Читать книгу Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch - Страница 6
ОглавлениеDer Brief
Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir zuerst die Aprikosen ein. Ein Dutzend Sorten gibt es. Unglaublich, nicht wahr? Aprikosenbäume vor schneebedeckten Gipfeln auf über dreitausend Meter Höhe mitten im Himalaya. In unserem Garten hatten wir fünfundzwanzig Aprikosenbäume mit sieben Sorten. Damals jedenfalls.
Ich kann noch heute jede Sorte erkennen, denn jede Aprikose schmeckt anders und jede reift zu ihrer Zeit. Die ersten Aprikosen sind Ende Juni so weit. Klein, sauer und knackig sind sie. Wie oft hatte ich diese heftigen Bauchschmerzen, weil ich es nicht abwarten wollte, bis die Früchte ausgereift waren. Ein paar Wochen später kamen die mittelsüßen Früchte an die Reihe. Dann im August, endlich, die zuckersüßen und besonders saftigen Aprikosen. Sie schmeckten am besten, keine Frage. Allerdings waren wir bis dahin längst übersatt, sodass wir diesen Schatz kaum noch würdigen konnten. Api, meine geliebte Großmutter, brachte die Aprikosen in die Hauptstadt zum Markt. Zwei Tagesmärsche brauchte sie bis nach Leh und oft war ein Teil ihrer Aprikosen zerdrückt, noch bevor sie die Stadt erreichte. Mit diesen letzten August-Aprikosen machte Api das beste Geschäft, doch was mich betrifft: Ich habe immer jene frühen sauren Aprikosen geliebt.
Manche Bäume sind so alt und knorrig, dass selbst meine Api nicht sagen konnte, welcher Urahn sie gepflanzt hatte. Für jeden Aprikosenbaum gab es einen eigenen Namen. Da waren der Krummbaum, der Weiße-Kerne-Baum und wie sie alle hießen.
Mein Lieblingsbaum war der Wasserfall-Baum. Durch seine ausladende Krone voller dunkelgrünem Blätterwerk und goldgelben Früchten tanzten fadendünne gleißende Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, wenn ich unter ihm lag. In seinem knorrigen Stamm erkundete ich zauberhafte Landschaften, träumte mich in jene Geschichten, die Api mir von Wassergeistern, fabelhaften Lufttänzerinnen und heldenhaften Rittern erzählt hatte. Dieser Wasserfall-Baum war der geheime Treffpunkt von mir und meinem besten Freund Tundup. Er war durch eine niedrige Steinmauer von unserem Hauptgarten abgetrennt, sodass uns niemand sehen konnte, wenn wir dort saßen. In seinem Schatten tauschten wir Geheimnisse aus, hier versteckten wir uns, wenn es zu Hause wieder einmal Ärger gab.
Sonja, denkst du noch daran, wenn du eine Aprikose isst, den Kern aufzubewahren und ihn auf einer Steinmauer entlang deines Wegs abzulegen? Gewiss weißt du, dass wir auch heute noch die Kerne sammeln; wir schlagen die Schale auf und pressen den weißen Mandelkern zwischen zwei Steinen, bis er seine Flüssigkeit freigibt. Aprikosenöl duftet wunderbar, sagtest du damals zu mir. Das Öl, das du heute in der Stadt kaufen kannst, ist ziemlich sicher maschinell gepresst. Kein Vergleich zu diesem selbst hergestellten dickflüssigen, goldgelben Öl mit seinem intensiven Geruch. Wenn ich an meine Api denke, rieche ich diese würzig-herbe Verbindung von Erde, Butterfett und dem bittersüßen Geruch des Aprikosenöls, mit dem sie ihr Gesicht und die Hände einrieb.
Auch andere Bilder meiner Kindheit steigen in mir auf. Wie ich barfüßig mit durchgefrorenen Zehen auf nacktem gestampftem Lehmboden stand. Kein Kind in unserer Nachbarschaft besaß richtige Schuhe. Natürlich hatten wir unsere bunten Stiefel aus Filz. Allerdings hat der Schnee sie immer durchweicht, sodass meine Füße im Winter patschnass wurden. »Stell sie an den Ofen, Nunu«, grummelte meine Api dann gutmütig, »und setz dich zu mir.«
Api hockte während der Wintermonate den lieben langen Tag in der Küche neben dem Lehmofen, auf dem Kannen mit Tee und Töpfe mit heißer Nudelsuppe brodelten. Sie schob getrockneten Kuhdung in das Seitenfach und gab acht, dass die Glut nicht verlosch, während sie geräuschvoll eine Tasse fetten salzigen Buttertee nach der anderen schlürfte, ihre Gebetsmühle drehte und Schafwolle spann. Also stellte ich meine Stiefel gehorsam neben den Ofen, kuschelte mich an ihren rauen Wollmantel und bettelte sie um eine Geschichte von meinem Helden an, dem legendären König Gesar von Ling. Api war eine wundervolle Erzählerin und ihre Fürsorge tröstete mich darüber hinweg, dass ich im Haus bleiben musste, während meine Freunde sich draußen im Schnee vergnügten.
Ein Paar wasserdichte Schuhe waren mein größter Wunsch, der sich einmal sogar erfüllte, jedenfalls fast. Eines Tages kam mein Vater mit Schuhen aus der fernen Hauptstadt Leh zurück. Ich weiß noch, wie er in die Küche trat und mir stolz dieses Jutesäckchen präsentierte. Ich wusste sofort, was sich darin befand. Hatte mein hartnäckiges Betteln Vaters Herz erweicht oder hatte er einfach meinen Starrsinn satt? Egal!
Mit pochendem Herzen wickelte ich das Päckchen auf. Knöchelhohe Schuhe aus glänzendem schwarzem Plastik, »Made in India« stand auf der Sohle. Zauberworte waren das! Indien erschien uns Lichtjahre entfernt und alles, was von dort kam, war wie ein Versprechen.
Mir wurde schwindlig vor Überraschung und Glück, aber im nächsten Augenblick packte mich der Übermut. Ich zwängte meine breiten Füße in das steife Schuhwerk und flitzte in den Garten. Alle Nachbarn, ja das ganze Dorf sollte diese neuen Schuhe bewundern.
Ich packte unseren dicken schwarzbraun gefleckten Ziegenbock, der friedlich an frischen Heuballen knabberte, bei seinen prachtvollen Hörnern und schwang mich auf seinen Rücken. Zuerst drehten wir eine Runde im Garten, wobei der arme Ziegenbock schier in die Knie ging. Also hielt ich die Balance, indem ich mit beiden Füßen auf dem Boden mitmarschierte, und so trabten wir leidlich würdevoll ein Stück unseren Hausberg hinauf. Drehten, immer schön im Gleichschritt, eine enge Schleife zur Straße vor, wo, wie ich hoffte, möglichst viele Bewunderer zur Stelle wären. Als wir am Dorfplatz einliefen, spürte ich an meiner linken Fußsohle ein merkwürdiges, sehr vertrautes Gefühl. Widerstrebend zog ich meine Goncha hoch und betrachtete das Unglück. Die Schuhsohle hatte sich gelöst und ich stand mit nacktem Fuß auf der Erde! Der rechte Schuh sah kaum besser aus, immerhin hing die Sohle noch daran. Ich stieg ab und dankte meiner Schutzgottheit, dass kein Nachbar mich in diesem beschämenden Moment sehen konnte. Die Überreste meiner neuen Schuhe steckte ich ein, dann zog ich den störrischen Ziegenbock hinter mir her nach Hause.
Mein Vater reagierte wie erwartet: »Ich wusste es doch, jede Rupie für diesen Sohn ist Verschwendung! Er ist und bleibt ein Nichtsnutz.«
»Halt den Mund«, blaffte Api meinen Vater von ihrem Platz aus an, wo sie bequem zwischen einem Haufen Decken und Fellen hockte. »Lass den Jungen in Ruhe. Schließlich hast du, mein Sohn, in diesem Flegelalter noch weniger Hirn gehabt als dein Kleiner hier!«
Während ich, hinter Apis Rücken versteckt, meinen Schuhen nachtrauerte, schob sie mir flink ein Stück köstlichen Baba in den Mund, gekneteten Gerstenteig. Mutter mischte sich nicht ein. Allerdings tat es ihr leid um das schöne Geld. Und ich musste wieder barfuß gehen.
Mit diesen Briefen, Sonja, will ich dir vom alten Ladakh erzählen, vom Leben in meiner Kindheit. Damals, so schien es, hatten unsere Traditionen Bestand für die Ewigkeit. Welch ein Irrtum.
Heute erlebe ich, wie sich unser Land rapide verändert. Die meisten Neuerungen befürworte ich. Straßen, gute Schulen, wetterfeste Kleidung und, ja, auch Schuhe, machen den Alltag angenehmer. Allerdings birgt dieser sogenannte Fortschritt auch Gefahren. Buddha mahnte: Gier und Maßlosigkeit machen den Geist rastlos und unzufrieden. Er hat recht; wir verlieren das Gefühl für das rechte Maß an Fortschritt. Was soll werden, wenn zahllose Autos auf viertausend Meter Höhe die Luft verschmutzen? Wenn Jugendliche mit einem guten Schulabschluss keine passende Arbeit im Land finden? Natürlich wollen sie nicht zurück auf die Felder oder Ziegen auf den Hochweiden hüten.
Doch wer bin ich, dies zu sagen? Auch in mir keimte früh eine Sehnsucht nach einem freieren Leben auf. Ohne die leiseste Idee, wohin mein Karma mich einmal führen würde.
Fünfundzwanzig Jahre ist es her, dass wir uns begegnet sind. Du warst eine Weltreisende, ungebunden und neugierig. Du warst einzigartig für mich, faszinierend. Erinnerst du dich an unsere gemeinsame Zeit? Ich wollte dir meine Familie vorstellen, und du wolltest meine Gedanken, meine Gefühle verstehen, meine Geschichte erfahren. Und ich die deine. Dazu kam es nicht, wir haben einander verloren. Vielleicht hast du mich längst vergessen.
Ich nehme es vorweg: Es war mein Fehler, dass ich unsere letzte Verabredung verpasste. Gewiss warst du sehr zornig auf mich, vielleicht auch traurig. Ich würde es verstehen. Aber es gab einen Grund dafür, Sonja.
Viel ist seitdem geschehen. Unser Leben strömt dahin wie ein Fluss, nichts bleibt, wie es ist. Doch nun habe ich einen Wendepunkt erreicht. Gerade deshalb finde ich wohl erst jetzt den Mut, dir zu sagen, dass die Zeit mit dir zu den schönsten meines Lebens zählt.
So will ich mein altes Versprechen einlösen: Ich erzähle dir meine Geschichte. Und wenn du es erlaubst, zeige ich dir gern mein Dorf.
Verzeih mir.
Julley, Citta