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Spaziergang in Leh

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Mit pochenden Kopfschmerzen lag Sonja im Bett, während Bilder auftauchten, die sie lange schon aus ihrer Erinnerung verbannt hatte. In diesen Stunden jedoch drängten sich vergessene Szenen, fragil und flüchtig, an den Rand ihres Bewusstseins. Fünfundzwanzig Jahre. Sie hatte tatsächlich lange nicht mehr an ihn gedacht. In der ersten Zeit aber, nach jenem Sommer, hatte sie in einer Endlosschleife die Szenen der wenigen gemeinsamen Wochen vor- und zurückgerollt. Auf der Suche nach einem Hinweis darauf, warum er an jenem Morgen einfach verschwunden war, wie ein Schatten und ohne ein einziges Wort der Erklärung. Nie hatte sie eine Antwort gefunden, und irgendwann war sie des zermürbenden Nachforschens, der fruchtlosen Grübeleien müde gewesen. Wie Zeit die Wahrnehmung verschob! Längst hatte ihre Gefühlslage sich entspannt. Nun aber gestand sie sich widerstrebend ein, dass in all den Jahren, wann immer sie diese Berge betrachtet hatte, ein stummes Echo in ihr mitschwang, ein Nachhall versäumten Glücks.

Noch bevor das erste Sonnenlicht sich über ihre Bettdecke ergoss, war die Geschichte wieder da. Die Verliebtheit, die ihr Flügel verliehen hatte. Mit Citta zusammen fühlte sie sich ganz, sobald sie getrennt waren, ertrug sie die Sehnsucht kaum. An diesem Morgen sah sie sein Gesicht wieder vor sich, fühlte förmlich seinen weichen, kräftigen Körper.

Jetzt also trat er wieder in ihr Leben. Unvermittelt und ungefragt. Nach einem Vierteljahrhundert! Mit einem Stapel von Hand beschriebener Seiten, in denen er sein Versprechen einlöste. Ich werde dir mein Leben erzählen, hatte er gesagt und vorsichtig ihre Hand genommen, wenn du das möchtest. Natürlich hatte sie gewollt. Damals. Alles hatte sie wissen wollen von ihm. Jetzt allerdings überlegte sie, ob sie die Briefe einfach wegwerfen sollte. Diese Geschichte war doch bereits abgeschlossen. Aus und vorbei. Hatte sie jedenfalls gemeint.

Im Widerstreit ihrer Gefühle kämpfte sie gegen den rasenden Puls und das Herzklopfen an, das ihr schier den Atem nahm. Wie sollte sie in diesem Zustand einer heiteren, neugierigen Reisegruppe entgegentreten und ihr dieses wundervolle Land nahebringen?

Erleichtert fiel Sonja ein, dass Samten an diesem Vormittag die Stadtführung übernahm. Sie musste also nichts weiter tun, als Präsenz zu zeigen. Dafür würde es noch reichen. Schließlich war sie professionell genug, mit der Gruppe das Frühstück einzunehmen und ein paar unverbindlich-freundliche Worte an ihre Teilnehmer zu richten.

Auf der engen Straße war viel los. Sie mussten hintereinander auf dem schmalen Rand zwischen Asphalt und der tiefen Regenrinne balancieren. Einmal sprang Sonja in einen Ladeneingang, um einem Laster auszuweichen, der keine Armlänge entfernt an ihr vorbeifuhr. Cafés, Restaurants und Souvenirläden säumten den Weg. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie das Stadtzentrum, wo Motorräder, Autos, Menschen in einem heillosen Durcheinander die Straße verstopften. Über einer Gasse hing das Schild »one way road«.

»Einbahnstraßen auf dem Dach der Welt, das ist wirklich unglaublich«, fand Frau Volkers, »damit habe ich nicht gerechnet.«

»Gibt es hier keine Ampeln?« Jule schüttelte den Kopf.

»Doch«, entgegnete Sonja, »eine einzige! Allerdings funktioniert sie nicht.«

»Die Menschen fahren vorsichtig, weil sie so sanftmütig sind«, schaltete sich Heidrun ein.

»Eher weil sie miserabel Auto fahren. Aber keine Sorge, unsere Taxifahrer sind Profis. Sie werden uns sicher durch das Land bringen.« Sonja lächelte, gerade in den ersten Tagen war es wichtig, eine gute Atmosphäre in der Gruppe aufzubauen.

Die Stimmung war entspannt. Man bestaunte den Königspalast, blieb vor Antiquitätenläden stehen und betrachtete in den Schaufenstern religiöse Statuen aus Messing, Pappmachéfiguren, antike und neue Thangkas, bunte Schals, Kleider aus dünner Baumwolle made in India und handgestrickte Mützen aus Schafwolle. Herr Schneider fotografierte, Frau Volkers löcherte Samten mit Fragen zur Geschichte. Günter jammerte, dass er schlecht geschlafen habe; da aber niemand auf ihn einging, wandte er sich wieder Samtens Vortrag zu.

»Ladakh war über tausend Jahre lang ein unabhängiges Königreich. Der legendäre König Sengge Namgyal ernannte Leh erst vor vierhundert Jahren zur Hauptstadt von Ladakh und ließ diesen Palast erbauen. Hier regierten die Könige bis zum Jahr 1834, als Soldaten aus der indischen Region Jammu einmarschierten und den König verjagten. Somit ist Ladakh erst seit gut hundertachtzig Jahren ein Teil von Indien.«

Außerdem erzählte Samten, wie Ladakh viele Jahrhunderte lang Knotenpunkt einer Karawanenroute war, auf der Händler von der schwülheißen südlichen Tiefebene über zerklüftete Gebirgszüge bis nach Ostasien nach Yarkand und Khotan zogen, in den Satteltaschen ihrer Kamele Teppiche, Seide, Gewürze und Wolle. Daher sei die Stadt immer schon ein lebhaftes buntes Zentrum für Kaufleute aus fernen Ländern gewesen, bis vor zwei Generationen die Zeit der Karawanen zu Ende ging.

Während die Unterhaltung weiter mäandrierte, kehrten Sonjas Gedanken zurück zu ihrer ersten Reise nach Ladakh. Mit dem Bus war sie aus Srinagar gekommen, der Standardroute für Rucksacktouristen mit viel Zeit. Damals war Leh ein größeres Dorf, die wenigen Touristen freuten sich über ein paar Annehmlichkeiten, die man hier fand: Vollkornbrot, Müsli und frisch gemahlenen Kaffee in der German Bakery, zerlesene Second-handbücher, eine heiße Dusche.

Heute standen vor der State Bank of India Menschen in der Schlange, um mit ihrer Mastercard Rupien abzuheben. Die Lehmhäuser hatten dreistöckigen Betonbauten Platz gemacht. An der Geschäftsstraße beim Neuen Tempel saßen die Bäuerinnen noch immer auf dem Gehsteig, vor sich Kartoffeln, Karotten, Kohlrabi, kleine feste Äpfel, alles dekorativ aufgeschichtet. Früher hatte Sonja dieses Bild romantisch gefunden, heute wirkten die Frauen in dem Getümmel und auf Höhe rußender Autoauspuffe verloren. Trotzdem gingen die Geschäfte gut – heimisches Obst und Gemüse schätzten viele Kunden mehr als die Importfrüchte.

Heidrun wollte unbedingt Korallen kaufen. Nicht die billigen hellen von den Straßenständen, sondern echte dunkelrote Korallen. Außerdem brauchte sie einen großen Bergkristall. »Ein Geschenk für meinen Mann«, erklärte Heidrun. »Der Ärmste sitzt ja ständig an seinem Computer. Wusstest du, dass Bergkristalle Elektrosmog reinigen? Das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Ich habe dazu eine interessante Studie gelesen.«

Noch während Heidrun über die gesundheitlichen Gefahren von Elektrosmog referierte, verabschiedeten sich die anderen. Sie hatten genug von der Stadt und wollten ins Hotel zurück. Sonja empfahl Heidrun einen gut bestückten Antiquitätenladen gleich um die Ecke. Als endlich alle weg waren, wusste sie einen Moment lang nichts mit sich anzufangen. Sie schlenderte unschlüssig umher, betrachtete die Auslagen von Shops, die sie längst auswendig kannte, bis sie sich vor Tashis Teashop wiederfand.

Tashis Teashop! Dieses kleine Restaurant mit seinen vier Tischen und den kitschigen Hochglanzpostern von Wasserfällen, Katzen und dichten Nadelwäldern an den Wänden. Hinter einer Glasvitrine standen zwei Vasen mit bunten Plastikblumen.

Als Sonja eintrat, kam Tashi ihr strahlend entgegen, umarmte sie und tätschelte Sonjas Wangen. »So lange warst du nicht hier! Wie schön, dich zu sehen! Möchtest du Minztee wie immer?«

Sonja nickte dankbar und schaute sich um. Alle Tische waren besetzt und sie nahm auf dem letzten freien Stuhl Platz. Während sie eher unfreiwillig dem Gespräch von zwei Amerikanerinnen an ihrem Tisch zuhörte, beobachtete sie Tashi, die wie immer gut gelaunt freundliche Bemerkungen zu ihren Gästen machte. Auch am Abend würde sie das Lokal noch mit ihrem Elan, ihrer Warmherzigkeit erfüllen.

Tashi war vor vielen Jahren mit ihrem Mann aus Tibet geflohen, die beiden hatten bald nach ihrer Ankunft in Ladakh dieses Restaurant eröffnet. Seitdem gab es eine klare Arbeitsteilung: Während Tashi sich um die Gäste kümmerte, übernahm ihr Mann die Küchenarbeit. In der kleinen, durch einen Vorhang abgeteilten Küche bereitete er Berge von Nudeln zu, kochte Tee und schnippelte Gemüse, vom Morgen bis zum Abend. Nebenbei wurden zwei Kinder großgezogen, für deren Studium sie nun jede verdiente Rupie brauchten. Tashi, die Extrovertierte, ihr Mann der ruhende Pol. Obwohl die beiden so gegensätzlich waren, hatte Sonja eine beneidenswerte stille Harmonie zwischen ihnen gespürt.

»Ist alles in Ordnung, Sonja?« Tashi sammelte die benutzten Teller und Teegläser vom frei gewordenen Nebentisch ein und stellte ihr Tablett ab. Aufmerksam musterte sie Sonja.

»Natürlich, Tashi, no problem«, ihr gelang ein Lächeln, das eine Spur von Ironie hinterließ. Es stimmte: Sie hatte kein Problem. Jedenfalls keines, das eine Frau wie Tashi beeindrucken konnte.

In jenem Sommer hatte sie oft mit Citta hier gesessen, zusammen mit anderen Travellern und Einheimischen. Citta bestellte heiße Zitrone, sie Minztee. Seitdem war Sonja nur selten in Tashis Teashop gewesen. Sie hatte alle Orte der Erinnerung gemieden, später mit den Reisegruppen war kaum Zeit gewesen.

Jetzt schweiften ihre Gedanken zurück zu jenem Abend, an dem sie Citta kennengelernt hatte. Es war im Gartenrestaurant, Lotus Garden, damals ein beliebter Treffpunkt und in der Szene bekannt für gutes Essen – kurz vor Einbruch der Dunkelheit, in den Bäumen hingen bunte Lampions, auf den Tischen standen Kerzen bereit für den wahrscheinlichen Fall, dass der Strom ausfallen würde. Sonja hatte es sich mit einem Buch bequem gemacht, es störte sie nicht, dass sie ohne Begleitung hier saß. Im Gegenteil, sie reiste gern allein und brauchte nicht ständig Unterhaltung.

Dann entdeckte sie Tundup. Er saß ein paar Tische weiter mit jemandem zusammen und winkte, sie solle sich zu ihnen gesellen. Tundup führte ein Reisebüro in der Stadt und sie hatte bei ihm zuvor Ponys für eine Trekkingtour gebucht. Sonja fand Tundup nicht sonderlich sympathisch, nahm aber, einem Impuls folgend, ihr Glas und setzte sich zu den beiden.

»Sonja, das ist mein alter Freund Citta. Wir kommen aus demselben Dorf und haben praktisch unsere Kindheit miteinander verbracht«, stellte er ihn vor. »Inzwischen studiert er in Delhi, in den Sommerferien arbeitet er bei mir. Mein bester Reiseleiter!«, fügte er mit einem Anflug von spröder Ironie hinzu.

Die Begegnung traf sie wie ein Blitz. Samtbraune lebhafte Augen, dicke schwarze Haare, ausdrucksvolle schmale Hände. Sein weicher melodiöser Tonfall, wenn er sprach.

»Das kann ich nicht glauben!« Citta schüttelte den Kopf und lachte so wundervoll, dass ihr schwindlig wurde. »Du bist seit Wochen in Ladakh und warst noch nie am Königspalast? Wenn du möchtest, begleite ich dich.«

So begann das, was sie später die intensivste Zeit ihres Lebens nennen würde.

Sie trafen sich am nächsten Tag und dann jeden Abend, sobald Citta seine Exkursionen mit den Touristen beendet hatte. Es war, als habe ihr Karma darauf gewartet, dass sie zueinanderfinden würden. Zwischen allem anderen erzählte er ihr Geschichten aus seiner Kindheit. Von seiner geliebten Großmutter, dieser starrköpfigen wunderbaren Api, von den glücklichen Tagen auf der Sommerweide. Ich werde dir mein ganzes Leben erzählen, dir mein Herz in die Hände legen, sagte er. Und sie glaubte ihm.

Sonja ließ ihr Busticket von Ladakh nach Delhi verfallen, verschob die Abreise, vertrödelte die Tage und wartete ungeduldig auf den Abend. Dakini nannte er sie, meine Himmelstänzerin, und schon der Klang dieses magischen Wortes Dakini brachte ihr Herz zum Klopfen.

»Ich zeige dir mein Dorf«, versprach Citta, »und stelle dich meiner Familie vor. Anschließend fahren wir nach Alchi. Wusstest du, dass es dort am Indus Sandbuchten gibt? Feiner heller Sand!«

Mit einem langen Kuss, voller sehnsüchtiger Erwartung, verabschiedeten sie sich an diesem Abend. Das Leben schien unbegrenzte Möglichkeiten zu bieten. Alle Zeit dieser Welt würden sie haben und herausfinden, was sich aus ihren Glücksgefühlen entwickelte. Die Zuversicht der Jugend!

Es war das letzte Mal, dass sie Citta sah.

Am folgenden Tag lief Sonja, wie verabredet, zum Busstand. Sie wollten sich dort treffen und den ersten Bus nehmen zu seinem Dorf. Stundenlang wartete sie, hielt zwischen den vielen Menschen zunehmend verzweifelt Ausschau nach ihm. Als nicht nur der erste, sondern auch der zweite und schließlich der dritte Bus abgefahren waren, kehrte sie zurück in die Stadt. Auch in seinem Guest House keine Spur von Citta, die Tür war abgesperrt.

Die nächsten beiden Tage verbrachte Sonja unglücklich und gedemütigt in ihrem Zimmer, außerdem fürchtete sie den Spott seiner Freunde.

War sie eine dieser Europäerinnen, die sich nach einer kurzen Affäre Hoffnungen machten, während er nur eine sorglose Zeit mit ihr verbracht hatte? Vielleicht war er, ohne ihr Bescheid zu geben, auf einen Trek gegangen, um einer anderen Touristin sein Leben und sein Herz zu versprechen. Oder es wartete im Dorf eine brave Verlobte auf ihn. Dabei hatte sie gemeint, etwas Besonderes für ihn zu sein. Was wusste sie schon über ihn?

Zugleich wartete sie, hoffte, er werde kommen und ihr berichten, was ihn an diesem Morgen gehindert hatte zu kommen, das ganze Missverständnis aufklären. Aber er kam nicht. Sonja fühlte ihre Gefühle verraten, die Zeit mit ihm kam ihr verlogen und vergiftet vor.

Sonja schaute auf ihre Uhr und erschrak. Es war höchste Zeit, ins Hotel zurückzugehen. Sie musste pünktlich zum Abendessen dort sein. Eilig verabschiedete sie sich von Tashi und hastete auf die Straße, wo sie prompt ein paar alte Bekannte entdeckte. Phuntsog aus dem Reisebüro, Tsering mit seinem Souvenirladen, Dorje, den Hotelier. Zu keinem hatte Sonja noch näheren Kontakt, daher nickte sie ihnen im Vorübergehen flüchtig zu. Im Moment fühlte sich das seltsam an, womöglich war Citta in der Nähe, saß bei einem dieser Freunde im Büro. Die Vorstellung löste ein überraschendes Glücksgefühl in ihr aus. Kurz überlegte sie, ob sie nach ihm schauen sollte, schob diese Idee allerdings schnell beiseite. Sie wollte ihn überhaupt nicht treffen! Noch weniger wollte sie über eine bittere Liebesgeschichte grübeln.

Acht Menschen erwarteten, dass sie ihre Rolle perfekt spielte – Menschen, die für diese teure Reise mit gutem Recht Engagement und Präsenz von ihr erwarten durften. Jawohl, ich werde mich mit voller Energie in meine Arbeit stürzen. Ich bin nicht so albern und lasse mich wie ein Teenager aus dem Konzept bringen!

Als die Gruppe am Abend im Aufenthaltsraum zusammensaß, hatte Sonja sich halbwegs im Griff und gab das Programm für den kommenden Tag bekannt: den Besuch im Kloster Thikse zur Morgenpuja.

»Thikse wird der erste Höhepunkt dieser Reise«, stellte Herr Volkers zufrieden fest.

»Was ist an Thikse so besonders?« Jule war sichtlich weniger vorbereitet.

»Es ist das einzige Kloster, in dem die Mönche morgens nach Sonnenaufgang gemeinsam im großen Tempelraum eine Puja abhalten«, erklärte Sonja bereitwillig.

»Ich weiß nicht einmal, was so eine Puja sein soll!« Jule schaute sie ratlos an und Sonja musste lachen.

»Eine Puja ist eine Art Andacht …«

»Diese Zeremonie ist wirklich beeindruckend«, schaltete sich Cornelia ein. »Die Mönche rezitieren Gebete und spielen auf Muschelhörnern, Trommeln und Gongs.«

»Da entsteht eine sehr intensive Atmosphäre«, bestätigte Heidrun, »ich habe das in Tibet erlebt.«

Sonja hätte Jule, die Heidrun skeptisch anschaute, gern zugezwinkert, aber derlei Vertraulichkeiten mit Kunden durfte sie sich freilich nicht erlauben.

Später in ihrem Zimmer holte Sonja das Päckchen aus dem Koffer und ließ es eine Weile in ihren Händen ruhen. Cittas Aufzeichnungen wollte sie natürlich lesen, das alte Ladakh hatte sie immer interessiert. Mit dem Citta, der ihrem Herzen so nah gewesen war, musste das Leben dieses kleinen Norbu schließlich nichts zu tun haben. Diese beiden Ebenen sollten sich trennen lassen, beschloss sie. Sowohl gedanklich als auch emotional.

»For Sonja«. Alles kam ihr plötzlich unwirklich vor. Sie ging ins Bad, hätte gern eine Dusche genommen, musste aber feststellen, dass es kein warmes Wasser gab. Stattdessen inspizierte sie gründlich ihr Bild im Spiegel. Sie zog ein paarmal die Augenbrauen hoch, legte probehalber die Stirn in Falten, streckte die Mundpartie nach vorn: kaum ein Ansatz von Doppelkinn, die Haut war passabel glatt. Ihr Gesicht von der Sonne gebräunt, die wenigen Falten stufte sie großzügig als ein Zeichen von Lebenserfahrung ein. Ihre Haare waren von sattem Dunkelbraun und die wenigen grauen Strähnen fand sie persönlich ganz apart. Mit ihrem Äußeren konnte sie durchaus zufrieden sein. Und was die körperliche Verfassung anging, so hielt sie sich für mäßig sportlich.

Wie hatte sie vor fünfundzwanzig Jahren ausgesehen? Sonja konnte kein inneres Bild von ihrer damaligen Erscheinung abrufen. Und umgekehrt: Wie Citta heute wohl aussah? Auf welche Weise hatte das Leben an ihm, auf seinem Gesicht Spuren hinterlassen? Womöglich war aus dem attraktiven, charmanten Citta ein dicker selbstgefälliger Kerl geworden! Der Gedanke amüsierte sie.

Der Duft der Aprikosen

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