Читать книгу Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch - Страница 16

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Familienleben

Eine Woche später kehrte Api von ihrer Reise zurück. Sie war zufrieden mit ihren Geschäften, zumal beim Transport nur wenige Aprikosen zerdrückt worden waren. Ihr Versprechen löste Api ein und drückte mir eine Tüte Karamellbonbons und drei Dosen süße Kondensmilch in die Hand. Während ich auf der Stelle die erste Dose mit der Spitze meines Messers aufbohrte, hatte sich Api schon auf ihrem Stammplatz niedergelassen, zwei, drei Gläser Chang geleert und berichtete nun von den vielen Menschen in der Stadt, vom neuen Taxistand, der sich wegen der paar Autos ihrer Ansicht nach allerdings kaum lohne.

»Was macht denn deine Hundeesserin?«, unterbrach Vater spöttisch ihren Erzählfluss. »Hast du sie wieder besucht?«

»Sprich nicht so über sie«, zischte Api, »die Apikyi-Sha-Sakan ist meine Freundin.«

Die alte Frau lebte in einem windschiefen Häuschen oberhalb der Stadt, und die Leute hielten sie für verrückt, zumal sie das Fleisch wilder Hunde in ihrem Kochtopf schätzte. Deshalb nannte man sie Apikyi-Sha-Sakan, die Oma, die Hundefleisch isst. Api besuchte die Apikyi-Sha-Sakan, wann immer sie in Leh war, und brachte ihr Aprikosen und Äpfel. Als Dankeschön habe sie ihr einmal einen gebratenen Hund zum Abendessen angeboten. »Das Fleisch ist saftig und sehr lecker, ich habe den Köter erst gestern gefangen«, soll sie gesagt haben, und seitdem wurde unsere Api wegen dieser Freundschaft geneckt, obwohl sie stets beteuerte: »Ich habe natürlich abgelehnt, niemals im Leben würde ich einen Hund essen. Wir haben immer nur Tee getrunken.«

Viele Jahre später stellte sich heraus, dass die alte Apikyi-Sha-Sakan aus Tibet stammte und für den chinesischen Geheimdienst die in Ladakh ansässigen Exiltibeter bespitzelt hatte. Sie war keineswegs verrückt, sondern sie spielte einfach ihre Rolle perfekt. Bevor die Polizei nämlich die Hundeesserin festnehmen konnte, war sie längst über alle Berge verschwunden. Es hieß, sie sei zurück nach Tibet gegangen.

Am Abend kam Vater nochmals auf Apis Reisen in die Stadt zu sprechen. »Nimm doch nächstes Mal den Bus«, schlug er vor, »oder fahr auf einem Lastwagen mit. Andere machen das auch, besonders die Frauen.«

»Die anderen!«, blaffte meine Großmutter ihren Sohn an. »Haben andere etwa allein, ohne einen Mann, ihren Bauernhof bewirtschaftet und drei Kinder großgezogen? Haben die anderen Frauen ihre Familie auf den Dorfversammlungen vertreten?« Sie fixierte ihn mit schmalen Augen und fuhr fort: »Ich habe das geschafft und ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich zu tun habe. Deshalb werde ich mit meinen Eseln in die Stadt laufen, solange ich das will.«

»Der Bus fährt zweimal in der Woche«, wandte Mutter vorsichtig ein, aber Api schnitt ihr das Wort ab.

»Ja ja, manchmal aber kommt er überhaupt nicht. Und was ich von den Fahrern der Lastwagen aus Kaschmir halte, das weißt du genau.« Api verzog die Lippen. »Fiese Kerle sind das. Die behandeln uns schlecht und lachen über uns. Am Schluss lädt so ein Schuft meine Säcke auf und fährt ohne mich weg. Das ist dem Nachbar-Meme erst kürzlich passiert. Mich jedenfalls tricksen die nicht aus. Und jetzt will ich von diesem Quatsch nichts mehr hören. Yangchen, bring mir meinen Chang!«

Api entstammte einer respektablen Familie mit fruchtbaren Feldern und großen Tierherden. Die Leute erinnern sich, dass sie in ihren jungen Jahren eine schöne kräftige Frau war mit zwei dicken, auf Taillenhöhe zusammengebundenen Zöpfen. Ihre Hochzeit sah nach der perfekten Verbindung aus, es hieß sogar, sie und ihr Mann seien bereits ein Liebespaar gewesen, noch bevor ihre Familien die Ehe abgesprochen hatten. Das Besondere an ihm war, dass er einer Amchi-Familie entstammte, einer Dynastie von Ärzten also, und entsprechend war er schon in seinen jungen Jahren ein respektierter Amchi. Die beiden bekamen drei Kinder und Api behauptete immer, es sei eine glückliche Verbindung gewesen. Bis Großvater diese Liebesbeziehung mit einer Witwe aus dem Nachbardorf anfing. Einer Affäre maß damals kein Mensch großes Gewicht bei, so etwas kam häufiger vor, und allein deshalb würde niemand sein Gesicht verlieren. Diese Geschichte aber war offenbar etwas Ernstes. Eines Nachts verließ Großvater dann seine Familie. Man tuschelte, diese Frau habe ihn mithilfe einer Gongmo, einer Hexe, verführt und seines gesunden Verstandes beraubt. Api war allerdings anderer Meinung. »Ach was, dein Großvater war einfach ein Tölpel. Einer Kuh scheint das Gras auf der anderen Seite des Flusses immer das saftigere zu sein.« Großvater hat sich mit der neuen Frau in einem entfernten Dorf niedergelassen. Nun bekam ein Amchi als Entlohnung kein Geld, sondern Getreide und Gemüse – ein Glück für ihn, denn ohne Felder in seiner neuen Heimat musste er von der Hand in den Mund leben. In sein eigenes Haus wagte Großvater sich übrigens nie zurück. Api hätte ihn garantiert von der Türschwelle gejagt.

Nach Großvaters unrühmlichem Fortgang übernahm Api das Regiment im Haus. Manche Nachbarn dachten wohl, sie werde diese große Aufgabe allein nicht bewältigen, und hofften auf eine günstige Pacht ihrer Felder. Doch sie hatten nicht mit dem Stolz und der Willensstärke meiner störrischen Großmutter gerechnet. Sie arbeitete wie ein Yak, sie vertrat ihr Haus bei Festlichkeiten und öffentlichen Versammlungen, und eines Tages wählte die Dorfgemeinschaft sie zur Goba, zur Bürgermeisterin. Damit war Api die erste weibliche Goba, die unsere Gegend gesehen hatte. Kein Wunder, dass sie, obwohl Handel Männersache war, selbst ihre Aprikosen und Äpfel nach Leh brachte. Gerade weil sie so temperamentvoll und stur war, wurde sie hoch respektiert, außerdem fürchtete man ihre scharfe Zunge. Weithin bekannt war auch Apis Trinkfestigkeit und entsprechend gern nahm sie an gesellschaftlichen Ereignissen teil. So saß sie munter, in ihrer besten Goncha und mit dem schwarzen Samthut auf dem Kopf, mit den anderen Frauen zusammen und beschwerte sich lautstark über die Reihenfolge der gereichten Getränke. Üblicherweise wurde Gästen nämlich zur Begrüßung eine Tasse süßen Milchtees gereicht, gefolgt von zahllosen Tassen Buttertee. Erst viel später, wenn das Fest in vollem Gange war, bekamen die Frauen Chang, während die Männer längst bei diesem Getränk angekommen waren. »Warum soll ich mir den Bauch mit Zucker und Salz aufblähen und ständig pinkeln müssen. Bring mir gleich eine Kanne kühlen Chang, Mädchen, dann wird es lustiger«, befahl Großmutter den Serviermädchen in einem Ton, der keine Widerrede duldete.

Sorgen machte indes Bumbu, unser Esel. Seit Api aus der Stadt zurück war, lag er vor seinem Stall, mochte nicht fressen, und seine festen langen Ohren hingen traurig zur Seite. Bumbu war ein besonders hübscher Esel mit einem schmalen dunkelgrauen Fellstreifen, der von seiner Mähne entlang der Wirbelsäule bis zum Schweifansatz verlief, und er war Apis Lieblingsesel. Ich glaube, die beiden hatten eine ganz besondere Verbindung. Immer trabte er ihr, wenn sie in den Stall kam, entgegen und suchte mit seinen weichen Nüstern im Ausschnitt ihrer Goncha nach einer Leckerei, die Api auch zuverlässig für ihn bereithielt.

An diesem Morgen erwachte ich von einem jammervollen Geräusch. Es drang aus dem Stall herauf. Schnell sprang ich von meinem Lager und rannte die Treppen hinab, und da lag unser Bumbu steif auf dem Rücken. Sein Bauch war aufgebläht, die Hufe stakten senkrecht in die Höhe. Api rannen dicke Tränen übers Gesicht. Es war das erste und, wenn ich mich recht erinnere, auch das letzte Mal, dass ich sie weinen sah. In diesem Moment überwältigte mich Apis Trauer sogar mehr als der Tod von Bumbu. Ich klammerte mich an ihre Goncha, und so standen wir eine Weile, bis sie mich mit einer unwirschen Bewegung von sich schob, ihre Tränen abwischte und dreimal das Mantra Om Mani Padme Hung murmelte – möge der Esel eine gute Wiedergeburt erlangen. Dann ordnete sie meinem Vater, der neben ihr stand, an: »Bring ihn zu den Geiern!«

Vater nickte und schickte die Frauen zurück ins Haus. Zu mir aber sagte er: »Du, Norbu, kommst mit uns.« Ich war überrascht, dass Vater mir erlaubte, zum Geierplatz zu kommen. Es war das erste Mal, dass ich bei diesem Ritual dabei sein durfte.

Ein paar Männer aus der Nachbarschaft banden inzwischen Bumbu Stöcke und Seile an seine schmalen Beine. Mit vereinten Kräften hievten sie ihn auf ihre Schultern und trugen ihn durch den Aprikosengarten den Hügel hinauf, wo sie den Körper auf einer offenen Steinebene ablegten. Wir standen ein Stück abseits und mussten nicht lange warten, bis die Geier herangeflogen kamen. Riesige grauweiße Vögel mit breiten Schwingen. Sie kannten diesen Ort, wussten, dass sie hier Speise finden würden, wie schon ihre Vorfahren. Bald waren ein Dutzend Geier über uns versammelt, routiniert zogen sie ihre Kreise, kreischten heiser, stürzten wie auf ein geheimes Zeichen zur Erde und schlugen die Klauen in den Körper unseres armen Bumbu, rissen mit starken Schnäbeln sein Fleisch in Stücke. Ein kalter Schauer rann meinen Rücken hinab, obwohl die Hitze des Tages sich bereits drückend über der Hochebene ausbreitete. Gern hätte ich mich, Schutz suchend, an Vater gelehnt. Doch ich nahm mich zusammen und schaute mit festem Blick diesem gruseligen Schauspiel zu. Bald wehte ein süßlicher Geruch vom Bestattungsplatz zu uns herüber. Wo eben noch unser Bumbu gelegen hatte, blieben nur ein Haufen Knochen und ein Knäuel blutdurchtränktes Fell zurück. Ich war schockiert. Wie schnell löste sich ein Lebewesen in Nichts auf. Verschwunden und unsichtbar für diese Welt. Bei Tundup gab es Probleme wegen der Schuluniform. Offiziell durften Schüler nur in der vorgeschriebenen Uniform das Klassenzimmer betreten. Weil diese Vorschrift meist an der Praxis scheiterte, tolerierten die Lehrer es, wenn die Kinder in ihrer Alltagsgoncha kamen, genauer gesagt, sie kümmerten sich überhaupt nicht um solche Vorschriften. Als jedoch Tundups Vater, der Mon-Trommler, seinen Sohn beim Dorflehrer anmeldete, erinnerte sich dieser überraschend: »Ohne Uniform darf das Kind nicht in die Schule kommen.«

Der Duft der Aprikosen

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