Читать книгу Selfie - Justine la Mour - Страница 8

Leonardo

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Wie lange lebt er schon in dieser Gegenwart? Monate, Jahre, Jahrzehnte? Sein Blick schweift durch die Fenstergauben über die Dachterrasse in den Garten. Blühen die Bäume, sind die Äste verschneit, liegt Blütenstaub über dem Rasen? Auch die Geräusche verändern sich im Lauf der Jahreszeiten, schwellen an oder klingen ab, hell oder dunkel passen sie sich den Temperaturen an. Nach dem Frühstück beginnt er einzutauchen in sein Leben, in sein Schreiben, in die Figuren und die Handlung, die sie umhertreibt. Seit er bei Justine und Charlotte lebt versucht er seinen Rhythmus beizubehalten, was schwerfällt, ständig wirft ihn wieder etwas aus dem Fluss des Schreibens, ein Telefonat, ein Klingeln an der Tür, ein Gedanke an Einkauf, Post oder Bankgeschäfte. Wie frei das Leben ohne Familie war, wie leicht, wie anders trotz bellender Hunde im Hof, streunender Katzen, überfüllter Müllsäcke und dem Geruch angebrannter Speisen aus den Hausfluren. Ein Schweben der Tage, eine Einheit, nur zersetzt von gelegentlichen Ausfällen an Ideen oder Fantasien, die später nicht zu gebrauchen waren. Selbst das Kreischen von Kinderstimmen, das überlaute Dröhnen von Stereoanlagen oder die Streitereien und das Toben von Stimmen über ihm, unter ihm, neben ihm, das durch die Wände drang, war nicht so aufdringlich wie die Verpflichtungen, die Zwänge der Familiengegenwart. Seit er hier lebt, hat sich seine Welt verrückt, rückt jeden Tag ein stückweit ab von ihm, andere Wichtigkeiten drängen, fallen ihn an, belästigen ihn. Einkaufen, waschen, bügeln, putzen, organisieren statt schreiben, sinnieren und fließen lassen von Worten. Nicht das Schreiben muss unterbrochen werden von Alltäglichkeiten, die Alltäglichkeiten werden unterbrochen von seinen verzweifelten Versuchen zu schreiben. Einmal einen Gedanken zu Ende denken, einmal eine Figur abschweifen lassen, einmal ein Konzept entwerfen und verwerfen. Früher Schreibkrisen, heute keine Zeit mehr, Krisen liegen tief unten in ihm verborgen, Kellerleichen, die erst einmal wiederbelebt werden müssen. Realität häuft sich an in Bildern, Floskeln, Plattitüden wie übereinandergeschichtete Gewitterwolken, es kracht und blitzt, der Himmel taut den Alltag auf, Wolken regnen ihn herab.

Er fängt Realitätstropfen auf und schüttelt sie ab. Das Schreiben, das einzig Mögliche, die Realität unaushaltbar, das Schreiben, einzige aushaltbare Realität. Etwas staut sich auf sobald er einige Tage lang nichts notieren kann. Das Gefühl, zu explodieren, in Einzelteilen durch die Luft zu fliegen, sich zu entladen, Fleischklumpen, Fetzen, Körperteile durch die Welt zu schleudern anstelle von Worten, Sätzen, Geschichten. Ein Hass umgibt ihn, er weiß nicht einmal worauf, schon als Kind war es so, entweder schreiben oder leiden, er entschied sich für das Schreiben, jetzt muss er sich wieder entscheiden, jeden Tag, immer wieder. Kein Leben ohne Schreiben, kein Schreiben ohne Leben. Er lehnt sich zurück, ein zufriedenes Lächeln umspielt seinen Mund, er greift nach einer kubanischen Zigarre und zündet sie an. In diesen Momenten ist er bei sich, tief versunken in seine Schreibwelt. Wie der Neid der Nichtkünstler sich auf Justines Gesicht zusammenballt, sie reibt ihre Augen, Fältchen ziehen sich über ihre dünne Haut. Sie sind ersetzbar, sie währen nicht ewig, sie werden vergehen wie Traumgesichte, Justine und Charlotte und all die anderen, mit denen er sein Leben verbracht hat und noch verbringen wird, ihre Konturen werden sich im Rauch auflösen bis sie zuletzt völlig verschwinden. Ihre Wiederauferstehung in Figuren, in Texten wird die einzige Erinnerung sein. Verdichtet wird er sie wieder lieben können, ihnen den Zauber des Anfangs zurückgeben, vielleicht, eines Tages, vielleicht. Sein Schreibrausch währt ewig, sein Liebesrausch nicht. Sein Testosteronspiegel schwankt, er wird älter, schon vergisst er die eine, die andere, alle. Je drängender die Pflicht, umso geringer die Lust. Der Gedanke eine andere Frau zu treffen, sich wieder einzulassen auf das Spiel missfällt ihm noch mehr, strengt ihn an, die Sucht nach dem Genuss, so rasch schal. Sein scheintoter Körper, der nur beim Schreiben zum Leben erweckt wird, zerfällt mehr und mehr in immer kürzeren Zeitabschnitten. Manchmal betrachtet er sein Gesicht im Spiegel nach dem Zusammensein mit Justine, die Augen glänzen als wäre er verliebt, und doch war es eher ein Liebe machen als ein Liebe leben, mühsam aus dem Alltag heraus geschlagen. Hingabe, den eigenen Körper dem anderen zum Vergnügen überlassen, wozu? Er findet nichts mehr an dem Aneinanderreiben von Haut, dem Saugen und Ziehen, dem Hin und Her der auf und ab wogenden Becken, ein mechanisches Bewegen, nur im Rausch erotischer Fantasien auszuhalten. Zu schnell erschöpft, das Interesse an Frauenkörpern, Seelen, Lebensläufen, die in Echtzeit langweilen.

In der Erinnerung kaum Fundstücke, Bilder oder Beweise für den Genuss an der Liebe, eine fiebrig glänzende Stirn hier, ein nasser Slip da, Hunderte von Mails, die Begegnungen vorangingen und sie beendeten. Je länger die Mails, je größer die Sehnsucht, umso weniger Erfüllung bahnt sich an, die Sprache ersetzt die Lust, die Lust an der Sprache größer als die Lust am Körper. Körpersprache, was immer das ist, ein Widerspruch, Körper und Sprache scheinen zwei gegensätzliche Begriffe zu sein, das Fabulieren und das Experimentieren mit einem fremden Körper unvereinbar. Das eine nimmt die Zeit für das andere. Und was ihm die Zeit zum Schreiben nimmt, nimmt den Atem zum Leben. Wieder am Schreibtisch, mehr Vergnügen, sich mit Worten eine Figur zu erschaffen als mit Akribie am Körper einer Geliebten dahin zu schmelzen. In manchen Zeiten gelingt ihm der Absprung aus dem Alltag, er blendet aus, was stört, überlässt sich dem Fluss des Schreibens. Im Schwelgen in Worten und Sätzen findet er Ruhe, in Formulierungen, aneinandergereiht auf schönem Papier, er schreibt mit Füllfederhalter und blauer Tinte, setzt Bogen an Bogen und Buchstabe an Buchstabe bis er zuletzt das freie Flanieren durch die Landschaften der Sprache von selbst gelingt. Wenn das Schreiben ihn forttreibt wie andere das Laufen, gegen Schneestürme und Eisregen, gegen grelle Sonnenstrahlen, fallen ihm die Worte entgegen, ein Wirbel, in den sich ihr ganzes Wesen einschließt und er beginnt es zu lieben und sich darin aufzulösen, ausgelöscht der Weltschmerz. Die Erzählungen fließen nur so heraus aus ihm, er muss sich nicht bemühen, eine nach der anderen entspringt ihm, schreibt sich von selbst, macht keine Mühe. Nebenbei trinkt er Tee oder Kaffee, beantwortet Mails und schaut aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, träumt vor sich hin. Seine Insel, seine Arbeitsinsel, sein Glück, ein Zimmer für sich allein. Das Klingeln des Telefons schreckt ihn aus seinen Gedanken, er lässt es läuten, will sich nicht ablenken lassen, morgens blendet er den Alltag aus. Er verfolgt die Tauben auf den Dächern, die vorüber ziehenden Wolken, die Äste der Bäume, die sich im Wind verbiegen. Aus der Ferne wirkt die Welt weniger bedrohlich, in der Dachterrassenwohnung lebt es sich wie im weißblauen Himmel gebettet, er umgibt ihn von allen Seiten und sein Erzähler kann seine Geschichten ohne Mühe zu Papier bringen. Die große Form liegt ihm nicht, der Roman, der unsägliche, der geschrieben werden soll, er schafft es nicht einen einzigen Tag ohne Unterbrechung an seinem Manuskript zu arbeiten. Justines Fragerei geht ihm im Kopf herum, ihre Stimme drängt sich auf, ein Ohrwurm: Warum willst du schreiben? Ich will nicht, ich muss. Was heißt das? Etwas staut sich auf in mir, eine Ansammlung von Geschichten, Eindrücken, wie ein Verarbeiten im Traum, eine Aufbereitung von Stoffen, ein Wiederkauen, ich konstruiere sie, ich beherrsche sie, sonst entgleitet mir mein Leben. Such´ dir irgendeine Arbeit, geh‚ morgens aus dem Haus… Wenn ich morgens rausgehe, kann ich nachmittags nicht mehr schreiben, die Leute, die Dinge lenken mich ab, wie sie sprechen, wie sie aussehen, das halte ich nicht aus. Ich ertrage ihre Floskeln nicht, diese Allgemeinplätze, diese Formulierungen, alle reden dasselbe, Sprachmüll, Gerede, Textfragmente fallen aus ihren Mündern. Du kannst nicht leben, das ist dein Problem, du suchst einen Ersatz, du ziehst dich zurück in deine Schreibwelt. Ich lebe, indem ich schreibe. Diese Gespräche mit Justine, immer wieder und wieder ein Kreisen um etwas, ein Refrain, die ewiggleichen Sätze drehen sich schneller und schneller, ein Farbenkarussel. Zuletzt mündet alles in einem Weiß, das sich vor ihm aufbaut wie eine undurchdringliche Wand.

Selfie

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