Читать книгу Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch - Страница 15

Buddha Maitreya

Оглавление

Das schrille Klingeln des Weckers riss Sonja aus einem tiefen traumlosen Schlaf und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, wo sie sich befand. Trotzig zog sie die schwere Zudecke noch einmal bis zum Kinn hoch, dehnte kostbare Minuten aus, bis sie endlich widerstrebend aus ihrem Bett kroch. Eine Katzenwäsche unter kaltem Wasser im Bad, dann kleidete sie sich an, zog eine dicke Fleecejacke über das T-Shirt und verstaute Cittas Briefe in ihrem Koffer. Auf ihrem Weg die Treppen hinunter zur Lobby lag das Hotel still da, auch in der spärlich auf Nachtbetrieb beleuchteten Eingangshalle meinte Sonja allein zu sein, täuschte sich allerdings, wie sie im selben Moment feststellte.

»Hallo, Sonja, sind Sie auch schon fit? Es ist herrlich am frühen Morgen, nicht wahr?«

Im Dunkeln erkannte Sonja Heidrun, die zu ihr herüberwinkte. »Wenn ich nur wüsste, wo mein Fernglas steckt«, fuhr Heidrun munter fort. »Ein Fernglas kann man doch immer brauchen, nicht wahr?« Sie stöberte in ihrem grünen Tagesrucksack, während Sonja so knapp, wie es ihre Berufspflicht vorschrieb, doch betont heiter zurückgrüßte, bevor sie in die Küche flüchtete. Für Smalltalk war es eindeutig zu früh.

Ramu hatte noch am Abend versprochen, dass die Lunchpakete pünktlich um sechs Uhr gepackt seien. Sonjas Blick glitt über die blanken Tischreihen in dem dunklen Speisesaal. Kein einziges Lunchpaket. Ein Anflug von Missmut zog auf, verflüchtigte sich aber umgehend, als sie die Küche betrat, wo drei Küchenboys den Arbeitstag vorbereiteten. Ramu war trotz seines jungen Alters der Chef der Küche, seit vielen Jahren im Dienst des Hotels und die gute Seele des Personals.

»Ramu, es ist schon spät, ich hoffe, du hast die Lunchpakete nicht vergessen.«

»Guten Morgen, Madam Sonja, no problem. Alles ist fertig.« Ramu stand am Herd und rührte in einer riesigen Eisenpfanne. Er strahlte sie an und deutete hinaus zur Lobby, wo sorgfältig aufeinandergestapelt die Lunchboxen auf dem Tresen standen. Sonja hatte sie auf ihrer Flucht vor Heidrun einfach übersehen.

»Magst du ein Omelette?« Er wusste, dass Sonja gern gemeinsam mit dem Personal in der Küche saß und Omelette mit Tomatenstücken und roten Chilischoten aß.

Dankbar nickte Sonja und balancierte ihren Teller in den Speiseraum hinaus. Während sie ihren Toast in das Omelette tunkte und mit dem scharfen Essen ihre Lebensgeister erwachten, fiel ihr ein: Bis vor Kurzem wäre ihr Zorn vermutlich über den armen Ramu niedergegangen, noch bevor er die Situation hätte aufklären können.

Es war kein Zufall, dass es Sonja in ihren Abenteurerjahren immer nach Asien gezogen hatte. Aufenthalte in tibetischen Klöstern, Yoga in Südindien, Meditationen an den Ufern des Ganges. Gleichmut üben, Gelassenheit entwickeln. Große Ziele hatte sie gehabt, um ihre Rastlosigkeit und Ungeduld in den Griff zu bekommen. Im Laufe langjähriger Meditationspraxis war ihr das mit eher mäßigem Erfolg gelungen. Nun aber stellte sie fest, dass eine neu gefühlte Friedfertigkeit in ihr aufkeimte, ohne dass sie begriff, welcher Impuls diesen Erkenntnisprozess in Gang gesetzt haben mochte. War sie bereits auf die Zielgerade zu tiefgründiger Weisheit eingebogen, oder hatte die lange Zeit in Asien sie schließlich zu der Einsicht geführt, dass es ihrem Wohlbefinden diente, eine unabänderliche Situation anzunehmen? Jedenfalls empfand sie diesen Zustand durchaus als angenehm. Sonja lächelte Ramu an, während sie einen dritten Toast aus dem Brotkorb nahm.

»Wie geht es deiner Familie?«

Sie kannte Ramus Familie seit vielen Jahren aus Erzählungen. Seine ältere Schwester war verheiratet, die beiden Brüder gingen noch zur Schule. Um deren Ausbildung und einen passablen Lebensstandard für die Eltern zu finanzieren, kam Ramu über den Sommer als Küchenboy in dieses Hotel.

»Alles bestens, Madam Sonja. Mein Bruder hat die Aufnahmeprüfung für die High School in Kathmandu geschafft. Er will Ingenieur werden«, setzte er stolz hinzu, bevor er die Lunchpakete nahm und zu den beiden cremeweißen Geländewägen brachte, die vor dem Gartentor warteten.

Die Gruppe nahm ein kurzes Frühstück ein, schließlich wollten alle pünktlich zu dieser Puja im Kloster ankommen. Erst auf dem Weg zu den Autos bemerkte Sonja, dass Günter fehlte. Sie hastete die Treppen hinauf zu seinem Zimmer. Nach einigem Klopfen öffnete er die Tür, zwar angekleidet, murmelte aber, dass er verschlafen habe. Man möge bitte warten, bis er gefrühstückt habe, was Sonja kategorisch ablehnte. So musste er im letzten Moment mürrisch und mit vorwurfsvollem Blick ins Auto springen.

Sie verließen die Stadt und bogen ins Tal des Indus ein, begleiteten diesen hellbraunen Fluss, während die ersten Sonnenstrahlen ins Tal fluteten. Endlich kam jene Stelle, die Sonja liebte: Auf einer weiten Ebene standen Dutzende Chörten, übermannsgroße Pyramiden. Im hellen Tageslicht schneeweiß, jetzt aber im Übergang von der vergangenen Nacht zum Versprechen eines kommenden Tages erschienen sie als farblose Silhouetten. Mystisch, unerreichbar, voller Rätsel. Faszinierend im Zwielicht zwischen Morgen und Tag. Schließlich ist auch unsere sogenannte Wirklichkeit niemals nur dreidimensional, sinnierte Sonja, während die Wagen einen massiven Felsen aus hellgrauem Granit umrundeten. Nun präsentierte sich, erhaben auf einem Felsenhügel, eine Komposition von massigen Gebäuden und im selben Moment die Schönheit dieser Klosteranlage. Willkommen im Kloster von Thikse! Die Mönchsklausen, ineinander verschachtelte weiße Würfel, gruppierten sich unterhalb der wuchtigen Klosterräume am Hang. Nach dem obligatorischen Fotostopp stiegen sie am Parkplatz aus, dehnten und streckten sich und liefen die Stufen zum Innenhof hinauf.

Der Weg führte entlang einer Mauer, in deren Nische goldglänzende Zylinder wie Perlen auf einer Kette aufgehängt waren.

»Gebetsmühlen sind das«, erklärte Sonja. »In ihrem Inneren steckt ein langer gerollter Steifen Papier, auf dem Segensgebete gedruckt sind. Indem du diesen Zylinder zum Rotieren bringst, aktivierst du die positiven Energien der Gebete.«

Sonja schob einen Zylinder mit Schwung an. Er quietschte laut.

»Hier haben wir einen besonders heiligen Zylinder. Eine alte Konservenbüchse von Nestlé!«, stellte Jule amüsiert fest. »Ladakhis sind offenbar praktisch veranlagt.«

»Klar. Was geht, wird recycelt.«

»Upcycling heißt das heutzutage. Jedenfalls finde ich die Idee, Segenssprüche durch Rotation zu multiplizieren, großartig.«

»Du wirst solche Gebetsmühlen noch häufiger entdecken. Manche sind größer als du selbst und du musst dich anstrengen, bis du sie in Bewegung bringst. Besonders hübsch finde ich übrigens die kleinen an Bächen, sie werden mithilfe eines Holzrädchens angetrieben.«

Am oberen Ende der Treppe angekommen, betraten sie durch ein rot lackiertes Tor den Klosterhof. Für allgemeines Rätseln sorgte der buschige schwarz-weiße Schwanz eines Yak, der mitten im Hof hoch oben auf der Spitze eines Holzmastes hing. Man diskutierte eine Weile, aber niemandem fiel eine vernünftige Erklärung ein, bis Samten meinte, es handle sich um etwas »Schamanisches» aus der vorbuddhistischen Zeit.

Inzwischen erwachte der Klosterhof. Die Mönche strömten über eine schmale Seitentreppe herein, ein paar Novizen spielten Fangen, zwei Jungen wirbelten mit Reisigbesen Staubwolken auf. Andere verschwanden in einem dunklen Seiteneingang, der zur Küche führte. Es war eine faszinierende Choreografie von konzentrierten, präzisen Bewegungen.

Als Sonja die große dunkle Versammlungshalle betrat, brauchte sie einen Moment, bis sie erste Umrisse in dem Raum erkannte. Auf dem Boden lagen ausgeblichene rote Sitzkissen in Reihen angeordnet, davor akkurat aufgereiht kniehohe längliche Tischchen mit den Instrumenten: Trompeten, Muschelhörner, mehrere kleine und zwei große Trommeln. Die Stirnseite des Raums schmückte ein großer, in warmem Gold erscheinender Buddha. Daneben stand der ausladende Hochsitz aus weinrotem Samt für den Dalai Lama, der zwar nur höchst selten dieses Kloster besuchte, doch würde sich niemand erlauben, darauf Platz zu nehmen.

Für zwei, drei Momente glitt Sonja in einen Zustand von Zeitlosigkeit, sie spürte die klare Kälte dieses Raums, atmete den scharfen Geruch von altem Holz und Räucherstäbchen. Ein kostbarer Augenblick, der all ihre Gedanken auflöste, aus dem sie jedoch aufschreckte, als Stimmen sich näherten. Widerstrebend öffnete Sonja die Augen. Sofort war sie wieder gegenwärtig, kontrollierte, ob jeder Teilnehmer ihrer Gruppe ein Sitzkissen bekommen hatte, und erinnerte daran, dass Fotografieren während der Zeremonie unerwünscht war.

Auch die Mönche ließen sich auf den Sitzkissen nieder, sie ordneten ihre Roben, breiteten die Texte vor sich aus. Vielstimmiges Gemurmel hob an, die Trompeten wurden geblasen, Trommeln geschlagen. Routiniert registrierte Sonja, wer schnell unruhig wurde (Heidrun, Günter), wer zu viel redete (Herr Schneider mit seiner Frau) und wer sich offensichtlich wohlfühlte (Jule, Cornelia und das Ehepaar Volkers).

Die Sprechgesänge erfüllten den Raum und lösten bald abermals Sonjas Denken auf. Allerdings war diese Entspanntheit im Moment auch nicht das Richtige, denn sobald sie ihrem eigenen Atem lauschte, war da wieder Citta. Sonja war froh, dass Jule sie sanft anstieß.

»Das hier ist ja weniger spirituell.« Jule kicherte und deutete auf ein paar Novizen, die hinter dem Rücken der älteren Mönche Grimassen schnitten und alberten.

»Kinder eben«, flüsterte Sonja zurück. Dazwischen kamen und gingen Touristen, liefen herum, fotografierten. Bemühten sich halbherzig, leise zu sprechen, und störten dennoch, bevor sie wieder verschwanden.

Als der letzte Gongschlag erklang, drängten alle nach draußen, die Mönche gingen ihrer Wege, die Novizen durften endlich mit lautem Geschrei Fangen spielen.

Samten führte die Gruppe im Kloster herum, zunächst zum Gonkhang, dem Raum der Schutzgottheiten. Finster war es drinnen, die Wände eingeschwärzt vom Ruß ewig brennender Butterlampen, einige schwer erkennbare, von bunten Tüchern verhüllte Figuren. Ein Schauer lief den Besuchern über den Rücken, als sie die übergroße Figur der zornvollen Gottheit Yamantaka entdeckten. Eine schwarze mehrköpfige und vielarmige Gestalt.

»Buddhisten haben tiefen Respekt vor Yamantaka. Seht ihr diese unglücklichen Kreaturen mit den aufgerissenen Mäulern, die Yamantaka hier unter seinen Füßen zermalmt? Es sind Dämonen, die der Lehre Buddhas Schaden bringen wollten.«

»Diese zwei Gestalten schauen auch nicht gerade freundlich drein«, stellte Frau Volkers fest.

»Die linke mit dem Stierkopf ist der Herr des Todes. Und hier, die Frau auf dem wilden Pferd, das ist Palden Lhamo«, antwortete Samten.

»Palden Lhamo ist eine besonders kraftvolle Göttin. Sie beschützt die Erkenntnis und die Weisheit. Und sie kann helfen, dass wir unsere Ich-Bezogenheit kontrollieren«, ergänzte Sonja.

Dann standen sie vor der Figur des Buddha Maitreya. Über zwei Stockwerke erhob sich dieses Kunstwerk aus glänzendem Gold, geschmückt wie ein König mit seinem Ohrgeschmeide, den üppigen Halsketten, breiten Armreifen und einer Krone.

»So etwas Prachtvolles sieht man selten!«, stellte Herr Schneider zufrieden fest, und an diesem Punkt stimmten ihm alle zu.

Samten nickte. »Maitreya gilt als der künftige Buddha. Eines Tages wird er in die Welt zurückkommen, um uns den Weg zur Erleuchtung zu zeigen.« Er wartete geduldig, bis alle diese prachtvolle Figur fotografiert hatten, dann erzählte er: »Interessant ist, dass Maitreya oftmals stehend oder auf einem Stuhl sitzend dargestellt wird. Diese Haltung lässt vermuten, dass der künftige Buddha vielleicht im Westen erscheinen wird.«

Nachdenklich betrachtete Frau Volkers die Darstellung. »Interessant. Alle großen Religionen haben die Vorstellung von der Wiederkehr eines Heilsbringers. Christen erwarten, dass Jesus wiedererscheint, die Hindus erhoffen eine Reinkarnation von Krishna. Und die Buddhisten also Maitreya.«

Auf dem anschließenden Spaziergang von Thikse zum alten Königspalast von Shey holte Jule Sonja ein. »Die Puja war wirklich sehr beeindruckend. Irgendwie meinte ich zu schweben.« Jule zog ihren breitkrempigen Hut tiefer ins Gesicht, da die Sonne schon stark war. »Das klingt jetzt vielleicht blöd. Genau kann ich das nicht erklären. Jedenfalls wirklich fantastisch! Wie bei meinem letzten Joint.« Sie lachte. »Aber das ist eine Weile her.«

»Bei mir auch.« Sonja musste grinsen, sie mochte Jules Unbekümmertheit.

»Also, ehrlich gesagt, diese vielen Figuren verwirren mich.« Frau Volkers hatte sich zu ihnen gesellt. »Es gibt doch nur einen Buddha.« Offenbar hatte sie das letzte Thema überhört.

»Natürlich», entgegnete Sonja eilig. »Ich erkläre es mal so: Jede Gottheit verkörpert eine bestimmte Eigenschaft von Buddha. Indem du dich in deiner Vorstellung mit dieser Gottheit verbindest, kannst du ihre erleuchtete Qualität erlangen.«

»Jeder Mensch trägt die Buddhanatur in sich. Das volle Potenzial menschlichen Erwachens«, ergänzte Heidrun sachkundig.

Jule grinste. »Klingt prima. Aber bei mir dauert das wohl noch eine Weile.«

»Nach Buddhas Lehre sind es drei negative Geisteshaltungen, die uns Menschen im Kreislauf der Wiedergeburten festhalten«, erklärte Sonja. »Diese Geistesgifte, wie er sie nannte, sind erstens die Gier, zweitens der Hass und drittens die Verblendung.«

»Probleme, mit denen wir uns doch alle irgendwie herumschlagen«, überlegte Frau Volkers.

Sonja nickte. »Erstens: die Gier nach Besitz, Macht und Glück. Zweitens: Ablehnung, sogar Hass auf alles, was uns unangenehm erscheint. Drittens: das Nichtwahrhaben-Wollen der Vergänglichkeit aller Dinge.«

»Jetzt bin ich wieder dabei. Da fallen mir gleich Situationen ein, die mich verzweifeln lassen. Wenn ich nur an bestimmte Leute denke …« Jule verdrehte die Augen, wurde aber gleich wieder ernst und wandte sich Sonja zu, als diese fortfuhr:

»Buddha sagte auch: Wer es schafft, diese negativen Gefühle loszulassen, beendet damit sein Leiden. Im Grunde bietet der Buddhismus praktische Methoden, mit deren Hilfe wir unseren Geist sammeln und reflektieren. Das letztliche Ziel ist dann die Erleuchtung.«

»Die Befreiung von Leiden, Unzufriedenheit, Ruhelosigkeit und Besorgtheit«, ergänzte Frau Volkers.

»Genau. Es geht in Buddhas Lehre aber auch darum, dass wir positive Geisteshaltungen entwickeln: Freude und Freundlichkeit, Glück und Geistesruhe, Selbstvertrauen und innere Zufriedenheit, geistige Klarheit und Energie, Gleichmut und heitere Gelassenheit.«

»Das hast du schön gesagt. Ich arbeite gerade an einem neuen Lebensplan. Mein Job gefällt mir schon lange nicht mehr, und einige private Themen habe ich auch im Feuer. Gibst du mir bitte noch eine kleine Lektion?« Jule band ihren Pullover enger um die Hüften, straffte ihren Rücken und strahlte Sonja an.

»Alle Dinge verändern sich ständig und in jedem Moment. Nichts ist von Dauer, alles ist im Fluss und das scheinbar Feste ist eine Illusion«, fuhr Sonja bereitwillig fort.

»Dabei glaubt man immer, dass alles genau so bleibt, wie es gerade ist. Wenn du glücklich bist, denkst du, es gehe so weiter. Bist du unglücklich, meinst du auch, das höre nie auf. Dabei geht alles vorbei.«

»Das einzig Sichere ist die Veränderung«, lächelte Sonja.

Sonja hörte sich sprechen, wie sie oft gesprochen hatte. Es waren glatt formulierte Sätze, sinnweisende Gedanken über das Leben. Sie hatten sich durch häufige Wiederholungen verselbstständigt, waren jetzt bloß noch Hüllen. Kopfgeburten, die schon lange nicht mehr den Weg in ihr Herz gefunden hatten.

Der Duft der Aprikosen

Подняться наверх