Читать книгу Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch - Страница 13

Morgens am Bach

Оглавление

In unserem Haus lebten neben Api, meinen Eltern und uns fünf Kindern ein Rudel Katzen, die wir während des Winters zum Wärmen unter unsere Zudecken steckten, sowie ein Hofhund. Im Erdgeschoss waren im Stall die Ziegen, Schafe, Dzos und unsere drei Esel untergebracht.

Oft quartierten sich noch Tanten, Onkel oder entfernte Verwandte bei uns ein, wenn sie auf Durchreise waren. Eine meiner zahlreichen Cousinen ist nach dem Tod ihrer Mutter ganz bei uns eingezogen. Egal, niemand machte ein großes Aufheben um neue Familienmitglieder, schließlich war Platz und Arbeit für jeden da. Manche dieser Apis und Tanten, die abends ihre Decke auf dem Schlafplatz neben dem Küchenofen auslegten, kannte ich nicht einmal. Aber ich liebte es, neben meiner Api zwischen diesen anderen Menschen zu liegen und dem neuesten Klatsch zu lauschen, den sie aus ihren Dörfern mitgebracht hatten.

Ich habe keine Ahnung, in welchem Monat ich geboren wurde, und auch das Jahr meiner Geburt ist nicht sicher.

»Es war im Frühling«, meinte Mutter, »denn kurz vor deiner Geburt habe ich meine erste Suppe mit Löwenzahn gegessen.«

Die erste frische Löwenzahnsuppe im Frühling war immer ein besonderes Ereignis und damit erschien mir ihre Erinnerung glaubhaft.

Api widersprach jedoch: »Es war vor der zweiten Ernte, ganz bestimmt.«

Das würde eher für den August sprechen. Doch spielte das Geburtsdatum damals keine Rolle. Anders als viele Jahre später: Als ich für meine Schule in Südindien das Anmeldeformular ausfüllen sollte, war da dieses Kästchen für »Geburtstag«. Plötzlich verlangte man konkrete Zahlen. Nun war das Mindestalter für die Zulassung zur Schule zwölf Jahre. Ich rechnete: Da ich den Sommer liebte, wollte ich unbedingt ein Sommerkind sein. Also trug ich in das erste Kästchen die sieben ein, den Juli. Ins zweite Kästchen, für den Tag, schrieb ich eine zehn, da wir damals zehn Lämmchen im Stall stehen hatten. Somit blieb ich mit der Festlegung meines Geburtstags sogar im Rahmen von Mutter und Api, zwischen erstem Löwenzahn und zweiter Gerstenernte.

Das Ergebnis machte mich zu einem Kind, das zwölf Jahre, zwei Monate und drei Wochen alt war. Mit dieser Kombination von Zahlen wurde ich in der Schule aufgenommen.

Stolz war ich auf meinen Namen. Die Leute formten das Wort Norbu weich im Mund, wenn sie mit mir sprachen. Norbu, der Edelstein. Diesen Namen verdanke ich unserem Dorfmönch, dem Geshe Meme. Wie es sich gehörte, gab er jedem Neugeborenen den Namen. Geshe Meme war nicht nur ein guter Buddhist, sondern auch Astrologe, Streitschlichter und hatte mit Erfolg vielen Trunkenbolden im Dorf ins Gewissen geredet. Außerdem konnte er, sagte Api jedenfalls, ins Herz eines Menschen sehen. »Als der Geshe dich als kleines Bündel zum ersten Mal sah, blickte er dir tief in die Augen. Also weniger in die Augen, er schaute direkt in deine Seele. So erkannte er den Edelstein in dir und nannte dich Norbu.«

Api wurde immer sentimental, wenn sie davon sprach. Außerdem sah der Geshe angeblich noch eine andere Qualität in mir, und so verlieh er mir als Zweitnamen denselben, den der große König von Ladakh trug: Namgyal, der Löwenkönig. So hieß ich schließlich Norbu Namgyal.

»Nunu, vor dir liegt ein kostbares und königliches Leben.«

Api schaute mich mit einer solchen Wärme und Liebe an, dass ich wehmütig werde, wenn ich an ihre Worte zurückdenke. In Wirklichkeit waren allerdings Api und Geshe Meme damals die einzigen Menschen, die an meine verborgenen Qualitäten glaubten.

Mein Benehmen ließ, offen gesagt, auch keinen anderen Schluss zu: Wie oft habe ich anderen Jungs die Nase blutig geschlagen, Nachbarn die Fensterscheiben zerbrochen oder ihnen mit meiner Schleuder einen Stein vor die Füße geschossen. Ich ließ mir von keinem etwas gefallen und konnte jähzornig werden, wenn mich jemand unfair behandelte. Obwohl ich schmal und klein war, hatte ich eine überraschende Kraft, die sich nährte aus einer Mischung von Sturheit, Übermut und Furchtlosigkeit.

Heute glaube ich, Vater nahm meine Wildheit als Vorwand, um mich dahin zu bringen, wo er mich haben wollte: als Ziegenhirte auf der Weide. »Du taugst zu nichts, höchstens zu einem Ziegenhirten«, sagte er oft. »In den Bergen kannst du keinen Unfug anstellen.«

Tatsache war, dass jede Familie einen Hirten brauchte, der sich um die Tiere kümmerte. Bei uns gab es eben keinen anderen als mich. Dabei sagte Vater auch, dass ich ein guter Hirte war und mit den Tieren Bescheid wusste. In diesem Punkt konnte er sich auf mich verlassen.

Zu Beginn des Winters schor Mutter mir die Haare, sobald die Plage mit den Kopfläusen anfing. Wenn sie mich beim Kratzen erwischte, holte sie aus dem Stall die große Schere, mit der im Frühling auch die Schafe geschoren wurden. Mit festem Griff schraubte Mutter mich zwischen ihre Oberschenkel, wo ich auf dem rauen Stoff ihres Wollmantels landete, und bearbeitete meinen Kopf mit routinierten Handgriffen. Wie ich diese Prozedur hasste! Und da ich schon wie ein Schaf behandelt wurde, benahm ich mich entsprechend, stellte mich steif, schrie und kickte mit den Beinen, aber Mutter blieb ungerührt und sagte nur: »Du verschmutzt das Haus nicht mit deinen Läusen!« Natürlich kamen meine Geschwister ebenso an die Reihe, sie benahmen sich allerdings anständiger.

Ich besaß zwei Kleidungsstücke: eine alte Goncha und eine neuere Goncha. Dem jeweiligen Anlass entsprechend wechselte ich, im Winter jedoch trug ich beide Gonchas übereinander. Dabei änderte sich die Passform: Eine neue Goncha bekam ich erst dann, wenn ich aus der alten herausgewachsen war, also wenn sie unter den Achseln zwickte und auf Höhe der Knie endete. Ebenso variierte die Farbe in unterschiedlichen Rottönen, je nachdem, welcher Farbton im Dorfladen bei Onkel Sonam gerade vorrätig war. Die Goncha meines Freundes Tundup war immer weiß. Weiß bedeutete, dass die Familie kein Geld für Farbe hatte. In Wirklichkeit war Tundups Goncha natürlich nicht weiß – der Stoff glich einem Farbkasten, in dem sich seine Aktivitäten widerspiegelten. Graue Asche, rote, grüne und gelbe Flecken, braune und dunkelgrüne Verfärbungen.

Im Winter trug ich unter den Gonchas eine Hose. Meine Hosen hatten immer drei Schlitze gehabt. Da war einmal der lange Schlitz im Schritt. Dieser war sehr praktisch, weil ich mich ohne Umstände hinhocken konnte, wenn ich musste. Die beiden anderen Schlitze verliefen seitlich entlang der Naht. Sie waren gerade breit genug, um durchzugreifen und meine Haut zu kratzen, weil der Stoff aus Schafwolle wirklich rau war oder weil im Winter unsere Körperpflege dürftig ausfiel oder eben wegen der Läuse.

Schließlich will ich dir, Sonja, meine Geschwister vorstellen: Der Älteste von uns war mein Bruder Tenzin, nach ihm kamen Yangchen und Dolma auf die Welt. Als viertes Kind wurde ich geboren. Einige Jahre später kam als Nachzüglerin meine Schwester Dolkar. Zu ihr hatte ich eine besonders innige Verbindung; ich trug sie auf meinem Rücken, wenn Mutter auf dem Feld arbeitete, und kochte ihr Gerstenbrei, sobald sie nach dem Mittagsschlaf ihr Köpfchen aus dem Küchenfenster steckte und nach mir rief.

Da mein Bruder Tenzin der erstgeborene Sohn war, würde er später den Großteil des Erbes bekommen, also den Bauernhof mitsamt Haus und Tieren. Deshalb war Vater besonders an Tenzin als dem künftigen Familienoberhaupt gelegen. Er tat alles, damit er ein würdiger Nachfolger unseres Hausstands wurde, und so war Tenzin nicht nur in der Schule angemeldet, er sollte sogar eine Mittelschule besuchen. Allerdings zeigte mein Bruder kein Interesse an Vaters Plänen. Er schwänzte den Unterricht, mochte aber ebenso wenig die Arbeit auf dem Feld. Mit einem Wort: Mein Bruder war ein Faulenzer.

»Tenzin, du Nichtsnutz. Steh endlich auf und sieh zu, dass du etwas lernst.« Wie oft hat Api zu der Wolldecke hinüber geschimpft, unter der Tenzin zusammengerollt in den hellen Tag hinein schlief. In letzter Sekunde hängte er sich mürrisch seine Schreibtafel über die Schulter und trödelte den Weg zum Schulhaus entlang. Damals beneidete ich meinen Bruder nicht. Ich genoss die Freiheit auf der Weide mit meinen Freunden.

Auch Yangchens Zukunft war absehbar. Als älteste Tochter konnte sie mit einer großen Hochzeit rechnen und in eine angesehene Familie einheiraten. Da Vater fand, dass auch seinen Mädchen Yangchen und Dolma vor ihrer Heirat ein wenig Bildung nicht schaden könne, durften sie ebenfalls die Schulbank drücken. Mir dagegen sollte als zweitgeborenem Sohn die Hirtenarbeit bleiben, und später sollte ich ins indische Militär eintreten. Api gefielen Vaters Pläne für mich nicht.

»Wir sind friedliche Menschen und leben nach Buddhas Lehre«, wetterte sie, »in unsere Familie kommt kein Gewehr.«

Meine Mutter hielt sich aus diesen Diskussionen heraus. Sie war der ruhende Pol in unserem Haus und zu jedem freundlich, solange er keine Gefahr für ihre Familie darstellte. In meiner Erinnerung sehe ich Mutter vor dem Herd sitzen, das Kopftuch nach hinten geschoben, wie sie in das kleine Loch pustet und die Glut anfacht. Da der getrocknete Dung und das Gestrüpp die Küche mit beißendem Qualm durchsetzten, litt Mutter häufig an entzündeten Augen. Wenigstens hatte unser Haus über dem Ofen ein Loch in der Decke, durch das der Qualm abzog. Viele Nachbarn wie Tante Palmo fürchteten, durch ein solches Loch könnten böse Geister ins Haus dringen, und hatten keinen Rauchabzug. Tante Palmos Augenentzündungen waren deshalb noch schlimmer als die meiner Mutter.

Das Kücheninventar hatte Mutter bei ihrer Hochzeit in unser Haus mitgebracht. Ihre Krüge, Teller und Teekannen standen ordentlich auf den schmalen Holzregalen an der Küchenwand, doch ihr ganzer Stolz waren zwei Kochtöpfe aus gebranntem Ton. Das Essen aus diesen Töpfen hatte einen speziellen süßlich-würzigen Geschmack nach fruchtbarer schwerer Erde. Eine Rarität war ein Kochtopf aus schwarzem Stein. Der Stein stammte aus einer Gegend nahe der Grenze zu Pakistan. Dolatik, so hieß diese Region, lag direkt an der alten Seidenstraße, und es hieß, es sei eine trockene Steinwüste, übersät mit Skeletten von Menschen und Tieren. Mutter stammte aus einer ordentlichen Familie vom Nachbarort und als ältester Tochter war ihr das Erbe ihrer Mutter zugefallen: Der große Perak mit den schweren Türkisen, massive Ohrringe aus Gold und mehrere Ketten mit Türkisen und Korallen lagen nun im Nachbarzimmer in ihrer Truhe.

Der Garten lag in trübem Grau im ersten Morgenlicht, als sich Api mit ihren beiden Eseln auf den Weg machte. Die Tiere trugen schwer an den mit Aprikosen und Äpfeln gefüllten Säcken. In der Seitentasche steckten ein Beutel Tsampa, Brotfladen vom Vortag, ein paar Flaschen Chang und Buttermilch als Proviant. Ich begleitete Api bis zu den letzten Häusern des Dorfs, und erst nachdem sie mir ein Geschenk aus der Stadt versprochen hatte, kehrte ich um. Dabei ging mir seit dem vergangenen Abend Mutters Satz im Kopf herum: Tundup soll zur Schule gehen! Es war für mich unvorstellbar. Mein bester Freund würde dann nicht mehr mit uns auf der Weide sein. Wie sollte das gehen, ein Sommer ohne Tundup?

Als ich zu Hause ankam, machte sich Vater für sein allmorgendliches Bad am Bach fertig. Er hatte Kamm und Zahnbüste von dem Holzregal geholt, ein Handtuch über die Schulter geworfen. »Nunu Norbu, komm mit, eine ordentliche Wäsche wird dir nicht schaden.«

Natürlich würde ich Vater begleiten, am Bach konnte ich bestimmt mehr über Tundups Pläne erfahren. Er drückte mir ein Stück hellrote, beißend süßlich riechende Seife in die Hand. Auf beiden Seiten war der Schriftzug »Lifeboy« eingeprägt.

»Ach, es gibt frische Seife«, stellte ich zufrieden fest.

Vater zwinkerte mir zu, wobei sich sein schmales Schnurrbärtchen nach oben verschob. »Wir haben eine neue Lieferung bekommen.«

Er hatte eine Anstellung bei der Regierung als Kontrolleur im Straßenbau und dadurch kam unsere Familie zu einigen Privilegien, die nur wenige Leute im Dorf genossen: Wir erhielten Reis, Zucker und gesüßte Milch in Konservendosen, außerdem Zahnpasta, Seife und Rasierklingen. Mit solchen Kostbarkeiten war Vater der Mittelpunkt am Waschplatz, zumal er von Natur aus großherzig war – allerdings mit einem Kalkül im Hinterkopf, das er uns Kindern oft einbläute: »Wer etwas bekommen will, muss auch geben können.« Das eine gab es nicht ohne das andere. An diesem Punkt war Vater mit Api einig. Api formulierte ihren Lieblingssatz wie immer drastischer: »Wer bloß immer haben und nichts geben will, wird als Hungergeist wiedergeboren.«

Hungergeist! Schon dieses Wort jagte mir Angst ein. Im Reich der Hungergeister, erklärte Api, besitzt ein Mensch zwar alle Reichtümer. Doch ist der Hals so eng zugeschnürt, dass kein Essen durchrutschen kann. Deshalb muss dieser Mensch, obwohl er alles haben könnte, elend Hunger leiden. Irgendwann hatte ich verstanden: Die Habgier verschloss nicht nur das Herz, sondern auch den Hals.

»Bist du so weit?« Vater riss mich aus meinen Gedanken.

»Ja, Vater, natürlich«, antwortete ich eilig, dann liefen wir über die Wiese zum Bach hinüber, in dem frisches Wasser vom Gletscher uns erwartete. Der Gletscher, wir nannten ihn den »Hausgletscher«, lag zwei Gehstunden oberhalb des Dorfs in einem Hochtal. Wir verdankten diesem Wasser das Gedeihen der Felder, Gemüse und Obst und überhaupt das Leben im Dorf. Seit vielen Generationen wurde das Schmelzwasser über Kanäle ins Dorf heruntergeleitet. Ein großer Kanal führte zu den Wasserreservoirs, andere Kanäle verzweigten sich in immer schmaleren Adern zu den einzelnen Feldern, Gärten und Häusern hin.

Der Grasstreifen neben dem Bach war noch taufeucht und kühl, während die Sonne den gegenüberliegenden Hang mit sommerwarmem Licht überflutete.

Einige Nachbarn waren bereits da. Die Frauen hatten sich bei den Weidenbäumen eingerichtet und säuberten sich mit frischen Zweigen die Zähne. Vater und ich stellten uns zu den Männern.

»Julley, Dorje Phuntsog, wie geht es dir? Geht es gut?«, begrüßten sie meinen Vater, rückten zur Seite und nahmen uns in ihrer Mitte auf. »Dorje Phuntsog, hast du eine Zahnbürste dabei?«

Mein Vater antwortete launig: »Nehmt euch ein Vorbild an euren Frauen, so putzt man Zähne.«

»Aber, Dorje Phuntsog, du hast eine Zahnbüste, nicht wahr?«

Die Frauen lachten und eine rief zu uns herüber: »Wenn du eine Zahnbürste hast, gib sie mir.«

»Nein, ich will die Zahnbürste«, unterbrach eine andere Frau. »Du würdest sie mir doch geben, oder?«

Während die Zahnbüste also rundum ging, Vater nun auch unsere Lifeboy-Seife herumreichte, hockte ich auf einem flachen Steinvorsprung auf meinen Fersen, streckte die Hände in das eiskalte Wasser und wartete, bis die interessanten Themen kämen.

»Dorje Phuntsog, hast du auch deinen Kamm dabei?«, rief eine Nachbarin von der Frauenseite herunter.

Normalerweise wurden Kämme aus dem gesägten und gefeilten Horn der Schafböcke verwendet. Allerdings meinten die Frauen, dass solche Hornkämme empfindlich rupften.

»Komm nur, Tante.« Mein Vater holte jetzt auch seinen Kamm heraus, einen Kamm aus hellbraunem glattem Plastik. Nun kamen die Frauen herbei und öffneten ihre langen Zöpfe.

»He, Mutter, ich komme zuerst dran.«

»Nein, Dorje Phuntsog hat mir den Kamm gereicht!«

Nun waren die Zinken von Vaters Plastikkämmen so schmal und fein, dass auch die Kopfläuse hängen blieben – eigentlich ein Vorteil. Jedoch nicht, wenn es sich um die Läuse der Nachbarn handelte. Wegen dieser Kämme hatten wir zu Hause oft Streit, wenn Nachbarn unter einem Vorwand kamen, es aber letztlich bloß auf Vaters Plastikkamm abgesehen hatten.

»Brauche ich noch mehr Läuse im Haus, als hätten wir nicht genug!«, schimpfte Mutter.

»Obendrein soll ich den Besuchern noch Buttertee und Tsampa anbieten.«

Eines Morgens riss meiner Mutter der Geduldsfaden. Der zweite Besucher hatte gerade frisch gekämmt unser Haus verlassen, als sie den Kamm mit festem Griff an sich nahm. Es folgte ein lautstarkes Knackgeräusch. Vorsichtig schaute ich zu Mutter hinüber. Zufrieden betrachtete sie die beiden Teile des auseinandergebrochenen Kamms, dann legte sie die größere Hälfte auf die Ablage in unserer Küche zurück. Die kleinere Hälfte knotete sie an ein dickes Schwanzhaar, das von unserem Yakbullen stammte, und hängte es an einem Nagel vor der Haustür auf. »So, jetzt kann sich kämmen, wer will«, meinte sie zufrieden und schloss die Haustür hinter sich.

Jetzt, endlich, kam das Thema auf meinen Freund Tundup. Ich horchte aufmerksam.

»Habt ihr schon gehört? Der kleine Tundup aus der Trommlerfamilie wird zur Schule gehen.« Es war Onkel Sonam vom Dorfladen, der wie immer als Erster die Neuigkeit wusste. »Stellt euch das mal vor.«

»Nicht zu glauben. Ein Mon-Junge in der Schule! Hat man schon solchen Unsinn gehört?«, erwiderte ein Nachbar und lachte.

Auch mein Vater nickte: »Wozu sollte ein Mon zur Schule gehen? Zum Trommeln brauchst du weder Lesen noch Rechnen.«

»Bald kommen dann selbst die Kinder der Garba zur Schule«, spottete Onkel Sonam, »das wäre noch schlimmer.«

»Wo kämen wir da hin? Keine Musikanten und keine Schmiede mehr im Dorf, wenn alle nur noch Bildung wollen.«

»Onkel Angchuk wird nicht begeistert sein. Einen besseren Hirten als den kleinen Mon-Tundup wird er nicht bekommen.«

»Ja, er hat das richtige Händchen für die Tiere.«

Alle redeten aufgeregt durcheinander und so bemerkte niemand, dass Onkel Angchuk gekommen war.

»Nun macht einmal Pause.« Wegen Onkel Angchuks tiefer, voller Stimme und auch, weil er zu den größten Bauern zählte, wurde es augenblicklich still. Man scharte sich um ihn, und weil Onkel Angchuk unsere nächste Verwandtschaft war, drängelte ich mich nach vorn, um nichts zu verpassen.

»Der Vater des kleinen Mon-Tundup kam vor zwei Tagen zu mir und bat mich um die Entlassung seines Sohnes.« Onkel Angchuk holte tief Luft, während wir mit angehaltenem Atem lauschten: »Er hat eine gute Entscheidung getroffen. Auch ich meine, dass der Sohn eines Trommlers zur Schule gehen sollte.«

Damit war für Onkel Angchuk die Sache erledigt. Er holte seine Seife heraus und setzte sich seelenruhig an den Bach.

Meine Wangen brannten, benommen ging ich zwischen den Menschen hindurch, hörte sie reden über diese unerhörte Neuigkeit. Sobald ich außer Sichtweite war, rannte ich los. Ich rannte über die Felder, die Straße hinab, ich rannte, bis ich keine Luft mehr bekam und die Landschaft vor meinen Augen verschwamm. Wie konnte Tundup nur zu den anderen wechseln? Einfach so? Die anderen, das waren immer die Schulkinder gewesen. Wenn wir frühmorgens mit unserer Tierherde zur Sommerweide liefen, begegneten sie uns in ihrer adretten Uniform: blauer Pullover, braune Hosen, Turnschuhe mit Schnürsenkeln. Bald sollte Tundup zu denen gehören. Das hieße, ich würde ihm morgens begegnen, aber wir würden getrennte Wege gehen. Einfach unvorstellbar.

Ich beschloss, mit ihm zu reden. Gewiss klärte sich alles auf.

Vater sah es nicht gern, wenn ich ohne wichtigen Grund zu einer unserer beiden Mon-Familien im Dorf ging. Mir aber war es egal, dass die Mon zu der niederen Schicht gehörten, ich hatte nie über soziale Grenzen nachgedacht.

Tundup lebte mit seiner älteren Schwester Angmo und den Eltern in einem Häuschen. Ein paar Sonnenblumen standen im Garten, ein Beet mit Blumenkohl, Spinat und Kartoffeln, ein paar Weidenbäume. Kein einziger Obstbaum.

Als ich den Türriegel aufschob, begann der Hofhund zu kläffen und zerrte an seiner Kette. Angmo kehrte gerade den Hof. Sie war für mich das hübscheste und fröhlichste Mädchen der Welt. Angmo hatte das runde helle Gesicht eines Vollmondes, große schwarze mandelförmige Augen, sie bewegte sich weich und biegsam wie eine Silberpappel. Mein Herz machte einen Sprung, als ich sie sah. Angmo war einige Jahre älter als ich und ich war immer verlegen und schüchtern in ihrer Gegenwart, dabei behandelte sie mich so freundlich. Alles fühlte sich bei ihr leicht und selbstverständlich an.

»Julley, Nunu, du warst lange nicht hier.«

»Julley, Angmo. Ich suche Tundup. Ist er zu Hause?«, murmelte ich.

»Nein, keine Ahnung, wo er steckt. Eigentlich sollte er zu Hause sein, wir müssen noch einiges für die Schule vorbereiten. Bei Onkel Sonam haben wir schon Stifte und zwei Hefte eingekauft.« Angmos Augen funkelten vor Stolz. »Du hast es gehört, nicht wahr?« Beiläufig stellte sie den Besen an die Hauswand und beugte sich zu dem Hund vor, der nun mit dem Schwanz wedelte und versuchte, ihr Gesicht abzulecken. »Vater meint, es ist wichtig, lesen und schreiben zu können.«

»Ja, natürlich, das sagte Onkel Angchuk auch. Dann gehe ich Tundup mal suchen.«

Ich verabschiedete mich eilig von Angmo und lief zur Hauptstraße hinunter. Zunächst zum Kooperative-Laden, in dem staatlich subventionierte Butter, Öl, Salz und Teepulver verkauft wurden. Allerdings stand ich, wenn ich den Auftrag hatte, etwas einzukaufen, oft vor leeren Regalen, und immer schimpfte Api, wenn ich mit leeren Händen zurückkam. »Wer vom Personal hat wieder die Sachen auf dem Schwarzmarkt verkauft!«

Dieses Mal kümmerte ich mich jedoch nicht um Lebensmittel, sondern lief weiter über den staubigen Platz vor unserem kleinen Tempel, wo die öffentlichen Dorfversammlungen stattfanden, und schaute bei Dolma Tsering vorbei. Ihr Teashop bestand aus einem einzigen Raum mit spärlicher Einrichtung: ein zweiflammiger Kerosinkocher, zwei Holzbänke und ein wackliger fleckiger Tisch. Auf einem Regal lagen ein paar vergessene Kekspackungen. Nachdem Tante Dolma Tserings Teashop der einzige im Dorf war, legten die Lkw-Fahrer hier ihre Pausen ein, und auch jetzt stand ein grüner Lastwagen an der Straßenseite. Tundup drückte sich oft hier herum. Heute allerdings nicht.

Viel später fand ich ihn, und zwar auf der Sommerweide. Er saß auf unserem Stein, die langen dünnen Beine ans Kinn gezogen, und starrte ins Wasser. Ich setzte mich neben ihn und wir schwiegen beide ziemlich lange. Ich schaute ihn von der Seite an. Tundup war schlaksig und sehnig, sein Blick intensiv, und das schmale Gesicht umrahmten widerspenstige Locken.

»Denk bloß nicht, ich hätte Lust auf Schule«, begann Tundup das Gespräch. »In einem Zimmer sitzen und schreiben, bis einem die Finger krumm werden.«

»Dann geh einfach nicht hin!« Mein Vorschlag war kühn, doch ich musste Tundup auf meine Seite ziehen. »Mit mir würde das keiner machen.«

Tundup zuckte die Schultern. »Ich muss. Vater will das. Er will mir damit ein Geschenk machen.« Ein schiefes Lächeln huschte über sein schmales Gesicht. Er überlegte kurz, bevor er langsam fortfuhr. »Überleg doch mal. Ein Mon-Junge, der nicht nur trommeln, sondern auch lesen, schreiben und rechnen kann! Das ist auch nicht übel.«

Dann versicherte er mir, dass er möglichst oft auf unsere Weide kommen wolle. Doch es war ein schwacher Trost. Ich glaubte ihm nicht, schließlich war er ja einverstanden mit den Plänen seines Vaters. Damit hatte ich kein Argument mehr. Wir machten uns noch eine Zeit lang gegenseitig Mut, versprachen einander, uns oft zu treffen. Doch im Herzen hatte ich verstanden: Mein bester Freund würde bald andere Wege gehen.

Mit fiel ein, dass Vater mir aufgetragen hatte, einen Korb Äpfel an der Straße zu verkaufen. Zusammen mit Tundup war das Verkaufen immer ein Spaß gewesen, zumal wir als Belohnung von unserem Verdienst Süßigkeiten bei Onkel Sonam kaufen durften. Tundup war sofort bereit mitzukommen und für eine Weile vergaßen wir unseren Zwist.

Am Straßenrand saßen schon ein paar Nachbarn mit Äpfeln, Aprikosen und Kartoffeln im Schatten der Pappeln und warteten auf die Lastwagen. Da wir am Ortseingang positioniert waren, hatten wir gute Kundschaft, sodass unser Korb bald leer war.

»Was wirst du nehmen?«, fragte Tundup, während wir über den aufgeheizten Asphalt trabten.

Vater hatte mir eine Rupie vom Verdienst erlaubt, das machte fünfzig Paisa für jeden. Ich überlegte. Eine Handvoll Bonbons. Oder wir würden eine Packung Kekse nehmen. In Vorfreude ließ ich die Münzen in meiner Hand klimpern.

Onkel Sonams Laden war ein Holzverschlag, in dem er zwischen seinen Waren hockte, während er auf Kundschaft und Unterhaltung wartete. Auf den Regalen türmten sich Tee, Salz, Öl für die Butterlampen, weiße Glücksschals, Seife, Streichhölzer, Bleistifte, Gummischuhe, bunte Gebetsfähnchen, Bonbons, Schuluniformen, Kleiderseife und glitzernde Armreifen aus Plastik. Tundup und mich interessierte besonders das linke vordere Regal, auf das Onkel Sonam leider ein wachsames Auge hatte. Hier standen nämlich die Salzkräcker und die süßen »glucose biscuits«, außerdem staubgetrübte Gläser, gefüllt mit herrlichen Kaubonbons. Wir entschieden uns für biscuits und Onkel Sonam schenkte uns noch zwei Bonbons und ein Päckchen Streichhölzer dazu.

»Dein Vater hat Stifte und Hefte gekauft. Dann kann es ja losgehen«, wandte sich Onkel Sonam zu Tundup und lächelte ihn leutselig an.

Ich ärgerte mich über seine netten Worte, immerhin hatte er in der Frühe am Bach Tundup mitsamt seiner Familie noch lächerlich gemacht. Offen ins Gesicht wollte es ihnen also niemand sagen, was die meisten Nachbarn dachten: Ein Skandal, dass der Mon-Junge Tundup die Schule besuchen würde.

Oft heißt es, in der ladakhischen Gesellschaft habe es keine Klassenunterschiede gegeben, aber das stimmt nicht. Auch bei uns waren manche Menschen von Geburt an niedriger gestellt. Dabei waren die sogenannten unteren Stände aus dem Dorfleben nicht wegzudenken.

In Ladakh gab und gibt es bis heute drei Gruppen der unteren Gesellschaftsschichten, der Rigsnan: die Garba (Schmiede), die Beda und die Mon. Wir hatten drei Garba-Familien im Dorf. Sie bauten Lehmöfen für die Küchen, schmiedeten Bukhari, metallene Schüsseln zum Heizen, schärften Äxte und Pflüge. Außerdem stellten die Garba Ohrringe und Amulette her und beschlugen Pferdehufe.

Die beiden anderen Gruppen, die Beda und die Mon, waren Musikanten. Kein Fest war ohne Musikanten vorstellbar. Eine Hochzeit, ein Geburtsfest, ein Tempelfest konnte erst beginnen, wenn die Trommler und Flötisten eingetroffen waren. Die Beda, ursprünglich Bettelmusikanten, spielten Flöte, die Mon waren die Trommler. Zum Musizieren waren Spieler für eine große sowie für eine kleine Trommel nötig, die beiden mussten stets zusammen sein.

Tundups Vater spielte die große Trommel. Die zweite Mon-Familie hatte die kleine Trommel, und eine dritte Familie war für die Flöte zuständig. Als Gegenleistung für ihre Dienste versorgten die Dorfleute die Rigsnan mit allem Nötigen. Zur Erntezeit etwa rief man ein Mitglied aus jeder Familie ins Haus, das in seinen Korb so viel Getreide packen durfte, wie es tragen konnte. Da Rigsnan nur wenige oder gar keine Felder besaßen, wurden sie mit ausreichend Chang und Tsampa entlohnt und verkauften, was sie nicht selbst verbrauchten, in Leh auf dem Markt. Materiell ging es den Angehörigen der niederen Kasten also nicht schlecht, allerdings mussten wir anderen im Umgang mit ihnen einige Regeln einhalten:

War ein Rigsnan in einem Haus eingeladen, musste er nahe der Tür sitzen und durfte nicht zu den besseren Sitzplätzen vorn am Ofen aufrücken. Man trank nicht aus demselben Glas und teilte keinen Teller mit ihm, weshalb er sein Essen und Trinken in einem speziellen, dafür reservierten Geschirr erhielt. Auch sollte niemand etwas essen, das ein Rigsnan zubereitet hatte. So weit zu den gesellschaftlichen Vorschriften. Allerdings gab es zum Glück einige Leute im Dorf, zu denen etwa Onkel Angchuk und meine Api gehörten, die sich darum überhaupt nicht kümmerten.

Ich erinnere mich, wie der kleine Trommler eines Tages mit einer Flasche Chang und einem Katak in unserem Garten stand. Ob er wohl einmal mit Api sprechen könne, fragte der Trommler zaghaft meine Mutter, die ihn zufällig hatte kommen sehen.

»Was willst du?«, fragte Mutter argwöhnisch, Apis großzügige Art war weithin bekannt.

»Ein Dzo möchte ich kaufen«, erklärte der Trommler kurz darauf, als er mit Api in der Küche saß. »Meine kleinen Felder können meine Familie nicht ernähren. Mit einem Dzo als Lastenträger dagegen kann ich einen Handel mit den Nomaden im Changtang aufbauen.«

Api hörte interessiert zu.

»Tausend Rupien für ein Dzo, Api, nur ausleihen. Du bekommst dein Geld bald zurück.«

»Gib dem Mon-Ashang das Geld«, befahl sie Mutter, die dem Gespräch aus sicherer Entfernung zugehört hatte.

Mutter wand sich. »Dem Mon willst du Geld leihen?«

»Genau!«, antwortete Api harsch. »Er will rechtschaffen Handel treiben und er hat das Recht auf eine Chance. Und du, Mutter, sammelst Verdienste für deine gute Wiedergeburt, wenn du ihm dabei hilfst«, fügte sie spöttisch hinzu. Api schaute Mutter scharf an.

So musste Mutter notgedrungen ihre schwarze Metallbox öffnen, in der sie ihren ganzen Reichtum verwahrte: den Perak, ihre Halsketten und ein wenig Bargeld. Zögerlich holte sie den Schlüssel aus ihrer Goncha, sperrte das Schloss auf und zählte widerstrebend das Päckchen abgenutzter Scheine ab. An diesem Abend war die Stimmung in unserer Küche nicht entspannt.

Schon wenige Tage später brachte der Mon ein wuscheliges schwarzes Dzo ins Dorf und führte es stolz meiner Api vor. Und Mutter erhielt tatsächlich ihr Geld ratenweise zurück, wobei der Mon ihr immer ein Stück fette Yakbutter oder Käse von den Nomaden mitbrachte.

»So funktioniert Karma«, sagte Api zufrieden, während sie sich an den Geschenken erfreute. »Wenn du Gutes tust, kommt Gutes zurück. Jede Handlung sollte auf Mitgefühl beruhen«, lehrte Api.

»Nur mit Mitgefühl ist meine Truhe schnell leer«, wandte Mutter ein. »Vernunft muss schon auch dabei sein.«

Vater fasste das Thema schließlich in einen Satz: »Weisheit ohne Mitgefühl ist herzlos. Mitgefühl ohne Weisheit ist kopflos. Deshalb sagte der Buddha, Weisheit und Mitgefühl gehören unauflöslich zusammen.«

Der Duft der Aprikosen

Подняться наверх