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Auf der Sommerweide

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Der Sommer war immer meine liebste Jahreszeit. Jene trägen Tage, einer wie der andere. Auch dieser Tag begann zunächst ganz normal.

Wir waren gemeinsam unterwegs. Wir, das Dreiergespann Tundup, Rigzin und ich, ungefähr acht Jahre alt und unzertrennlich. Als Hirten brachten wir die Jungtiere auf unsere Sommerweide am Fluss.

An diesem Sommertag führte ich sieben Lämmer, vier Zicklein, zwei Kälber und unsere drei Esel mit mir. Mutter hatte mich am Morgen ermahnt: »Komm nicht zu früh nach Hause, Nunu Norbu, mach dich erst auf den Heimweg, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet und der Fluss im Schatten liegt.« Als wüsste ich nicht selbst, dass die Tiere bald auf dem Dreschplatz arbeiten und daher viel nahrhaftes Gras und Kräuter fressen sollten!

Da unser Haus am Rand des Dorfs lag, lief ich erst bei Rigzin vorbei, dann holten wir Tundup am Haus von Onkel Angchuk ab. Tundup war der Sohn des Dorftrommlers, er gehörte zur Sippe der Trommler, der Mon. Seine Familie besaß wie die meisten Mon weder Äcker noch Tiere. Deshalb musste Tundup sich als Hirte bei unserem Onkel verdingen. Als Lohn bekam die Trommlerfamilie ausreichend Gerste und Gemüse. Angchuk war ein großherziger Mensch und dafür respektierte man ihn im Dorf. So trabten wir mit unseren Tieren zwischen weiß getünchten Häusern und über Felder zur Sommerwiese hinüber. Hier würden wir den Tag verbringen.

Die Sommerweide durchfloss ein imponierender Bach. Kaum vorstellbar, dass im Frühling hier noch ein schmales Rinnsal geplätschert hatte. Aber der Winter war gut gewesen, schneereich, und der mächtige Gletscher oberhalb unseres Dorfs schickte mit der erstarkenden Sonne reichlich Wasser herab. Beiderseits des Bachs war die Wiese übersät von glatt geschliffenen Flusssteinen jeder Größe. Api, meine Großmutter, behauptete, die Flussgötter hätten vor unvorstellbarer Zeit diese Steine von den Bergen herabgerollt. Dabei zog sie das Wort »uuunvorstellbar« in die Länge, um mir eine Vorstellung der gewaltigen Dimension zu geben.

Von dieser Weide konnten die Tiere praktisch nicht ausbrechen: Nach oben war das Tal begrenzt von Geröllflächen, die in einen senkrecht abfallenden Kessel übergingen. Rechts machte der Fluss ein Durchqueren unmöglich. Kritisch war nur die linke Seite, wo die Weide in faltige Hügelkämme überging. Allerdings kannte ich jede einzelne dieser Bergfalten, hatte meine Tiere oft aus Mulden herausgelockt, in denen besonders saftige Gräser standen. Und ich kannte jede Quelle, denn im Winter, wenn die Bäche gefroren waren, brachte ich die Tiere zum Trinken hierher.

Ich setzte mich auf meinen Lieblingsstein, ein großer ovaler graugrüner Granit, und überschaute den Horizont. Um uns ragten in einem weiten Kreis wilde scharfgratige Bergspitzen in die Höhe. Die Erdmassen waren vielfarbig geschichtet, bisweilen schräg hochgedrückt, andere warfen sich senkrecht gegen den Himmel. Zwischen den massiven Felsen quollen feiner Sand und spitzes Geröll hervor, die sich talwärts zu breitgefächerten losen Flächen ausweiteten. Lediglich auf den Bergspitzen stand noch unberührt der massive Granit.

Vor mir erstreckte sich mein Dorf, das mit etwa siebzig Familien einer der größten Orte im Industal war. Häuser und Stallungen glichen braungrauen Würfeln in unterschiedlicher Größe, eingebettet in üppig bewachsene Gärten, die jetzt voller Stockrosen und Sonnenblumen standen. In den Kronen der Apfel- und Aprikosenbäume leuchteten die reifen Früchte. Ich ärgerte mich kurz, dass ich nicht ein paar Aprikosen mitgebracht hatte, ließ dann meinen Blick weiter bis zum oberen Rand der Wiese wandern. Dort säumten hochgewachsene schlanke Pappeln die Ufer des Gletscherbachs, dazwischen hatten sich ein paar kurzstämmige Weiden breitgemacht. Die Äcker waren ovale Flickenteppiche in grünen und gelben Schattierungen, durch schmale Wasserkanäle voneinander getrennt. Die Ähren standen schon kompakt auf den Halmen, das hieß, Vater würde unser großes Quellefeld bald für erntereif erklären. Darauf freute ich mich, die Ernte war immer ein besonderes Ereignis.

Die Straße durch unser Dorf lag im Moment grau und öde da. Weil sie die einzige Verbindung vom indischen Flachland in die Hauptstadt Leh war, musste jedes Fahrzeug, das von dort heraufkam, unser Dorf passieren: die schweren Fahrzeuge der Militärs, die in endlosen Konvois bis an die Grenzposten nach Pakistan und China weiterfuhren, ebenso wie die dunkelblauen Lastwagen mit hölzernen Fahrerkabinen, hoch beladen mit Kerosin, Reis und Mehl. Sehr selten bekamen wir auch einen bunt lackierten Truck zu sehen. Diese Straße also verband das Dorf in den Sommermonaten, solange die Pässe schneefrei waren, mit den fernen Städten, eine für uns unerreichbare Welt. Kaum jemand aus dem Dorf war bis jenseits dieser Pässe gekommen – was gab es in Indien schon zu erledigen?

»Hey, Norbu, mach Platz da, wir wollen essen!« Übermütig spritzte Rigzin mir ein paar Handvoll Bachwasser ins Gesicht. Murrend und in Zeitlupe rutschte ich von meinem Stein herunter und bemerkte im selben Moment, wie hungrig ich war.

Rigzin und Tundup hatten sich inzwischen über meinen Weidenkorb hergemacht auf der Suche nach Essbarem, stöberten zwischen dürrem Gestrüpp und drei Fladen getrocknetem Kuhdung, meiner bisherigen Ausbeute des heutigen Tages. Noch hatten sie die Köstlichkeit, die ich mitgebracht hatte, nicht entdeckt. Ich ließ sie zappeln.

»Hier, das dürfte genügen«, grinste ich, schob meine beiden Freunde beiseite und zog einen verschnürten Beutel heraus: Tsampa, frisch gemahlenes, geröstetes Gerstenmehl. Mit Wasser oder Tee vermischt, war Tsampa die perfekte Verpflegung für unterwegs, eine nahrhafte Paste von würzig-nussigem Geschmack, die zu Kugeln geformt einfach in die Tasche gesteckt wurde. Allerdings gab es auch besseres Essen als Tsampa, besonders wenn man wie wir seit dem Morgen draußen war. Ich genoss einen Moment Rigzins langes Gesicht, griff dann in meine Tasche und zog drei große dunkelrote reife Tomaten hervor, frisch aus unserem Garten.

»Das sieht passabel aus«, stellte Tundup in seiner spröden Art fest, doch seine glänzenden Augen verrieten, wie sehr er sich über die Köstlichkeit freute.

Rigzin nahm die Tomaten sofort an sich und tanzte ausgelassen auf dem Geröll herum.

»Wie sieht es bei dir aus?«, fragte ich nun Rigzin.

Vorsichtig legte er die Tomaten auf den Stein und platzierte daneben einen kleinen braunen Brocken Tee.

»Prima.« Ich nickte anerkennend. »Haben wir zufällig auch Milch?«

Rigzin schüttelte den Kopf.

»Was soll’s. Fangen wir mal an«, schlug ich vor.

Tundup steuerte nur selten etwas zu unserem Mittagessen bei. Bei ihm zu Hause reichte es gerade für das Nötigste, und es war selbstverständlich, dass wir das Essen mit unserem Freund teilten. Aber dieses Mal überraschte er uns mit einem verknüllten Leinenbeutel, den er aus seinem Mantel zog. Zucker! Weiße süße Kristalle, durch lange Transporte angestaubt, mit Lastwagen in Säcken über die Pässe des Himalaya befördert.

»Woher ist der? Hast du einen Lastwagen geplündert?« Ich traute Tundup so etwas sofort zu.

Aber er grinste bloß. Tundup war unser Chef, somit erübrigten sich weitere Nachfragen. »Von Onkel Angchuk, weil ich meine Arbeit gut mache«, erklärte Tundup schließlich bereitwillig. »Was habt ihr denn gedacht … den brauchen wir später zum Tee.«

Eine Thukpa wollten wir kochen, Nudelsuppe mit Brennnesseln. Zarte junge Brennnesseln wucherten zu der Zeit üppig auf der Wiese, und es dauerte nicht lange, bis wir genug davon gezupft hatten.

»Steck bloß keine Ziegenköttel mit ein!«, neckte ich Tundup, und er verzog sein Gesicht zu diesem trockenen Grinsen, dieser speziellen Tundup-Mimik, die ich nie ganz durchschaute, und obwohl er mein bester Freund war, verstand ich oft nicht, welche Gedanken und Gefühle sich hinter dieser Fassade verbargen.

»Wenn schon, die Ziegen haben auch bloß Gras und Brennnesseln gefressen«, erwiderte er.

Als wir mit unseren vollen Taschen zurückkamen, hatte Rigzin ein Feuerchen entfacht, über dem das Wasser im Topf kochte. Wir kneteten den Teig, zupften ihn auseinander und gaben ihn mit den Brennnesseln, Tomatenstücken, etwas Salz und Chilis in den Topf. Die Suppe schmeckte herrlich und nach dem Essen dösten wir träge in der Sonne, bis Rigzin einen lauten Schrei ausstieß: »Leute, Steinadler! Genau über uns.«

Ich riss die Augen auf. Tatsächlich. In dem makellos blauen Himmel zogen zwei schwarze Punkte weite gleichmäßige Kreise, und zwar in jener eigentümlichen Ruhe, wie nur starke, selbstbewusste Lebewesen dies taten.

»Was machen die denn hier?«, rief Tundup. »Sie sollten viel weiter oben in den Bergen sein.« Mit einem Ruck war er auf den Beinen und wies uns an: »Beobachtet sie und pfeift, wenn sie an Höhe verlieren. Habt ihr verstanden?«

Nervös beobachteten wir die Adler, als ich bemerkte, wie eine Ziege ins Geröll hinaufkletterte. Sie wäre die perfekte Beute! Im Jahr zuvor hatte ein Steinadler eines meiner Schäfchen vom Hang weggeholt.

Ich begann zu schwitzen und rannte den Hügel hinauf. In meinem Kopf hämmerte es. Wie Vater schimpfen und mich wieder einmal einen Nichtsnutz nennen würde, wenn wir auch dieses Jungtier an einen Adler verlieren würden. Meine bloßen Füße berührten hartes Gestrüpp, bis ich aus der Ferne Pfiffe und Rufe hörte.

»Hey, Norbu, komm zurück, alles in Ordnung.«

Ich blieb stehen und schaute nach oben. Nicht ein schwarzer Fleck war in diesem unglaublichen Blau zu sehen.

»Sie sind doch längst abgedreht.« Tundup lachte, als ich bei meinen Freunden ankam. »Wirst du schnell nervös, Junge!«

Während ich mich langsam beruhigte, hatte Tundup bereits das Thema gewechselt.

»Wisst ihr eigentlich, warum ein Adler wegfliegt, wenn du laut pfeifst?« Er kaute an einem frischen Weidenblatt. Da Rigzin und ich ratlos mit den Schultern zuckten, gab er selbst die Antwort: »Weil der Pfiff sein Hinterteil kitzelt. Deshalb zwickt er es zusammen und schießt dadurch automatisch vor. Wie ein Pfeil.«

Oft bezweifelte ich, dass Tundup seine Worte ernst meinte. Dann schob ich meine Zweifel schnell beiseite. Letztlich wollte ich ihm einfach glauben. Und ihn bewundern. Tundup war klug und mutig. Und er hatte ein feines Gespür für die Gesetze und Launen der Natur. Mein Onkel Angchuk setzte großes Vertrauen in Tundup und erzählte oft, wie sicher seine Tierherde bei ihm aufgehoben sei. Tundup konnte sogar einem Muttertier beim Gebären helfen, griff ohne Scheu in ihr Inneres, um den Nachwuchs in die Welt zu holen. Anschließend rieb er das Neugeborene mit Gras trocken, wickelte es in ein Tuch und trug es behutsam, das blökende Muttertier an der Seite, nach Hause in den Stall.

Die Erde war noch aufgeheizt von der Sonne, als wir ausschwärmten, um die kostbare Hinterlassenschaft unserer Tiere einzusammeln und zum Trocknen auszulegen. Jeder von uns hatte seinen eigenen Stein, auf den wir unsere Fladen mit der Hand plattdrückten. Die getrockneten Stücke vom Vortag packten wir in unsere Weidenkörbe, wobei wir gut aufpassten, dass keiner einen Fladen vom anderen stibitzte, Freundschaft hin oder her.

Längst hatten die Schatten sich über den Fluss im Tal gesenkt, als wir uns auf den Heimweg machten. Die Zicklein und Kälber sprangen ungeduldig und in Vorfreude auf die schweren Euter ihrer Mütter umher.

Mutter und meine große Schwester Yangchen warteten schon, als ich mit dem letzten Tageslicht endlich zu Hause eintraf. Ich war müde und wäre am liebsten gleich ins Haus gegangen, doch musste ich die Jungtiere noch in den Stall bringen. Meine Mutter nahm mir das erste Kalb ab und führte es zu dessen Mutter, die es aufgeregt abschleckte und begrüßte, während ihr Kleines gierig nach dem vollen Euter suchte.

Als das Kälbchen lange genug getrunken hatte, zog ich es behutsam weg. »Mach eine Pause«, murmelte ich und rieb seine hellbraune Blesse, »und teile bitte deine Milch mit uns.« Ich wiederholte diese Worte, die meine Api schon immer in die weichen Ohren unserer Kälbchen und Zicklein geraunt hatte. »Ein Tier ist ein Lebewesen wie du und ich. Wenn du also seine Hilfe benötigst, mach es dir zum Freund. Nur mit Respekt wirst du ihre Unterstützung bekommen«, hatte Api uns Kinder immer ermahnt.

Das störrische Kälbchen wollte sich nicht losreißen, und es kostete mich einige Mühe, es von seiner Mutter zu trennen.

Yangchen knuffte mich freundlich in die Seite und schickte mich mit einer Handbewegung aus dem Stall. Währenddessen ergriff Mutter mit sicherer Hand das Euter und ließ die glänzende fette Milch in den bereitgestellten Lederbeutel fließen. Als der Lederbeutel halb gefüllt war, richtete sie sich auf und schob eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch. Sie lächelte.

»Nunu Norbu, du darfst nun gehen. In der Küche stehen Buttermilch und frisches Brot.«

Dankbar leerte ich meinen Korb, stapelte die gesammelten Dungfladen auf den sorgsam aufgebauten Haufen und betrat den Hausflur. Dort standen ein paar Säcke mit Stroh, zwei alte Benzinkanister zum Wasserholen, auf dem gestampften Lehmboden lagen Schnüre, Seile und anderer Kleinkram. Unsere gefleckte graue Katze, die auf einem der Strohsäcke gedöst hatte, schrak auf und rannte in den Stall; sie wusste, dass sie von Mutter eine Schüssel Milch bekommen würde. Schließlich fiel mein Blick auf zwei weitere Säcke. Sie waren prall gefüllt mit Äpfeln aus unserem Garten. Das konnte nur bedeuten, meine Api würde auf den Markt nach Leh gehen. Die Äpfel aus unserem Dorf waren in der Hauptstadt begehrt, und immer wenn Api von dort zurückkam, brachte sie Geldscheine und ein Geschenk für mich mit.

Ich stieg die steile Treppe in den ersten Stock hinauf. Angenehm dunkel und kühl war das Haus, denn es gab nur kleine Fenster, damit im Winter die Kälte und im Sommer die Hitze abgehalten wurden. Mit einem Fußtritt schob ich die schwere knarzende Holztür zur Küche auf.

Die Küche war der größte und wichtigste Raum des Hauses. Hier kam die Familie zusammen, Gäste wurden empfangen und meine Geschwister machten ihre Schulaufgaben. Außerdem schliefen wir in der Küche, außer im Sommer, wenn wir auf dem Hausdach unser Lager aufschlugen. Der Mittelpunkt des Raums war ein riesiger Ofen aus gebranntem Lehm. Er hatte drei Löcher auf der Deckplatte, über denen gekocht wurde. Durch ein seitliches Loch wurde das Brennmaterial hineingeschoben. Neben dem Herd entlang der Wand war auf Holzregalen das Geschirr aufgestellt: große Kannen für Tee und Chang aus Messing, kunstvoll gehämmert und verziert, Becher und Löffel, ebenfalls aus Messing. Auf der Erde standen drei Tonkrüge zum Aufbewahren von Buttermilch. Bald würde Yangchen einen Teil dieses Hausrats für ihre Aussteuer bekommen.

Entlang der linken Wand lagen schmale Teppiche, davor reihten sich ein paar niedrige Tische mit kleinen Schalen voller Tsampa darauf. Der dicke Holzpfosten in der Raummitte zum Abstützen des Dachs erfüllte noch weitere Zwecke. Auf mittlerer Pfostenhöhe war ein kleines Brett angenagelt, auf dem ein Kamm aus Yakhorn, eine Zahnbürste sowie ein trüber Handspiegel lagen – die komplette Badausstattung.

Ich nahm eine Holzschale vom Regal und füllte Buttermilch ein. Sie schmeckte frisch und säuerlich, Mutter hatte sie am Morgen zubereitet. Gerade ließ ich mich vor einem Tischchen nieder und zupfte ein Stück vom Brotfladen ab, um es in die Buttermilch zu tunken, als Api hereinkam. Sobald sie mich sah, breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. »Nunu, mein Junge, iss ordentlich, du musst Hunger haben.«

»Api, wirst du nach Leh gehen? Warum hast du mir nichts gesagt?«, erwiderte ich vorwurfsvoll.

Mit einem langen Seufzer ließ Api sich neben mir nieder und legte ihre faltige knochige Hand auf meinen Kopf. »Du hast recht, Nunu. Ich gehe morgen nach Leh.« Sie nahm ihre Wollmütze ab, die sie rund ums Jahr trug, und kratzte sich ausgiebig den Kopf.

»Du hast versprochen, mich einmal mit in die Stadt zu nehmen«, beschwerte ich mich. Api und ich waren doch Verbündete, wie konnte sie ein Versprechen nicht einhalten?

»Dein Vater sagt, er braucht dich für die Tiere. Deshalb kannst du nicht mit.«

Ich ließ den Kopf hängen. Ich würde Api vermissen. Api war für mich der wichtigste Mensch auf der Welt. Niemanden habe ich so innig geliebt wie sie und sicher liebte kein anderer Mensch mich so bedingungslos wie Api. Vielleicht lag unsere spezielle Beziehung darin, dass wir beide aus demselben Holz geschnitzt waren. Api konnte stur sein wie ein Esel, sie war derber als ein Mann und konnte mindestens ebenso viel Chang trinken. Und sie hatte ein Herz aus Gold. Was uns am meisten verband, war wohl unsere Furchtlosigkeit. Api hatte vor nichts und niemandem Angst und auch ich war für mein Alter ziemlich mutig. Es gefiel ihr, dass ich so frech war. Deshalb stand ich unter Apis Schutz, wenn Vater wieder einmal allzu streng mit mir umsprang.

»Nunu, komm jetzt, kratz mir mal den Rücken. Da juckt es gewaltig«, befahl sie mir unwirsch, sie mochte keine Sentimentalität. Also fuhr ich mit meiner kleinen Hand in den Halsausschnitt ihrer Goncha und kratzte konzentriert über ihren Rücken. Voller Behagen seufzte Api, bis sie genug hatte und mir mit rauer Stimme Einhalt gebot: »Schluss jetzt, du ziehst mir noch das Fell ab, Junge.«

Nach und nach kamen die anderen Mitglieder unserer Familie herein, meine Geschwister, Vater und schließlich Mutter. Yangchen hatte inzwischen den Ofen angefeuert, aus dem jetzt dicker Qualm quoll. Dann übernahm Mutter den Sitzplatz vor dem Ofen. Es dauerte nicht lange, bis sie sich ihre Augen rieb, wegen des beißenden Rauchs. Yangchen legte durch das Seitenloch ein paar Dungfladen nach, und der Qualm wurde noch schlimmer. Ich hatte mich neben Api zusammengerollt und lauschte träge den Gesprächen.

»Das Metallteil ist vom Rechen abgebrochen«, erzählte Vater, während er ein Stück Holz zurechtschnitzte. Hin und wieder ließ er seine Arbeit ruhen und trank einen Schluck Tee, dabei prüfte er sein Werk. »Was ist mit der Kuh? Sie ist längst überfällig mit dem Kalben«, fragte er Mutter, die am Herd in einem Topf herumrührte. Es würde wieder Nudelsuppe geben mit Gemüse aus unserem Garten, wo Kartoffeln, Karotten, Erbsen, Zwiebeln, Spinat und Rettich wuchsen.

»Sie wird immer apathischer, ich weiß auch nicht, hoffentlich ist alles in Ordnung«, erwiderte Mutter.

»Das wird ein Bulle, wenn er so lange überfällig ist«, warf Api ein und zwinkerte mir zu. »Vielleicht kriegst du bald deinen Bullen, Nunu.« Ich wünschte mir schon lange einen kleinen Bullen.

Api hockte im Schneidersitz auf ihrem Stammplatz am vordersten Sitz neben dem Ofen, schließlich stand ihr als der Ranghöchsten der Anwesenden dieser Platz zu, und drehte ihre Gebetsmühle. »So, Yangchen, jetzt hol mir meinen Chang«, beorderte sie meine Schwester, die neben Mutter am Herd hockte und die Karotten säuberte.

»Dann leg deine Gebetsmühle beiseite!«, fuhr Vater dazwischen. »Gebete an den Buddha und Chang passen nicht zusammen. Jedenfalls nicht gleichzeitig.«

Manchmal stritt mein Vater mit Api, weil für sie alles Mögliche zusammenpasste, was andere für unpassend hielten. Aber heute wollte sie offenbar keinen Streit anzetteln. Api wusste, ihr Sohn mochte es nicht, wenn sie allein in die Hauptstadt ging. Mit einem Knall platzierte Api ihre Gebetsmühle auf das Tischchen, als Yangchen ihre Tasse füllte. Sie tauchte die Spitze ihres rechten Ringfingers in die milchigweiße Flüssigkeit und schnippte dreimal in die Luft: nach oben, nach vorn und zur Erde hin. Es war ihre Gabe an die Götter des Himmels und der Erde, die offenbar auch Chang mochten. Dann trank sie das Glas in einem Zug leer. »Wohin gehst du jetzt wieder, Yangchen, du sollst mir nachschenken.«

Meine Mutter wiegelte bei solchen Streitgesprächen immer ab und wechselte das Thema: »Das Wasser auf unseren Feldern ist knapp. Man muss dem Churpon Bescheid geben, dass er den Kanal abends länger offen hält.«

Vater nickte, er würde am nächsten Tag mit ihm reden.

Nach dem kurzen Zwist lag wieder diese ruhige, beständige Wellenbewegung im Raum, entspanntes Geplauder über die Vorkommnisse des vergangenen Tages.

Das Abendessen wurde im Sommer spät fertig, denn das Kochen fing erst an, wenn alle Arbeiten auf den Feldern und mit den Tieren erledigt waren. Der lange Tag hatte mich müde gemacht, die Stimmen entfernten sich, ich döste schon ein, bis ich einen kalten Gegenstand in meiner rechten Hand spürte.

»Komm, Nunu, iss noch etwas Thukpa, dein Magen knurrt so laut wie der Hofhund draußen.«

Unter Apis Ermunterung schlürfte ich schlaftrunken ein paar Löffel heiße Suppe, und während mir die Augen wieder schwer wurden, hörte ich Mutter sagen: »Habt ihr schon gehört: Der kleine Tundup von der Mon-Familie soll zur Schule gehen. Nun braucht Onkel Angchuk einen anderen Hirten.«

»Der Junge von einem Trommler geht zur Schule. So ein Unfug, das kann nicht sein«, erwiderte Vater.

Dann fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Der Duft der Aprikosen

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