gesichtshaut, so wandelbar auch ihre Meinung. Glaubt sie sich selbst, was sie sagt? Ihre Stimme klingt zu sicher, zu fest, zu laut, als spreche sie Sätze auswendig, Redensarten, Allgemeinplätze, die eine Wahrheit besiegeln wollen. Aber was gesagt ist, ist noch lange nicht wahr. Charlotte bläst die Wangen auf und stöhnt, dreht sich um und schweigt. Ihr Versailler Vormittag neigt sich dem Ende zu, Charlotte wirft einen letzten Blick auf die goldenen Frösche am Brunnen. Der verregnete französische Frühling rettet sie in eine Traumkulisse während die Stimme ihrer Mutter leiser wird und sich im Sprachengeraune der Touristen verliert.


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