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Leonardo

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Zukunftsmusikalische Einblendung würde Leonardo seinen Einzug bei Justine später nennen, eine Zukunft, die im Alltag zerrinnt, eine umgedrehte Sanduhr, deren Zeitspanne abläuft. Justine, seine Rettung. Komm´ zu uns, das ist einfacher. Ich wünsche mir wieder eine Familie. Das Flehen in ihrer Stimme, das Bitten, wie einsam sie sein musste. Warum nicht, es ändert nichts, es macht nichts. Wenn er den Standort und die Wohnung wechselt wird er wieder am selben Schreibtisch sitzen, denselben Bildschirm anstarren, verzweifelt auf Mails warten, im Internet surfen, den Roman im Nacken wie eine böse Drohung, sein Damoklesschwert. Es wird das immergleiche Leben sein und bleiben, ein ewiges Leben, sein Schriftstellerleben. Niemand darf gezwungen werden, einen Roman zu schreiben, niemand darf zu künstlerischem Ausdruck gezwungen werden, niemand darf gezwungen werden, sich über den Alltag hinaus darzustellen. Er muss sich selbst zwingen, zwingt sich, ohne es zu wollen. Morgens sitzt er vor seinen Figuren, vor einer Geschichte, er sucht einen Anker, den Gefühlsanker, den er auswerfen kann und an den er sich einige Stunden klammert. Ein Halten und Hangeln beginnt, er stürzt ab, er fängt sich wieder, er hält Sätze fest, kleine Abschnitte gelingen, das Ganze ist schwer, das Ganze festzuhalten dazu fehlt der Anker. Sein größter Wunsch wäre ein roter Faden, ein leuchtend roter Faden, ein samtiger flauschiger Geduldsfaden, der seinen Text davontrüge wie ein fliegender Teppich.

Realität interessiert ihn nicht, Alltägliches ist ihm fremd, eine Bedürfniserzeugungsmaschinerie ohne Sinn. Essen, trinken, schlafen, lieben, reden, reisen und wieder reisen, reden, lieben, schlafen, trinken, essen. Am Ende lauert der Tod, lauert allen auf, umschlingt sie, frisst sie auf, ihre Lebensentwürfe, ihre Pläne, ihre Wünsche, am Ende lauert ein Verfall, nichts weiter, am Ende lauert die Auslöschung. Wer schreibt, der bleibt. Eines Tages wird man ihn entdecken, eines Tages wird er reich und berühmt werden, post mortem, eines Tages, vielleicht. Und wie andere von ihren Kindern und Enkeln bewundert werden, werden seine Leser seine Romane und Erzählungen bewundern. Und doch geschehen Dinge in seiner Realität, Veränderungen schleichen sich ein, die Liebe wirft seine Pläne um. Die Realität erlaubt sich auch in seinem Leben Einzug zu halten, sie drängt sich auf und schiebt sich zwischen seine Manuskriptseiten. Leben, brüllt sie ihn an, Leben bitte sehr, jetzt leb` doch endlich mal!

Er muss sie besänftigen, auf sie eingehen, die Realität wird sonst böse, fährt ihre Krallen aus und schlägt ihm ins Gesicht, zerkratzt seine Haut. Soweit darf es nicht kommen, immer ein bisschen Realität beachten, das muss sein, ein bisschen Realität kann nicht schaden. Er lässt sie zu, die Telefonate mit Freunden, die defekten Heizplatten, die Zahnschmerzen, die liebenden Frauen. Tief in seinem Innern schlummert eine Erkenntnis, tief in ihm liegt eine andere Wahrheit begraben, seine Tapetentür zu einer anderen Welt: Wer es schafft in seiner Fantasie zu leben, lebt nicht freiwillig in der Realität.

Das Wohnviertel, in dem er seit Jahren allein in einem winzigen Apartment lebt, weicht zurück. Im Rückspiegel von Justines Firmenwagen werden die Dinge kleiner und kleiner, dunkle Ecken, blassblaue prall gefüllte Müllsäcke am Straßenrand und streunende Hunde mit verklebten Augen, die blind in etwas hinein starren. Konturen lösen sich auf, rissige Farbflecken bleiben, flackern unruhig hin und her bis sie schließlich ganz verschwinden: Er lässt sich fallen und schmiegt sich in die beigen Lederbezüge während sie ihre Hand auf seinem Oberschenkel platziert. Erinnerungsbilder an seine ersten Jahre in der Stadt wirbeln auf, wie letzte blitzartige Einsprengsel aus der Vergangenheit kurz vor einem plötzlichen Tod. Er selbst als junger Mann, fest entschlossen, sich durch nichts abschrecken zu lassen, Künstler zu werden, Lebenskünstler und Schriftsteller, Liebeskünstler und Lebemann. Sein Ziel, die Eroberung der Stadt mithilfe eines noch nicht geschriebenen Bestsellers. Pappkartons, Plastiktüten und Reiserucksäcke lagern in einem Schließfach am Bahnhof, er schlendert mit stone washed Jeans und schwarzem T-Shirt zu seinem ersten Wohnungsbesichtigungstermin bei einer Genossenschaft.

Wie Käfige ziehen sich die zum Teil vergitterten Fenster der winzigen Apartments an der schmutziggrauen Fassade entlang. Auf dem Klingelschild verschwimmen die Buchstaben, er muss Reihe für Reihe durchgehen, mit dem Finger entlanglaufen, sich konzentrieren, hunderte von Namen, zum Teil handschriftlich, überfallen ihn bis er den des Vormieters findet. Das Tor öffnet sich, er schleicht hindurch, in einer dunklen Ecke sitzt ein Hund und räkelt sich, sein schwarzes struppiges Fell ist an einigen Stellen verätzt und die blutrote Haut schimmert durch, auf seiner grünlich schimmernden Iris schwarze Punkte. Als Leonardo weiterläuft springt er hoch, jault laut auf und beschnüffelt seine Beine. Riesige hellblaue Müllsäcke versperren die Eingänge, Aufgänge und Zugänge zu den Behausungen, prall gefüllt drohen sie jederzeit aufzuplatzen, an einigen Stellen Risse oder Löcher. Er überquert den ersten Hof und gelangt in einem weiteren, wo sich ein Meer von Hochhäusern auftut. Sonnenschirme auf Balkonen, orange, gelb, rot, weiß leuchten ihm entgegen. Das Hellgrau der Betonmauer blendet im grellen Sonnenlicht, die Farbe schmerzt obwohl sie an vielen Stellen längst abgeplatzt ist, Risse überall. Der Hintereingang steht offen, das Dunkel schlägt ihm entgegen, eine steile Treppe führt in den ersten Stock, kein Aufzug zu sehen, er hält sich am Geländer fest und fühlt sich schwach, ein Geruch von angebratenem Chili liegt in der schwülen Luft. Nie mehr arm sein. Wo hat er diesen Ausspruch schon einmal gehört? Nie mehr arm sein, nie mehr anstellen, nie mehr bitten müssen. Der Satz setzt sich fest in seinem Kopf, frisst sich ein, Säure, die Spuren hinterlässt, eine Schrift unübersehbar, eine Stimme, unüberhörbar. Er bezieht ein Apartment im ersten Stock, das von den Fassaden der umliegenden Häuser verdunkelt wird. Durch einen schmalen Gang mit Kochnische gelangt man in den winzigen quadratischen Raum, links davon ein Duschbad, in dem er sich einmal um sich selbst drehen kann. Mehr ein Tasten als ein Gehen, das ihn voranbringt. Ein eingebauter winziger Schreibtisch am Fenster, eine Matratze gegenüber. Er schließt die Augen.

Die Toilettenspülung der Nachbarwohnung dröhnt, ein abgestandener Geruch zieht durch den Raum, der mittelbraune Teppichboden kratzt unter seinen nackten Füßen. Flucht, Flucht nach innen, die Erfindung wird ihn aus dieser Gegenwart befreien. Die Geschichten in ihm, die Figuren, sie werden die Enge überleben, ihn ablenken, in andere Orte und Zeiten entführen. Wie lange wohnt er dort? Später trügt ihn die Erinnerung, weigert sich die gelebten Zeiten korrekt zu speichern, bleibt unzuverlässig in der Entfernung. Sind es drei Jahre oder vier oder drei Jahre und vier Monate? An den Geruch angebratener Speisen erinnert er sich, an das dunkle Treppenhaus mit dem wackligen Geländer, ausgetretene Holztritte, den beißenden Zitronenduft der Putzmittel, laute Stimmen in der Nacht und heulende Hunde und daran wie er schreibt und schreibt und schreibt. Leonardo verschickt Mails und Bitten und Briefe und Telefonate in alle möglichen Literaturwelten, Agenturen, Wettbewerbe, Stipendien. Seine Kurzgeschichten werden prämiert, einen Kriminalroman soll er schreiben und kann es nicht, die Geduld fehlt. Wie soll er Entwicklungen zeigen, Figuren bauen, Geschichten über Jahre hin entwickeln, über Jahrzehnte, Generationen? In seinem Leben nur Brüche, Bruchstücke, Splitter, liegengelassene Entwürfe von Liebe, Beruf, Leben. Morgens sitzt er im Café nebenan und denkt an die Figuren in seinen Texten, die liegen gelassen auf Papierfetzen und in kurzen Skizzen hinterlegt auf seiner Festplatte warten. Nur seine Aufmerksamkeit schenkt ihnen Leben, der Odem des Lebens verlöscht ohne ihn. Schon seit längerem ist ihm aufgefallen, Trennungen quälen ihn nicht mehr, Bindungen lösen sich und neue entstehen ohne ihn zu beschäftigen. Ein Fließen der Zeit, angenehm und passend hat sich eingefunden, fast könnte er sich als zufriedenen Menschen bezeichnen.

Er soll einen Kriminalroman schreiben, das einzige, was sich zur Zeit verkaufen lässt. Es müsste ihm doch gelingen, einen Mord, irgendeinen Mord als letzten Akt nach langen Kämpfen zu beschreiben. Aber nein, es geht nicht, kein Mord passiert, er will sich einfach nicht einstellen in seinen Texten. Gut und Böse, die Weltordnung, die Gerechtigkeit findet er nicht, kein Held, nicht einmal ein Kommissar kann ihm helfen seine Texte mit einem roten Faden zu versehen. Leonardo legt das Papier mit den Notizen zur Seite und kaut weiter auf seinem Bleistift. Der Geschmack nach Holz, nussig, trocken, er schluckt die winzigen Splitter, die abgeblätterte Farbe und lehnt sich zurück.

Sein Alleinsein, mit spontanen Abenteuern versüßt, lässt ihn treiben, er mäandert von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und vergisst die Jahreszeiten. Weiße Blüten an Apfelbäumen, Schneefelder im Park, vergilbte Blätter auf Gehsteigen, staubige Hitze in flirrender Luft. Etwas geschieht ohne sein Zutun, er verlässt sein Apartment und draußen herrscht eine Welt aus Farben, Geräuschen, Gerüchen, weit entfernt von seiner Welt, in der das Ringen um passende Worte die Stunden zu einem einzigen Moment schrumpfen lässt.

Die Frauengeschichten in seinem Leben sind keine Geschichten, dafür sind sie zu kurz, Episoden oder Momentaufnahmen wie mit einer Digitalkamera zufällig geschossene Bilder, manche in seinem Gedächtnis gespeichert, andere gelöscht. Ein ausgestreckter Zeh mit hellrotem Nagellack, eine Locke, im Ansatz dunkel, in der Mitte rötlich, in den Spitzen blondgefärbt, eine rasierte Scham, rosa schimmernd, ein Lächeln mit hochgeschwungenen Lippen, ein Augenblick aus schwarzer Iris. Die Namen der Frauen, gleich wieder vergessen, nur noch die Bilder ihrer Körperteile vermischen sich in seiner Erinnerung zu einer, der idealen Frau, die er noch finden wird, eines Tages vielleicht. Wenn er sie nicht mehr sucht, findet er sie, so lange er noch sucht, kann er es nicht, diese Erkenntnis schlummert in ihm, er trägt sie mit sich und wartet darauf, wie sie sich in Wirklichkeit einlöst.

An manchen Tagen flaniert er umher, begibt sich in fremdschöne Stadtteile, in denen zu wohnen er sich nicht leisten kann. Jugendstilgebäude strahlen Pracht und Reichtum aus, ihre Fassaden glänzen golden in der Nachmittagssonne, er flaniert durch die Straßen und sitzt in Cafés. Ein Luxus von Endloszeit, durch die Finger rinnend, lässt ihn lächeln. Die Endloszeit bleibt nicht endlos, sie dehnt sich nur, er will sie halten, Augenblicke sammeln, nichts weiter, weiter nichts, redet er sich ein. Sein lockiges Haar ist dunkel, noch keine grauen Stellen an den Schläfen, sein Gesicht fast faltenfrei, nur auf der Stirn und an den Mundwinkeln erste Anzeichen trockener Haut. Niemand würde ihn für einen Schriftsteller halten. Der Milchschaum auf seinem Cappucino in Herzform, fast reut es ihn, den Löffel darin zu rühren, es zu zerstören, er schöpft den knisternden Schaum ab, führt den Löffel zum Mund und seufzt. In diesem Moment blickt Justine, von der er noch nicht weiß, es ist Justine, ihn an. Noch ist sie irgendeine Frau, nicht mehr ganz jung, noch nicht alt, in den besten Jahren, nichts weiter. Eine wie jede andere es sein könnte. Ihre dunklen Locken glänzen, in ihren Augen leuchtet etwas auf, zugleich trübt ein Tränenfilm die Iris. Ist es Liebe auf den ersten Blick? Eine Veränderung kann nicht schaden, zuletzt glaubt er sich die Rolle des Einsiedlers, des ewigen Lebemannes selbst nicht mehr.

Was machst du? Sie macht den Anfang, wer hätte das gedacht! Er muss entspannt bleiben, locker, trocken antworten. Ich schreibe. Wie bitte? Ich schreibe, wiederholt er ruhig im selben dunklen Tonfall. Du bist Journalist? Nein. Was schreibst du denn? Geschichten. Kurzgeschichten. Und davon kannst du leben? Er lächelt ein breites, schönes Lächeln, seine Lippen sind feucht, sein Blick schweift umher. Auf diese Frage antworte ich schon lange nicht mehr. Google einfach meinen Namen, dann siehst du wer ich bin. Sie lächelt. Er sieht hinter ihrer Stirn, was sie denkt. So einer ist er, ein armer Poet, ein einsamer Schreiberling auf einem Gemälde von Carl Spitzweg, ein geborener Dichter, ein Held der Kunst. Sie betrachtet seine dunklen schimmernden Locken und die feuchten Lippen, an denen ein Rest Milchschaum hängengeblieben ist. War seine Stimme zu dominant, der Ton arrogant? Er spürt wie sie überlegt umzudrehen, die Richtung zu wechseln bevor es zu spät ist, ihn zu verlassen, tritt aber noch auf der Stelle, zögert. Etwas in ihren Augen leuchtet auf wie eine Erkenntnis, ein Wiedererkennen, Sicherkennen als wären sie einander schon einmal begegnet. Ist es sein Äußeres, das Geschniegelte, Gedrechselte, auf das er immer achtet sobald er die Wohnung verlässt? Zu seiner Jeans trägt er ein graues Hemd, darüber, trotz des warmen Wetters, ein hellgrünes Samtjackett auf dem über der Brusttasche der Name des Designers eingestickt ist. Seine schwarzen Lackschuhe laufen spitz zu und glänzen. Würde er den Arm heben und sie genau hinschauen, könnte sie vielleicht seine abgeschabten Hemdsärmel entdecken, so aber bleiben sie vom Jackett verdeckt. Er beobachtet wie sie mit sich ringt, sieht es an der Bewegung ihrer Augen, der Unruhe, die durch ihren Körper geht, ein Zittern wie in großer Erwartung.

Komm´ zu uns. Ich wünsche mir wieder eine Familie. Leonardo lächelt. Wie heißt du? Justine. Justine, das erinnert ihn an etwas, Marquis de Sade hatte eine Gespielin mit diesem Namen. Justine? Ja, Justine. Er kennt sich aus mit diesen Frauen, kennt sie besser als sie sich selbst. Riesinnen mit breitem Kreuz, großen Füßen und signalrotem Dauerlächeln. Wie sie Karriere mit Emanzipation verwechseln und Mutterwerden mit Selbstverwirklichung und beides zusammen mit einem gelungenen Leben. In ihren enganliegenden Kostümen, geschminkt, gelackt, gestriegelt, mit sorgfältig frisiertem Haar fallen sie in ihre Rollen und am Ende liegen sie doch wimmernd zu seinen Füßen, um eine andere zu sein, sich fallen zu lassen, schwach zu werden. Er saugt sie aus, lässt sie als flatternde Hülle zurück, dünne Papierhaut mit bläulich schimmernden Adern, die hervorstechen, große runde Augen, hungernd nach Liebe. Und es ist nicht sein Wunsch, sie zu verführen, es ist ihr eigener Befehl.

Als er seine Bücher und den Laptop einpackt, den Lieferwagen für seine Matratze bestellt, hat er die Zeit vor ihrer Begegnung beinahe vergessen, sie zerfällt in bunte Puzzleteile und löst sich auf. Es ist ein Umswitchen, ein Klick in eine andere Welt, ein neues Leben, und schon ist er da, lindgrüne Bäume, kleine Cafés, lächelnde Studentinnen. Hochhäuser und bunt durcheinander gewürfelte Schirme auf Balkonen sind verschwunden, bellende und streunende Hunde, dunkle Hintereingänge aus der Erinnerung vertrieben. Wie ein Müllschlucker saugt die Gegenwart die Bilder der Vergangenheit auf und lässt sie im Abgrund verschwinden.

Jetzt nur noch diesen Sonntag überstehen, die Umzugskartons in ihre Wohnung schaffen und den Vater ihres Kindes meiden. Das hat sie ihm verschwiegen, ihr Mann, der Vater ihres Kindes wohnt noch bei ihr. Wie kommt sie dazu den einen ein –und den anderen ausziehen zu lassen an einem Wochenende? Was hat sie sich dabei gedacht? Ein Männerumtausch, Väterumtausch mit begrenztem logistischem Aufwand? Umzugskartons und Männer wechseln die Orte. Die gleichen Kartons, dieselbe Firma, der Schriftzug, sogar die Größe identisch. Müssen wir aufpassen, dass wir sie nicht verwechseln. Blick nach unten, die Neugierde lässt sich nicht fesseln, nur ein einziger Blick, einen Blick muss er doch riskieren, er hebt den Kopf und sieht eine Halbglatze mit feinen hellgrauen und weißen Härchen, da hebt der andere den Kopf: Hallo, Jean, ich bin Jean, der Vater von Charlotte. Himmelblaue Augen mit zwei schwarzen Flecken, kleine Einsprengsel, eine sanfte Stimme, die über ihn hinweg gleitet und ein freundliches Echo in seinen Ohren hinterlässt. Wie kann man so einen Mann verlassen, denkt er, aber nein, was für ein Gedanke, weg damit. Sie will es so, es hat sich so ergeben. Halbglatze gegen Lockenschopf, sanfte dunkle Stimme gegen bestimmende helle, achtundvierzig Männerjahre gegen neununddreißig.

Auge in Auge, eine Mischung aus Stolz und Angst , es könnte etwas geschehen, einer von beiden handgreiflich werden wie früher beim Duell, die Frau als Liebesobjekt, doch nein, ein kurzes Zucken, fast gleichgültig, dann tragen sie die Umzugskartons aneinander vorbei, der eine raus, der andere rein in ihr Leben. Oder soll er es sich nochmal anders überlegen? Wieder zurück in sein stilles Apartment, seine kleine heile Schriftstellerwelt? Als er in die himmelblauen Augen schaut zieht der Gedanke gleich mehrfach wie ein Werbebanner vor einem Zeppelin durch seine Gehirnwindungen. Immer wieder flattert er auf, schwebt hindurch, macht sich breit, nicht zu übersehen, nicht zu überhören, vor seinen Augen weht das Werbebanner: Zurück! Da ist die Schwelle schon längst überschritten, der Umzugskarton steht im sonnendurchfluteten Wohnzimmer, willkommen strahlt Justine, herzlich willkommen. Sie läuft mit offenen Armen auf ihn zu, drängt sich an ihn, er hält ihrem Überschwang kaum stand, sie umschließt seinen Körper fest bis die Rippen schmerzen. Wie riesig sie ist, nur wenige Zentimeter überragt er sie, ihr Kreuz breit und stark, das lockige lange Haar struppig vom Kopf abstehend, ein knallroter lachender Mund.

Alles verändert sich und doch verändert sich nichts. Einen Tag später fliegt sie mit ihrer Tochter nach Paris, einen Tag später sitzt er vor seinem Computerbildschirm und starrt auf schwarze Buchstaben auf gelblichweißem Hintergrund, einen Tag später ist alles, wie es war. Er vergisst seine Umgebung, seinen Umzug, seine neue Familie und taucht ein in die Welt seiner Figuren.

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