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Charlotte

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Der Zauber des Anfangs steckt noch in den Knochen. Das Dauerlächeln beginnt schmaler zu werden, aber es steht noch Morgen für Morgen auf den Gesichtern. Charlottes Augen leuchten, liebäugeln mit Leonardo am Frühstückstisch wie mit einem Geschenk unter dem Weihnachtsbaum, das ausgepackt werden muss. Silbriges Papier raschelt, Sterne blinken, goldene Schleifen kräuseln sich. Er kauft Blaubeeren zum Frühstück und sie angelt in der Müslischüssel nach den runden kleinen Bällchen, die ihr immer wieder vom Löffel fallen. Ihr schneeweißes Kleid hat am Kragen und an den Armsäumen Spitzen wie ein Hochzeitskleid. Sie verwendet große Mühe darauf, es nicht mit Blaubeeren zu beschmieren, nur die Zähne färben sich dunkel und an den Fingerspitzen kleben kleine Flecken. Eines Tages heiraten in Weiß, eines Tages Prinzessin sein und in einem Schloss wohnen. Charlotte träumt und wünscht und hofft und lacht und wenn Justines Augen zucken oder die Mundwinkel nach unten fallen prustet sie los. Es ist ein Lachen, das leicht kippen, in einem Weinen oder Schluchzen enden kann.

Die Tage sind lang. Lange Tage, lange Wochen, lange Jahre zieht sich der Kindheitsalltag hin. Nächtliche Träume sprühen Farbe, helle Funken, in den grauen Morgen hinüber gerettet. Das frühe Aufstehen scheucht sie auf aus ihrer rosaroten Prinzessinnenwelt, sie schlüpft in Kaschmirpullover mit riesigen Herzen auf der Brust, sie lackiert ihre Nägel zartrosé, sie trägt Ballerinas im Sommer und weiße Fellstiefel im Winter. Wenn Leonardo sie aus der Kita abholt schlurfen ihre Füße über den Asphalt, sie sehnt sich nach Süßigkeiten, weiße Mäuse aus weicher Gummimasse, die sich zwischen den Zähnen herausziehen lässt, Lakritz in schwarzpink oder grünpink, saure Pommes mit Zucker bestreut. Müdigkeit breitet sich aus nach all den Stunden spielen, tanzen, singen, essen, trinken, reden und drückt schwer, flüssiges Blei in ihren Adern. Alles zieht nach unten, tief in den Boden hinein, der sich auftut und sie fast verschlingt. Mit Leonardos Einzug hat Justine ihre Chauffeurdienste eingestellt. Keine weichen Ledersitze, kein pfeilschneller Wagen mehr, stattdessen ein mühsames hin –und her morgens und abends.

Ihre Augen bleiben auf dem dunklen Pflaster haften, sie versucht, keine Abgrenzung zu betreten, nur die Platten berühren, keine Zwischenräume, so kann ihr nichts passieren. Ohne traurig zu sein muss sie manchmal weinen, es ist zu viel, jeden Tag zu viel, zu viele Kinder, zu viel Spaß, zu viel Lernen, zu viel von allem. Aus den Augenwinkeln quillt eine Träne, zwei, es werden mehr, sie weiß nicht warum, es beruhigt sie. Ein Fließen wie ein Bachstrom, ruhig und regelmäßig, ein Rhythmus. Langsamer gehen, bitte. Leonardo nimmt ihre Hand und zieht sie weiter zum Kiosk. Ein Eis? Kaktuseis, ja! Es knackt und knirscht an den Schneidezähnen als sie hinein beißt in den lindgrünen Überzug, kleine Luftbläschen im Mund, süß und kalt schmilzt das Wassereis und sie lacht zum ersten Mal seit langer Zeit. Vor dem Abendessen sollen wir doch nichts Süßes kaufen! Du darfst es nicht verraten, ein Geheimnis, nichts der Mama sagen. Sie nickt, schließt die Augen, lutscht an ihrem Eis und lässt sich von ihm fortschleifen. Ihre himmelblauen Ballerinas mit eingerollten Zehen über dem Asphalt wie beim Tanz, fast schwebend. Nichts tun wäre eine gute Sache und wenn auch nur für einen einzigen Tag, sich auf den Boden legen und an die Decke starren, so lange warten bis eine Melodie ins Gedächtnis kommt, sie summen, dem Summen nachhorchen, einschlafen, träumen, vergessen. Charlottes Tage folgen einem festgelegten Ablauf, jede Lücke belegt bevor sie entsteht. Lückenlos reiht sich Tag an Tag, Alltag an Alltag, Alltag an Feiertag, Feiertag an Feiertag, Feiertag an Alltag, eine endlose Reihe von Tagen. Abends malt Leonardo großformatige Bilder für sie, Regenbogenfarben überwuchern weiße Leinwände, die Wohnung angefüllt von buntem Gegenwartsglück. Scheue Augenblicke, in denen sie die Augen senkt oder zur Seite schaut, zufällige Berührungen der Hände oder Arme, bei denen sie zusammenzuckt, eine unsichtbare Schmerzgrenze markiert den Abstand zwischen ihnen. Da ist etwas, das wird sie nicht los. Ein Tag, an dem Umzugskisten hin und hergeschoben werden, das Rasseln des Aufzugs, leise Stimmen um sie herum, Blicke zweier Männer, die zu Boden gleiten. Fliegender Wechsel, ihr Vater ausgetauscht gegen einen anderen. Halbglatze gegen Lockenschopf, sanfte dunkle Stimme gegen bestimmende helle, achtundvierzig Männerjahre gegen neununddreißig. All das geschieht in großer Eile, als müsse ein langjähriges Missverständnis endlich behoben werden, als sei die Familie bisher ein peinlicher Irrtum gewesen.

Seine erste Nacht in der Wohnung, ungefragt ist sie nun auch seine Wohnung, von einem Tag zum anderen, noch Jahre später in ihr Gedächtnis eingegraben, die Bilderfolge traumlogisch aneinander gereiht. Charlotte wacht auf und weiß, etwas ist anders und wird für immer anders bleiben. Sie hält die Augenlider fest geschlossen und spürt das grelle Licht des Vollmonds hindurch scheinen. Durch die dünne Haut leuchtet alles rosarot, Umrisse von Möbelstücken zeichnen sich ab, dunkle Konturen, der Vorhang, die Wand. Etwas ist anders als in der Nacht zuvor, anders als in allen Nächten zuvor, anders ist es und bleibt es. Noch eben war es da, das Gesicht ihres Vaters, winzig klein und verschrumpelt, es entfernt sich langsam, sie will es fassen, es löst sich auf in Pixel, die auf dem Bildschirm flimmern. Er sieht aus wie ein sehr alter gebückter Mann, er winkt ihr zu, lächelnd, nicht enttäuscht oder böse, nur lächelnd, sie schreit auf. Seine Haut, faltig, ledern, bräunliche Grundierung mit gesprenkelten Altersflecken, Augen und Kinnpartie hängen hinunter. Sein Blick aus hellblauen Augen, dunkler werdend, je länger, je tiefer sie hinein schaut, sich darin versenkt, umso mehr spürt sie seine Trauer. Seine Stimme spricht noch Wochen nach dem Auszug zu ihr, ein melodisch weicher Klang, von Tag zu Tag mehr verhallend. Unter ihr klebt es, feucht und warm. Sie ahnt die Wahrheit, will sie aber nicht wissen. Beißender Essiggeruch durchdringt ihre Nase, treibt sie aus dem Bett, aus dem Zimmer. Mama, Mama, sie weint ohne es zu wollen, schreit ohne es zu wollen. Ihre Augen reißen auf, das Zimmer tritt in Erscheinung, hell-dunkel-Kontraste, ausufernde Konturen, verschwommen wie im Weichzeichner, gedehnte Umrisse von Möbeln, Bildern, Spielzeug. Im hellen Mondlicht ragen die überlangen dünnen Beine der Barbiepuppe aus dem Bett als würde sie strampeln wie ein Baby. Sie greift nach ihnen, sie liebt das kräftige kurze Knacken in den Kniegelenken wenn man sie umbiegt, immer und immer wieder, das beruhigt sie. Tränen rinnen auf den Teppichboden, sickern ein, hinterlassen dunkle kleine Stellen. Das Nachthemd klebt an ihrem Rücken, die Nässe ist noch warm, nicht unangenehm, nur der Geruch bohrt sich in feinen Nadelstichen in ihre Nase. Etwas zieht sie zur Treppe, das Holz der Stufen kalt wie Eisschollen unter ihren Fußsohlen, sie läuft rascher, fällt beinahe, fängt sich, stützt sich mit den Händen ab.

Auf allen Vieren kriecht sie zum Altar der Liebe ihrer Mutter, dem schwarzgrauen Futon, wie ein offenes Grab liegt es da, umrahmt von dunklem Holz, kohlrabenschwarz Bezug und Kopfkissen, fast den ganzen Raum nimmt es ein. Wie sie daliegen, leichenblass, Justine und Leonardo nebeneinander, ihre Körper nicht umschlungen, berühren einander kaum, ihre Gesichtszüge entspannt, ihr Atem gleichmäßig. Justines Augenlider zucken als sie sie anstarrt, sie dreht sich zur Seite, dreht sich wieder zurück, schreckt auf: Was ist? Was ist los? Mama, Mama. Charlottes Gesicht verzieht sich, auf dem Teppichboden bildet sich eine Pfütze, ein ovaler Fleck, der nachdunkelt, es riecht streng. Sie kriecht ins Bett und weint weiter, Nässe überall, Tränen, Schweiß, Urin. Wie Justine sie in den Arm nimmt und an sich presst. Sie genießt die Wärme ihres Körpers, wie sich auf ihren überträgt, Wellen drängen heran und überschwemmen sie. Ein Aufschrei als sie ihre Nacktheit bemerkt, ein durchweichtes Etwas aus Tränen, Urin und Schweiß. Die Mutter lässt sie nicht los, hält sie weiter, trotz allem. Er soll verschwinden, Mama, mach` dass er verschwindet, bitte! Seine Haare sind komisch, Männer haben nicht solche Haare, so lang, diese Locken wie ein Monster. Die Feuchtigkeit erwärmt sich, an den stechenden Geruch beginnt sie sich zu gewöhnen. Justine streicht über ihre Wangen, sie weint nicht mehr, nur noch ein leises Schluchzen im Nachklang, es verliert sich im Dunkeln. Durch das Rollo am Fenster dringen Mondstrahlen ins Zimmer, fahl und matt, aber doch hell genug, um die Augen ihrer Mutter zu erkennen. Ein Flackern, eine züngelnde Unruhe herrscht darin, aber das ist ihr egal. Charlotte fürchtet sich nicht, nicht vor ihrer Mutter, nicht vor diesem Flackern, nicht vor dem schlafenden Lockenschopf auf dem Futon. Was willst du von ihm? Er gehört nicht zu uns. Justines Fingerspitzen gleiten durch ihr verfilztes feuchtes Haar, es ist an einigen Stellen verknotet, sie versucht es zu glätten. Hast du Angst vor ihm? Hat er dir etwas getan? Nein, nein, er soll nur weg. Weg soll er, weg! Er muss weg! Er gehört nicht zu uns. Lass´ uns nach unten gehen. Ich muss morgen früh raus. Nein. Ich will hier schlafen, Mama, bitte. Das geht nicht. Ihre Stimme weniger energisch als gewollt, sie rollt sich aus dem Bett und seufzt mehrere Male laut hintereinander. Ich bringe dich in dein Bett. Ihre Stimme klingt gequält und die Worte kommen langsam gedehnt, müde wie im Halbschlaf. Aber Mama, findest du nicht auch, dass er schreckliche Haare hat? Diese Locken, wie eine Perücke. Charlottes Köpfchen liegt schwer auf der Schulter ihrer Mutter, die Beine baumeln, die blasse Haut eisig kalt. Wie wunderbar leicht dieses Getragenwerden, schwebend über allen Stufen und Schwellen, als flögen sie davon. Die Treppe knarzt und knirscht unter ihren Füßen, aber Justines Arme federn jede Bewegung ab. Waschen, abtrocknen, frisches Nachthemd anziehen. Als sie wieder in ihrem Bett liegt weiß Charlotte, sie träumt nicht, etwas ist anders und wird anders bleiben, der Morgen mit Blaubeeren zum Frühstück und die Nacht mit grellem Mondlicht, die dunklen Locken und der Männerkörper neben ihrer Mutter bleiben. Sie brennen sich ein in ihr Gedächtnis vor dem Einschlafen, hinterlassen Spuren auf der Festplatte, sind nicht mehr auszulöschen.

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