Читать книгу Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen - József Wieszt - Страница 10
ОглавлениеFrühe Erinnerungen und Erzähltes
Der blasse Jüngling
Vor dem Haus der Kopp-Großeltern steht ein Marillenbaum, darunter ein großes Weinfass. Es ist Sommer, die Früchte sind reif. Ein Mann hebt mich hoch über seinen Kopf. Ich sehe von oben auf ein schmales, blasses Jungmännergesicht. Er blickt mich sanft an, lächelt aber nicht. Dann stellt er mich auf das Fass, mitten zwischen die reifen Früchte. Der Duft dieser reifen Aprikosen betäubt mich fast. Ich greife mit den Händen nach den Früchten und esse sie vom Baum. Bis heute erinnere ich mich genau an dieses Gesicht und an den Duft der Marillen. Diese Szene fand wohl im Sommer 1944 statt. Der junge Mann war der jüngste Bruder meiner Mutter gewesen. Er ist im Krieg umgekommen.
Auf dem Wasser
Ich sehe zwei riesige steinerne Pfeiler. Dazwischen schwimmt ein kleines Boot mit mir darin auf dem Wasser. Zwei Frauen sind auch in dem Boot. Vielleicht ist es meine Mutter mit einer ihrer Schwestern, die mit mir in Budapest waren und ein Ruderboot, „Tschinagl“ (ungarisch: csónak) zu einer Fahrt auf der Donau gemietet haben. Ich sehe diese riesigen Steinpfeiler genau vor mir mit grauer, poröser Oberfläche und den Fugen. Das Wasser ist dunkel und kaum bewegt, kein Laut.
Es war in einem Sommer, vermutlich 1945, da war ich 3 1/2 Jahre alt. Leider habe ich später versäumt, mich bei meiner Mutter oder meinen Tanten über dieses Erlebnis zu vergewissern.
Es brennt
Das muss im Sommer l945 gewesen sein. Es war sehr heiß. Im Gemeindehaus von Perbál stand ein Tor offen. In einem großen, sonst leeren Raum lagen Waffen und Munition der verschiedensten Art. Offenbar hatten die Russen Befehl gegeben, dass diese Waffen gesammelt und dort aufbewahrt werden mussten. Der Raum war dunkel und kühl. Möglicherweise gab es keine Fenster. Wir standen mit mehreren Kindern vor dem offenen Tor und traten aus der hellen Hitze des Platzes über die Schattengrenze in die dunkle Kühle. Waffen und Munition lagen auf dem gestampften Lehmboden, es war still. Irgendjemand hantierte im dunklen Hintergrund. Als er uns Kinder bemerkte, verscheuchte er uns.
Die größeren Jungen hatten Patronen, einen ganzen Berg, so groß wie ich, der ich davor hockte. Sie entfernten die Geschosse und kippten das Pulver auf einen Haufen. Es war wieder ein sehr heißer Tag, etwa acht bis zehn Kinder waren beisammen. Wir waren alle barfuß und trugen kurze Hosen, bzw. wir Kleinen – Röcke. Als ein ansehnliches Häufchen Pulver beisammen war, versuchten die Großen, das Pulver mit einem Brennglas zu entzünden. Das war natürlich verboten, und so spielte sich das Ganze im Geheimen ab. Wir hatten uns hinter den hölzernen Schweineställen versteckt. Die Ställe standen auf Beinen, etwa einen halben Meter über dem Boden. Es war sehr still, nur ab und zu grunzte ein Tier. Mir scheint, dass es eine Reihe von solchen Ställen gewesen ist, sie standen nebeneinander am hinteren Rand eines Hofes. Es war nicht unserer, aber vermutlich einer aus der Nachbarschaft.
Einer der Jungen hielt das Brennglas so, dass das Lichtbündel auf das Pulverhäufchen traf. In der Mitte des Glases – vermutlich aus einer Armeetaschenlampe – war ein greller, bläulich-heller Lichtpunkt. Auch dort, wo der gebündelte Lichtstrahl auf das Pulver traf, war ein heller Fleck auf den schwarzen Kristallen des Pulvers. Zunächst passierte nichts. Die Großen mutmaßten, dass es mit dem Brennglas nicht gehen werde. Um die Wirkung zu testen, hielte sie den Strahl auf das Stroh neben dem Pulver. Nach einer Weile bildete sich ein winziges Rauchwölkchen, das Stroh fing an zu glimmen und brannte schließlich in kleinen Flämmchen. Sie kamen an das Pulver heran, das plötzlich in einer großen Stichflamme verpuffte. Wir waren geblendet und erstarrten vor Schreck. Plötzlich schrie einer: „Es brennt!“, und wir Kinder rannten schreiend davon, die Großen vorneweg und wir Kleinen hinterher.
Durch den Lärm wurden Erwachsene alarmiert. Er entstand ein großes Geschrei, ein Stall brannte lichterloh und die Schweine schrien vor Todesangst. Ein Mann war plötzlich da und riss die Tür des brennenden Stalles und die der Nachbarställe auf, und viele Schweine stürzten ins Freie. Aus einiger Entfernung sahen wir Kinder mit klopfenden Herzen, wie die herbeieilenden Menschen eine Eimerkette bildeten, die Wasser vom Brunnen heranschaffte, mit dem das Feuer schließlich gelöscht wurde. Eimer um Eimer gossen die Leute auf den brennenden Stall, dessen Flammen nach jedem Eimer Wasser kleiner und kleiner wurden und am Ende verloschen. Eine Wolke aus weißem Dampf entstieg den Trümmern des verbrannten Stalles.
Die schreienden Tiere waren wie wild davongestürmt und mussten mühsam eingefangen werden. Sie ließen sich nur schwer beruhigen und wurden mit großer Mühe in die Ställe zurückgebracht. Sie spreizten die Beine, mussten an Schwanz und Ohren angehoben und in die Ställe hineingestoßen werden. Es war ein höllischer Lärm, der sich nur nach und nach legte. Vor Erschöpfung schwiegen Tier und Mensch schließlich still.
Die Anführer beim Feuermachen hatten das Weite gesucht. Wir Kleinen wurden von den Erwachsenen zusammengesammelt und in die Häuser gebracht. Der Nachmittag ging so dahin, dass die Männer tranken und die Frauen sich aufregten. Es war schließlich Sonntag gewesen, und dann passierte so etwas. Als es dunkel wurde, schrien die „Anführer“.
Weinlese
Die Wiest-Großeltern hatten, wie erwähnt, zwei Weingärten, einen hatte unsere Oma von ihrem Vater erhalten und als Mitgift in ihre Ehe eingebracht. Das Grundstück für den anderen haben sie gekauft und ihn selbst angelegt. Sie hatten auch zwei Weinkeller. Einer war beim Haus und einer in der Kellergasse in Perbál bei den Presshäusern (Es gab drei Kellergassen). Sie hatten pro Jahr 20 bis 30 Hektoliter Wein, 10 „Hekto“ guten für sich selbst und für Gesellschaften (Feiern, Besuche) und zwanzig „Hekto“ (Trunkwein) für die Arbeiter. Das waren solche, die in der Landwirtschaft mithalfen (Nachbarschaftshilfe) oder bei der Weinlese. Der Großvater trank täglich einen Liter guten im Keller, und 1,5 Liter Trunkwein nahm er mit nach Hause. Den trank er wohl in der Regel auch noch.
Es ist im Weingarten. Mit ihren Scheren schneiden Erwachsene und junge Burschen und Mädchen die reifen Trauben von den Stöcken. Wir Kinder, mein Bruder und ich und vielleicht auch ein paar aus der Nachbarschaft, liegen auf einer Decke im Schatten eines Pfirsichbaumes und beißen in reife Früchte, der Saft tropfte uns auf die nackten Schenkel. Die Fülle des Geschmacks, der schwere aromatische Duft betäuben uns fast. Wieder ist es dieser intensive Geschmack und Geruch dieser reifen Früchte, der mir den tiefsten Eindruck macht. Das ganze Bild hat etwas vom Paradies. Die Fülle der Farben und Düfte, das fröhliche laute Treiben der Großen, der kühle Schatten in der großen Hitze und das kalte Wasser aus dem „Tschutter“, einer emaillierten Blechflasche, aus der uns die Frauen von Zeit zu Zeit zu trinken geben.
Die Pause dann, die „Jaosn“, zu der sich alle um eine ausgebreitete Decke versammeln. Sie schneiden dicke Stücke von einem großen Weißbrot. Die Männer und Burschen essen Paprikaspeck dazu, „an papperten Speick“ und beißen herzhaft in eine geschälte Zwiebel. Die Frauen und jungen Mädchen essen Schmalzbrote und ein Stück geräucherte, trockene Wurst dazu. Obst isst außer den Kindern kaum jemand. Mitten in diesem Paradies von Früchten essen sie kein Obst, v.a. die Männer. Das ist auch in Deutschland so geblieben.
Ich erinnere kaum andere erwachsene Männer in dieser Szene, nur meinen Großvater sehe ich ganz deutlich. Er hat die übliche Tracht der Männer an, lange schwarze Hosen, schwarze Lederstiefel und ein weißes Hemd mit einer schwarzen Weste. Der schwarze Janker ist ausgezogen, es ist zu heiß. Vorgebunden hat er eine blaue Arbeitsschürze, „a Fiedde“, ein Vortuch, mit einem Latz vor der Brust. Ein Band geht um den Hals, und hinten ist es zusammengebunden. Die Frauen haben helle Baumwoll- oder Leinenröcke mit sommerlichen Mustern an. Nur die alten Frauen tragen ihre schwarze Tracht. Alle tragen trotz der Hitze mehrere Röcke übereinander, das ist im Dorf so üblich. Darunter haben sie im Sommer sonst nichts mehr an. Die Röcke sind geschürzt, hochgebunden. Die kräftigen weißen Waden und Knie sind frei. Sie gehen barfuß oder tragen flache Sandalen aus Maisstroh, das sind eher untergebundene Sohlen. Auch der dünne Trunkwein tut seine Wirkung, einzelne Frauen fangen an zu singen. Die anderen fallen mit ein, zögernd zunächst, dann singen alle, und je länger der Tag dauerte, desto feuriger und lauter werden die Lieder. Die Männer singen erst am Abend, im Presshaus, wenn sie einen tüchtigen Rausch haben.
Weihnachten 1945
Zu meinen frühesten Erinnerungen gehören die an Weihnachten 1945 im Haus der Kopp-Großeltern. Wir Kinder saßen in der vorderen Stube und warteten. Die Stimmung war ängstlich angespannt. Die Großeltern – an die Eltern in dieser Zeit erinnere ich mich nicht – und die unverheirateten Schwestern unserer Mutter hatten uns gründlich auf das Ereignis eingestimmt. Waren wir brav gewesen, würde uns „die Lucie“ vielleicht etwas geben. Waren wir „schlimm“ gewesen, würde uns der „Krampus“ den „Orrsch“ verhauen. Das war am Tag der Heiligen Lucia, am 13. Dezember. Eine junge Frau mit einem Kranz auf dem Kopf kam herein und sang ein feines Lied. Neben ihr polterte und trampelte ein ganz in Schaffell gehülltes Wesen herum. Es war mit Ketten behängt, brummte, machte Krach mit Glocken und Rasseln und drohte uns Kindern. Es war der Krampus, ein wilder zottiger Geselle, der eine Art Schamanentanz vor uns aufführte. Sein weißes Schaffell hob und senkte er mit wilden Gebärden der Arme, wie ein großer unbeholfener Vogel, der erste Flugversuche macht.
Ich stierte wie gebannt auf das Spektakel, starr vor Schrecken. Doch dann durchzuckte mich eine große Erleichterung. Es war nur eine Ahnung einerseits und doch auch eine große Gewissheit: Ich hatte in dem wilden Krampus meine Tante Resi erkannt. Sie war damals etwa sechzehn Jahre alt. Damit endete meine Angst aber nicht. Als der Krampus mich mit künstlich verstellter, tiefer Stimme ansprach: „Bisd Du aa olleweö brav gweist?“, da brachte ich nur ein kaum hörbares „jo“ heraus. Krampus gab sich damit aber nicht zufrieden und hielt mir eine Reihe von Verfehlungen vor, die ich begangen haben sollte. Ich weiß nicht mehr, was es im Einzelnen war. Als die Aufzählung zu Ende war, musste ich mich bücken, und Krampus versohlte mich mit seiner Rute aus Reisig den Hintern. Aber er schlug nicht sehr fest, und es tat nicht weh. Es ist die Resi, es ist die Resi, ging es mir plötzlich durch den Kopf, oder richtiger: „As is die Resi, as is die Resi“, denn so dachte ich damals ja.
Sicher ist, dass der Krampus und die „Lucie“ gemeinsam vor Weihnachten kamen. Zu Weihnachten brachte das „Christkindl“ die Geschenke. Mein Bruder und ich erhielten zusammen ein Schaukelpferd aus Holz, weiß lackiert mit aufgemalten schwarzen Flecken, einen Apfelschimmel mit rotem Zaumzeug. Auch als wir schon größer waren, erhielten wir beide zusammen nur ein Spielzeug. Und das bedeutete, dass mein Bruder es erhielt, der ein Jahr älter war als ich. Mir gab er es dann, wenn er keine Lust mehr hatte, damit zu spielen, ich musste in der Regel darauf warten.
Das Christkind war ein etwa zehn Jahre altes Mädchen. Es trug ein langes weißes Kleid und sah sehr schön aus. Im Haar war ein Blumenkranz befestigt, vermutlich trug es auch einen Schleier vor dem Gesicht. Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht gab es dieses Christkind auch gar nicht und ein Firmkind aus späteren Jahren geistert durch meinen Kopf. Aber doch, ein „Christkindl“ muss gewesen sein, wie könnte ich es denn sonst so deutlich vor mir sehen und seine leisen Glöckchen hören, die es an einer Schnur in der rechten Hand trug? Das waren die vorerst letzten Weihnachten in der Familie meiner Großeltern. Mein Vater war nicht dabei. Er hatte sich schon Richtung Österreich von der ungarischen Armee verabschiedet, um sich weiter zu den Amerikanern nach München durchzuschlagen, wo er in Kriegsgefangenschaft kam. Bis Weihnachten 1947 war er auch in Berghofen nicht dabei. Er hat es vorgezogen, in München bei einer Freundin zu bleiben. Insofern hat das Weihnachtsfest für mich nicht den verklärenden Erinnerungswert wie für Kinder aus anderen Familien.
Die „Guckrutzmari“
Wie lange schon Mais in Perbál angebaut wurde, weiß ich nicht. Diese indianische Brotfrucht hat sich in Europa relativ spät ausgebreitet, im 17. und 18. Jahrhundert vielleicht. In den Rang eines Brotgetreides ist der Mais auf dem alten Kontinent kaum aufgestiegen. Er war hier seit jeher Viehfutter oder „Armeleuteessen“. Auch in Perbál wurde Maismehl zu einem Brei verarbeitet, bei armen Leuten versteht sich. In Italien essen arme Leute in verschiedenen Gegenden bis heute einen steifen, spröden Maisbrei, die Polenta. In Perbál hieß der Maisbrei „Guckrutzmari“„. Guckrutz, in der Operettensprache „Kukuruz“ ist, ist in unserem Dialekt der Mais. An den Brei aus Maisgries kann ich mich noch gut erinnern. Er hatte einen etwas strengen Geruch und schmeckte salzig. Wir Kinder bekamen ihn vor allem im Sommer öfter, wohl als Alternative zum Grießbrei, der bei uns Grieskoch hieß. In Perbál wurde aus Maismehl kein Brot gebacken. Ich bin aber sicher, dass es Regionen in Europa gibt, in denen Maismehl dem Brotteig zumindest beigemengt wird. In Ungarn wird heute ein Weizenbrot mit Maisanteil gebacken. Es schmeckt nicht schlecht und ist lockerer als reines Weizenbrot. Bei uns in Perbál wurden mit Maismehl die Schweine gemästet - und gelegentlich die Kinder gefüttert. Einen guten Ruf hatte dieser Maisbrei aber nicht. Irgendwie hatten wir als Kinder das Gefühl, als schämten sich die Erwachsenen, wenn ihre Kinder ausplauderten, sie hätten „Guckrutzmari“ gegessen. Im Frühjahr wurde der Mais spät in Furchen gelegt, etwa fünf Kerne auf einen Schritt. Wenn das Frühjahr feucht war, wuchs er relativ schnell heran und war Ende August schon reif. Dann wurden die Kolben auf dem Feld einzeln vom Stängel gebrochen und zunächst in einen vor den Bauch gebundenen Beutel getan. Dieser Beutel war nicht anderes als ein Kartoffelsack, an dessen vier Ecken ein Seil festgemacht war, die am Rücken verknotet wurden. So entstand der Beutel. Wenn er voll mit Maiskolben war, wurde er auf den Kastenwagen geschüttet.
Die Ladung des vollen Wagens wurde auf dem hinteren Teil des Hofes, der aus gestampftem Lehm bestand und als Tenne diente, zum Nachtrocknen ausgebreitet. Die Kolben mussten noch längere Zeit trocknen, bis wirklich alle Feuchtigkeit aus ihnen heraus war. Um das Trocknen zu beschleunigen, wurde das Stroh des Kolbens hinten gestreift, sodass die goldgelben, in vielen Reihen am Kolben entlanglaufenden Maiskörner frei lagen. War der Mais auf der Tenne so weit getrocknet, dass das Stroh von den Kolben gestreift und abgedreht werden konnte, setzte sich die ganze Familie, Nachbarn und Verwandte zu einem großen Kreis zusammen und erledigten diese Arbeit. Auch die Kinder durften dabei mithelfen, denn sie hatten flinke Finger. Es kam bei diesem Abstreifen des Maisstrohs vom Kolben nicht nur darauf an, die Deckblätter des Kolbens zum Stängel hin nach hinten aufzufächern und abzudrehen. Auch die braunen und unter dem Stroh zum Teil noch grünen Fäden, die aus der Spitze eines jeden Maiskolbens heraushingen, mussten entfernt werden. Gerade diese Fäden, wohl ein Überbleibsel der Blüte waren es, die besonders intensiv rochen. Wenn ich mir heute gelegentlich ein paar Maiskolben vom Acker hole, ist es dieser Geruch, der mich sogleich an die schönen Abende in Perbál erinnert, an denen der Mais geschält wurde. Die Stimmung war in dieser Runde der „Maisschäler“ fröhlich und mit fortschreitender Dunkelheit ausgelassen. Die Erwachsenen tranken Wein bei dieser Arbeit, erzählten Geschichten, sangen fröhliche oder traurige Lieder und hatten gute Laune. Dann freuten wir Kinder uns, denn viel häufiger als solche Eintracht herrschte Streit zwischen den Erwachsenen, der eine gedrückte Stimmung schuf, unter der wir litten. Doch an solchen Abenden herrschte meistens gute Laune und die fabulierenden, singenden Erwachsenen waren „gut drauf“, wie man heute sagen würde, und dachten nicht daran, sich zu streiten, wenngleich auch das vorkam. An den Abenden, an die ich mich erinnere, stritten sie nicht. Im Gegenteil, sie waren sehr bemüht, lustig und mitteilsam zu sein und machten bald Anspielungen, die wir Kinder zwar nicht richtig verstanden, aber wir wussten doch, dass sie sich auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern bezogen, und deshalb waren sie für uns so interessant. Gelegentlich kam es vor, dass ein Mann und ein Weib – so sagt man bei uns – im Hintergrund des Hofes verschwanden und längere Zeit nicht wiederkamen.
Manchmal wurde das Maisstroh nur nach hinten gestreift und Kolben für Kolben zusammengeflochten, bis ein etwa ein Meter langer Zopf entstanden war. An seinem Ende wurde ein kräftiges Seil befestigt und der Zopf wurde unter dem überstehenden Dach vor der Hauswand zum Weitertrocknen aufgehängt. Die meisten Kolben wurden jedoch gänzlich vom Stroh befreit und auf der trockenen Tenne zum weiteren Trocknen ausgebreitet. Wenn der Mais nach ein paar Wochen völlig trocken war, wurden Körner von den Kolben getrennt. Diese Arbeit ging so vor sich, dass sich wieder ein Kreis von Arbeitenden bildete und jeder in der Runde einen Haufen Maiskolben vor sich hatte. Von jedem Kolben mussten die Körner heruntergerebelt werden. Dazu wurde er über eine Schneide gezogen, deren scharfe Seite nach oben zeigte. Sie war auf einem Holzklotz befestigt, den die Erwachsenen zwischen Schenkeln oder Füßen festhielten. Jedes Mal, wenn ein Kolben darüber gezogen wurde, sprangen Körner herunter und fielen auf den Boden. War der Kolben leer, wurde er in die Mitte geworfen. So entstand dort ein Haufen, der ständig größer und größer wurde, während der Haufen vor den im Kreis sitzenden Leuten immer kleiner wurde. Ständig sorgte jemand für Nachschub. Am Ende lag vor jeder/m Arbeitenden ein Berg Maiskörner. Sie wurden zu einem großen Haufen zusammengefegt und später in Säcke gefüllt. War die Arbeit getan, bedankte sich der Großvater bei der versammelten Runde und schickte sie ins Bett. Das war so gegen ein Uhr nachts, und für manch einen war es höchste Zeit, nicht nur, weil er am anderen Morgen um vier wieder aus den Federn musste, sondern weil ihn seine Beine nicht mehr so trugen wie gewöhnlich. Vor allem die Burschen schwankten ihren Stallbetten zu und hatten oft Mühe, die Leiter, die zu ihren Pritschen führte, noch hinaufzuklettern.
Stallbetten
Die Burschen in den ärmeren Familien hatten ihre Betten im Stall bei den Kühen oder Pferden. In Kopfhöhe eines Mannes, oder noch etwas höher, waren dünnere Balken in die Wand eingelassen, auf die Bretter genagelt waren. Sie bildeten das Bett, ein mit Stroh gefüllter Leinenbezug, der Strohsack, war die Matratze. Eine Kolder oder „a Koutzn“, wie man bei uns sagte, diente als Zudecke. Auf dieses Stallbett, „Stoibeittl“, gelangte man durch eine hölzerne Leiter, wie in die Etagenbetten heutiger Kinderzimmer. Diese Art zu übernachten, hatte für die jungen Burschen und Stallknechte durchaus ihre Vorteile. Sie mussten sich die Woche über nicht waschen, hatten es sehr nah zur Arbeit und, das war vielleicht das wichtigste, sie konnten nachts ins Bett klettern, wann sie wollten, ohne dass sie von Eltern oder Dienstherren kontrolliert wurden. Auf den deutschen Dörfern in Ungarn gingen nämlich diejenigen Heranwachsenden, die mangels reicher Eltern sich verdingen mussten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, „in den Dienst“ bei anderen Leuten. Die Mädchen fanden häufig eine Anstellung in der Stadt (Budapest) als Dienstmädchen, die jungen Burschen arbeiteten bei reicheren Bauern als Knechte oder bei Händlern als Fuhrknechte. Die Handwerker auf den Dörfern beschäftigten auch einige Hilfskräfte, meistens waren das aber ihre heranwachsenden Söhne, die den Betrieb der Eltern einmal übernehmen sollten. Richtige Lohnarbeit war auf den deutschen Dörfern unentwickelt. Sehr verbreitet war sie aber auf den riesigen ungarischen Gütern, zu denen jeweils mehrere Dörfer gehörten, in denen die dort beschäftigten Landarbeiter lebten, um auf den Feldern der Gutsherren zu arbeiten. Geld wurde an diese Landarbeiter aber nur selten ausgezahlt. Sie erhielten regelmäßig Deputate, also Holz, Nahrungsmittel, Kleidung, und andere Waren aus den Kaufläden der Gutsbesitzer und eben einen Platz zum Schlafen. Weil sie stets mehr verbrauchten, als ihnen die Verwalter an Lohn gutschrieben, waren sie ständig in der Schuldknechtschaft ihrer Herren. Sie konnten von einen Gut nur wegziehen, wenn sie in der Lage waren, die geschuldete Ablösesumme auf den Tisch des Verwalters zu legen. Dazu war aber kaum einer in der Lage. So lebten sie dann auch noch zur Zeit meiner Kindheit in Ungarn in einer Art Leibeigenschaft, die formell schon fast ein Jahrhundert lang abgeschafft war. Der Schriftsteller Gyula Ilyés hat in seinem Buch „Die Puszta“18 ausführlich über diese Form der Knechtschaft geschrieben. Es ist eines der besten zur sozialen Lage auf dem Lande in Ungarn überhaupt. Puszta hieß nicht nur die Landschaft in der ungarischen Tiefebene, sondern auch ein Gutshaus mit dem dazu gehörenden Gesinde.
Baden in Perbál
Eine Badeanstalt gab es in Perbál nicht, auch keinen Teich, in dem man baden konnte. An Sonntagen, denn an Wochentagen waren auch die Kinder mit auf den Feldern, die jungen Burschen ab zwölf Jahren ohnehin – an Sonntagen im Sommer gingen wir Kinder und die größeren Jungen zum Baden in den „Schlauch“. Es war ein Stauwehr in einem größeren Bach, der unter dicken Maulbeerbäumen zur Mühle floss. Dort badeten wir. Es lag in dichtem Schatten, und an den heißen Sommertagen war es hier angenehm kühl. Dass „wir Kinder“ dorthin zum Baden gingen, ist eine leichte Übertreibung. Zumindest solange die Größeren dort waren, hatten die Kleinen keine Gelegenheit, ins Wasser zu kommen. Dafür war es viel zu klein, und das Getümmel war so groß, dass wir uns nicht hinein trauten.
Badehosen oder -anzüge hatten wir nicht. Wie erwähnt hatten die kleineren Kinder im Sommer ohnehin nur ein Röckchen an, Jungen wie Mädchen oder „Buem“ und „Maaln“, wie es in unserem Dialekt heißt. Unterhosen, Strümpfe und Schuhe trugen wir nur, wenn wir in die Kirche mitgenommen wurden oder bei Besuchen. Wenn wir Kleinen ins Wasser gingen, waren wir nackt. Die jungen Burschen banden sich ihre Schürze vor den nackten Körper. Dieses „Fiedde“ wurde zwischen den Beinen hindurchgezogen und hinten am Rücken am Band der Schürze festgebunden.
Damit war alles zugedeckt, was versteckt werden sollte. Allerdings war auch der Latz der Schürze vor der Brust heruntergelassen und irgendwie auch in der Mitte befestigt, sodass eine Art Badehose entstand. Für die Mädchen ab neun, zehn gab es solche Probleme nicht. Sie waren aus der Sicht der Eltern damals schon „groß“ und mussten im Haushalt helfen, es war kaum vorstellbar, dass sie am Sonntagnachmittag im Wasser herumtollten. Die kleineren Mädchen liefen wie die Jungen splitternackt in unserem Bad herum.
Das gestaute Wasser ging den größeren Jungen bis an die Brust. Schwimmen hätte man können, aber das Gedränge war so groß, das kaum einer dazu kam. Richtig gelernt hat kaum einer das Schwimmen, zumindest nicht im „Schlauch“. Die Hauptsache bei dem Baden war, dass die größeren Kinder und die jungen Burschen vom Ufer oder von den Aufbauten der Staustufe – das waren dicke Balken, die wie ein Tor über dem Graben standen und von denen Bretter an Ketten heruntergelassen wurden, die das Wasser aufhielten – von dort herunter ins Wasser sprangen. Das geschah unter lautem Geschrei, Gebrüll und Gelächter.
Wir Minigaffer am Rand wurden durch das Geplansche oder absichtlich von denen, die im Wasser waren, nass gespritzt. Das war unser Baden. Aber es war nicht langweilig für uns. Im Gegenteil: Wir nahmen großen Anteil an dem Treiben der Größeren. Auch hatten wir unsere Favoriten unter ihnen, und wenn sie bei dem Gerangel und den sonstigen Revierkämpfen, die junge Burschen dort austrugen, obsiegten, freuten wir ins mit ihnen.
Informativ waren diese Badetage für uns Kleine auch dadurch, dass ab und zu ein kleines Malheur passierte und im Eifer des Getümmels die improvisierte Badehose eines jungen Burschen herunterrutschte. Wenngleich dieser eifrig bemüht war, das Missgeschick schnell zu beheben, so konnten wir doch zur Genüge sehen, was uns da unten später wachsen würde. Wenn es die Großen auf einen besonders abgesehen hatten, lösten sie ihm öfter das Schürzenband und machten ihn nackt, was immer zu einem schlagartigen Anstieg des Geschreis und Gelächters führte.
Auch über das andere Geschlecht, meistens nur in Zwergausgabe vertreten, erfuhren wir an diesen Tagen manches, denn die größeren Jungs wussten davon schon etwas zu erzählen und prahlten nicht selten mit ihrem Wissen. Gelegentlich lief doch eines der größeren Mädchen von zu Hause weg und kam zu dem Badevergnügen hinzu. Es dauerte dann meist nicht lange, und es lag im Wasser. Neugierig begutachteten dann alle ihre knospenden Formen, die durch das nasse Hemd oder durch die Bluse deutlich zu sehen waren. Auch die Versuche der großen Jungen, die Mädchen an den interessanten Stellen anzufassen, blieben uns Kleinen nicht verborgen. So waren diese Badetage für uns ein früher Aufklärungsunterricht im Freien. Vieles davon wussten wir aber schon, waren wir doch öfter Zeugen, wenn sich die Mutter oder ihre unverheirateten jüngeren Schwestern wuschen oder auszogen und badeten.
Die beduselten Gänse
Ich sagte schon, dass wir im Schatten von Maulbeerbäumen badeten. Sie standen rechts und links von dem Weg, der an dem Bach entlangführte. Die Maulbeeren, mit deren Laub die Seidenraupen gefüttert werden, haben sehr wohlschmeckende blaue oder weiße, d.h. blaurote oder blassgrüne Früchte. Bei uns in Perbál wuchsen die roten. Immer wenn die Maulbeeren im Sommer reif wurden, aßen wir Kinder uns dick und rund mit den reifen Beeren, die wie in die Länge gezogene Brombeeren aussehen und auch ein bisschen wie halb reife Brombeeren schmecken.
Wenn die Früchte überreif sind, schmecken sie sehr süß. Sie fallen dann von den Bäumen herunter. Der Weg unter den Bäumen war dann übersät mit diesen zuckersüßen Früchten, deren Flecken übrigens nur sehr schwer zu entfernen sind.
Ich habe das später in China erfahren, wo ich in meiner Begeisterung, wieder Maulbeeren essen zu können, jede Gelegenheit nutzte, die Früchte von den Bäumen zu pflücken. Dabei fiel mir eine überreife Beere auf die Schulter meiner Sommerjacke, die ich dann die ganze Reise über mit einem Tupfer herumtrug, wie ein halber General sozusagen, denn die andere Schulter hatte ja keinen Maulbeer-Generalsstern. Aber zurück nach Perbál.
Selbstverständlich fraßen auch die Gänse gern Maulbeeren. Sie wussten genau, wann die Früchte auf die Erde fielen, und machten sich zielsicher auf, um sie zu verspeisen. Wie Gänse das eben machen, marschierten sie eine hinter der anderen, im Gänsemarsch, unter die Maulbeerbäume. Dort löste sich ihre paramilitärische Formation auf und sie fraßen sich den Bauch voll mit köstlichen überreifen Maulbeeren. Nun gab es dabei aber ein Problem. Bei der großen Hitze der ungarischen Sommer lagen die Früchte nicht nur so einfach auf dem Boden herum, sondern mit ihnen passierte etwas: Sie fingen bald an zu gären. Durch Gärung entsteht Alkohol und die braven Gänse waren nach ihrem Festfressen nicht nur dick und rund und satt, sie waren auch ein bisschen besoffen. Manche etwas mehr, manche etwas weniger, wie bei den Menschen auch. Die eine verträgt etwas mehr, der andere etwas weniger. Und da lag genau das Problem.
Bekannt ist, dass eine Gänseherde immer von einer erfahrenen Altgans angeführt wird. Sie hat das absolute Kommando über die anderen. Sie hatte aber auch schon öfter eine Maulbeerfête mitgemacht und wusste um die Wirkungen dieses köstlichen Essens. Vielleicht vertrug sie aber auch mehr als die anderen. Sie war also, als sie zum Abmarsch trompetete, noch relativ nüchtern. Ihre Gefährtinnen aber und auch die Jungtiere, bei denen selbstverständlich auch halbstarke Gänseriche waren, die besonders viel gefressen hatten, dieses Gefolge also war ziemlich besoffen. Aber Befehl ist Befehl. Die Tiere ordneten sich also in Reih und Glied entsprechend der Gänserangordnung ein und marschierten los.
Um aber ehrlich zu sein, marschieren konnte man das nicht mehr nennen, und mit der Reihe war es auch nicht weit her. Was uns Kindern da entgegenkam, war vielmehr ein torkelnder Gänsewurm, eine weiße Schlangenlinie, die krampfhaft versuchte, die Form zu wahren und als Gänsemarsch zu erscheinen. Das stolperte und wackelte dahin, mal fiel eine nach vorne, mal nach hinten, mal schubste man die Vordergans, mal wurde eine geschubst.
So entstanden Lücken in der Reihe, die die kleinen Saufbolde dann schnell wieder schließen wollten, wobei sie nicht selten ausrutschten und zwischen die anderen hinein purzelten, so dass die Gänseordnung noch mehr durcheinander kam. Sie schimpften und zeterten dann miteinander und behackten sich mit ihren Schnäbeln, aber keine Angst, ernsthaft wehgetan haben sie sich dabei nicht. Dafür waren sie nicht mehr zielsicher genug.
Es waren jedenfalls lustiges Völkchen, die da mehrmals am Tage ins Dorf zurückwanderten, noch lauter und geschwätziger als Gänse ohnehin sind und uns Kindern schien es, dass sie sogar lauthals lustige Lieder sangen, oder besser grölten. Aber, ich kann mich da auch täuschen. Ich war damals ja noch sehr klein, und es ist ja auch schon lange her.
Die Gänse waren sonst nicht so friedliche Tiere, wie sie hier bisher erscheinen. Ich kann sogar sagen, dass sie damals zu meinen Feinden gehörten. Eine zu große Annäherung an sie konnte für uns Kinder – ich erzähle hier ja von einer Zeit, in der ich drei bis vier Jahre alt war – mitunter sogar gefährlich werden. So schien es uns zumindest damals. Es ist ja so, dass eine hoch aufgerichtete, erwachsene Gans größer ist als ein vierjähriger Knirps, dass sie einen harten Schnabel hat und kräftige breite Flügel, mit denen sie harte Schläge austeilen kann.
Die kleinen Gänsekinder übten auf uns Kinder eine große Anziehungskraft aus. Sie waren so schön kuschelig und weich und sprachen mit angenehmen Gänselauten miteinander. So war es nur verständlich, dass wir die Gänschen auf den Arm nahmen und uns ihr weiches Flaumgefieder an die Wangen drückten. Dann aber riefen die Kleinen nach ihrer Mutter, weil ihnen das ungewohnt war, und weil sie sich vielleicht auch vor uns fürchteten, obwohl wir doch selbst noch so klein waren. Aus der Sicht dieser Küken waren wir natürlich Riesen, und vielleicht waren wir auch noch sehr ungeschickt und fassten diese zarten Wesen viel härter an, als es gut war. Jedenfalls riefen sie nach ihrer Mutter, die dann auch prompt zur Stelle war, aber wie! Sie streckte den Hals weit vor und zischte uns so gefährlich an, dass wir die Gänschen gleich wieder auf den Boden setzten und flüchteten. Heute weiß ich, dass das nur eine Drohgebärde war. Aber heute ist heute, und damals war damals.
Noch bedrohlicher oder gefährlicher war für uns Kinder der Gänserich. Wenn wir an einer Gänseherde vorbeikamen, war höchste Wachsamkeit geboten. Gänse grasen immer in Gemeinschaft, in einer richtigen Herde. Und zu einer solchen Herde gehörte bei uns im Dorf immer auch ein Gänserich.
Vor dem hatte ich große Angst. Immer wenn wir Gänseherden begegneten, machten wir Kinder uns aus dem Staub. Oft waren wir aber nicht schnell genug. Dann kam der Gänserich mit weit vorgestreckten Hals hinter uns hergerannt und stieß ein fürchterliches Zischen aus. Wenn wir ihn nicht entkommen konnten, biss er uns in die Waden oder, schlimmer, flog uns auf den Rücken, biss uns in den Hals und schlug Furcht erregend mit seinen großen Flügeln auf uns ein. Die Gänse schnatterten dabei lautstark. Es schien uns wie ein gewaltiges Getöse. Ein Albtraum.
Fielen wir dabei auch noch hin, dann war das Unglück komplett, wir schrien um unser Leben. Denn der riesige Vogel ließ freiwillig nicht von uns ab und jagte uns mit seinem Geschrei, Flügelschlagen und Beißen Todesangst ein. Ein Auge hätte dabei auch leicht verloren gehen können. Dazu kam es aber nicht, denn bald kam ein Erwachsener und befreite uns von dem Peiniger.
Schlittenfahren in Perbál
Es lag hoher Schnee. Auf dem Weg zwischen den Häusern unserer Großeltern war ein Pfad freigeschaufelt, der wegen der Glätte mit Asche bestreut war. Der Pfad senkte sich zum Haus der Kopp Großeltern hin etwas. Wir Kinder versuchten auf Schlitten, diesen „Berg“ hinunterzufahren. Als Kinder hatten wir einen selbst gemachten Schlitten, zumindest sah er so aus. Er bestand aus drei Brettern, zwei standen hochkant und bildeten rechts und links die Kufen. Ein etwas breiteres Brett war quer darüber genagelt und diente als Sitz. Selbstverständlich waren die Kufenbretter vorn abgerundet, sonst hätte der Schlitten nicht fahren können. Zwischen den Kufen war vorn eine stärkere Latte quergenagelt, an der das Zugseil festgebunden war. Zwischen dieser Latte und dem Sitzbrett war ein Zwischenraum. Wenn wir gezogen wurden, stellten wir die Füße vorne auf die Querlatte und hielten uns an den Sitzkanten fest. Griffe oder so etwas gab es dafür nicht. Auch eine Rückenlehne fehlte. Wenn wir schneller gezogen wurden, fielen wir leicht hinten vom Schlitten herunter, weil wir uns nicht richtig festhalten konnten. Wenn viel Schnee lag, war das weiter nicht schlimm, dann fielen wir weich. Wenn wenig Schnee da war und der Boden hart gefroren, dann tat so ein Sturz weh, und entsprechend groß war das Geschrei, wenn wir auf den Boden knallten.
Ich sehe noch heute deutlich die Schneewände rechts und links der Schlittenbahn und die Ascheflecken auf der sonst weißen glatten Fläche. Damals, im Winter 1945/1946, war ich vier Jahre alt. Unser Schlittenberg erschien mir riesig. Er erschien mir so groß, dass ich mich anfangs gar nicht hinunterzufahren traute. Ich stand auf diesem riesigen Berg und schrie fürchterlich, gerade so, als sollte ich augenblicklich umgebracht werden. Es bedurfte vieler Fahrten auf dem Schoß von größeren Kindern oder Erwachsenen, bis ich mich endlich allein hinunterwagte. Später, als ich Perbál nach zweiundvierzig Jahren wieder besuchte, musste ich über meine frühere Angst vor dem großen „Berg„ lächeln. Für einen Erwachsenen ist er nur eine flach abfallende Böschung zwischen zwei parallel verlaufenden Lehmwegen, die im Unterdorf die Straßen bildeten. Der kleine Hügel war mit Gras bewachsen, und ein ausgetretener Fußweg verband die beiden Straßen miteinander, unsere ehemalige Schlittenbahn.
Um ihre Benutzung gab es Streit zwischen Kindern und den Erwachsenen. Wenn Schnee lag und die Erwachsenen ihn festgetrampelt hatten, konnten wir besonders gut Schlitten fahren. Dadurch wurde der Weg mächtig glatt und die Erwachsenen rutschten aus und fielen hin. Dann schimpften sie laut auf diese nichtsnutzigen Kinder, die durch ihre Schlittenfahrerei alles glatt machten. Wenn einer hingestürzt war, dauerte es nicht lange, und er kam mit dem Aschkasten aus dem Ofen und streute Asche auf unsere schöne Schlittenbahn. Danach war sie stumpf. Jetzt waren es die Kinder, die schrien und schimpften, weil ihre Schlitten nicht mehr den Berg hinunterfuhren. Wenn das ein paar Mal vorgekommen war, fuhren wir Kinder neben diesem verhunzten Weg den Berg hinunter, und dagegen hatten die Erwachsenen nichts mehr. Leicht war es aber nicht, eine neue Bahn festzutrampeln, denn in Perbál lag im Winter meistens viel Schnee.
Wintergeschichten
In Perbál zogen die Pferde bei Schnee große Schlitten. Es gab solche für „vornehme Leute“, die dienten quasi nur zum Spazierenfahren und waren so etwas wie Kutschen auf Schlittenkufen. Man saß auf zwei Bänke hintereinander und die darauf saßen, hatten es schön warm. Ihre Füße, an denen sie sowieso schon dicke Fellstiefel trugen, steckten in warmen Fußsäcken aus Fell. Um Beine und Körper waren zudem dicke Felldecken gewickelt, durch die kein noch so kalter Wind hindurch blies. Natürlich trugen sie auch Felljacken oder solche aus dicker Wolle und auf dem Kopf war eine Pelzmütze. Aber das konnten sich nur die reichen Leute leisten, zu denen wir nicht gehörten, auch wenn uns mein Großvater später oft erzählte, wie weit er es in Ungarn aus eigner Kraft gebracht hatte. Die ärmeren Leute, die kleinen Bauern und Händler, fuhren gewöhnlich mit einem gröberen Lastschlitten, der wie ein Ackerwagen auf Kufen aussah. Auf ihm hockten die Männer und jungen Burschen und ließen die Beine vorn, rechts und links der Deichsel, herunterbaumeln. Resolutere Mädchen und Frauen fuhren ebenso mit, ihre Beine baumelten hinten herunter. Für die Ängstlicheren wurde eine Bank oben auf den Schlitten geschraubt, auf der sie dick vermummt saßen.
Wenn es etwas zu transportieren gab, zum Beispiel Säcke mit Getreide zur Mühle, lagen sie oben auf den Brettern. Oft wurde auch ein Schwein oder ein Schaf transportiert, das in einer Kiste aus Latten eingesperrt war. So konnte immer jeder sehen, welche Fracht mit dem Schlitten durch die Gegend gefahren wurde. Neugierig wurden die Leute nur, wenn jemand mit einer geschlossenen Bretterkiste durch die Gegend fuhr. Sie hätten nur zu gern gewusst, was da wohl drin war. Wenn einer keine zwei Pferde zum Vorspannen hatte, musste er sich eines beim Nachbarn oder bei Verwandten ausleihen. Aber wer verleiht schon gern seine Pferde? So kam es, dass vor manche Schlitten nur ein Pferd gespannt war. Das sah man öfter. Ein Pferd war damals für einen Kleinbauern schon ein kleines Vermögen, das nicht jeder hatte.
Lenkten jüngere Männer oder Burschen einen Schlitten, standen sie meistens darauf und knallten laut mit der Peitsche, vor allem dann, wenn weniger Schnee lag und die Pferde gut laufen konnten. Dann flitzten die Schlitten die Dorfstraße entlang, die Pferde trabten oder liefen im Galopp, und die Schlittenlenker mögen sich wohl vorgekommen sein wie die Wagenlenker im alten Rom, die mit ihren Rennkarossen durch die Arena jagten. Aber die allermeisten dieser Flitzer hatten von der Rennbahn in Rom nichts gehört, denn in Perbál ging man zu dieser Zeit nur sechs Jahre zur Schule, noch früher sogar nur vier. Und der Dorfschullehrer hatte sicher anderes zu tun, als diesen Sprösslingen etwas über die römische Geschichte zu erzählen. Viele werden ihre Mühe gehabt haben, richtig lesen und schreiben zu lernen. Aber das machte damals nicht so viel aus, weil nur die wenigsten Zeitungen oder Bücher lasen. Ausnahmen gab es jedoch. Ein Buch befand sich in jeder Familie, das war die Bibel, und wer nicht richtig lesen konnte, dem wurde eben vorgelesen. Rechnen musste man können, darauf kam es an. Wer nicht rechnen konnte, der kam auf keinen „grünen Zweig“ oder wie man heute sagt: Der konnte es nicht weit bringen. Im Sommer konnten die Kinder an Wochentagen häufig nicht zur Schule gehen, weil sie auf den Feldern helfen mussten. Für die gab es die Sonntagsschule, in der sie im rechten Glauben unterwiesen wurden und das versäumte Schulpensum nachholen konnten.
In manchem Winter war der Schnee so hoch, dass ein Dorf tagelang von den Nachbardörfern und damit von der übrigen Welt abgeschnitten war Die Straße konnte man nicht benutzen. Einen Schneeräumdienst, wie wir ihn heute kennen, gab es nicht. Der Schnee musste mit Schippen beiseitegeschafft werden oder bestenfalls mit einem Schneepflug, der von Pferden gezogen wurde. Aber wenn der Schnee sehr hoch war und die Pferde darin stecken blieben, konnten sie den Pflug natürlich auch nicht mehr ziehen. Innerhalb des Dorfes wurden dann Pfade freigeschaufelt. So entstanden regelrechte Schluchten im Schnee, über deren Rand wir Kleinen nicht hinausgucken konnten. Die Erwachsenen mussten uns auf die Arme heben oder gar auf die Schultern setzen, wenn wir etwas sehen wollten. Es gibt viele Geschichten über den Schnee und die eingeschneiten Dörfer in Ungarn, die wir an den langen Winterabenden den Erwachsenen in der warmen Stube abgelauscht haben. Die haben vielleicht ein bisschen übertrieben, aber etwas muss an ihnen dran gewesen sein. Wir Kinder haben sie jedenfalls geglaubt, z. B. folgende:
In einem solchen schneereichen Winter fuhr ein Mann mit seinem Pferdeschlitten von Perbál nach Budapest. Das ist ein Weg von etwa fünfundzwanzig Kilometern. Von dieser Fahrt, so erzählte es uns der Großvater, ist der Mann nicht mehr ins Dorf zurückgekommen. Tagsüber hatte es so viel geschneit, dass die Pferde in einem Hohlweg zwischen zwei Dörfern im Schnee versanken und nicht mehr weiterkamen. Es war schon dunkel, und der Mann wollte zu Fuß Hilfe holen. Aber auch er blieb im Schnee stecken und kam nicht weit. Den Mann, die Pferde und den Schlitten fanden am anderen Tag Männer, die sich aufgemacht hatten, ihren Nachbarn zu suchen. Denn natürlich hatte die Frau in der Nacht noch die Dorfleute alarmiert, dass ihr Mann nicht zurückgekommen sei. Aber in einer solchen stürmischen Winternacht, bei so tiefem Schnee konnte man niemanden suchen, ohne selbst zu erfrieren.
Man fand den Mann nur etwa hundert Meter von seinem Schlitten entfernt. Erschöpft war er in den Schnee gesunken und in der eiskalten Nacht erfroren. Stocksteif lag er da, und man musste ihn vorsichtig transportieren, damit ihm die glashart gefrorenen Arme und Beine nicht abbrachen. Auch die Pferde waren erfroren. Sie standen noch angeschirrt im Schlitten, und die Männer konnten an den Spuren im Schnee sehen, wie die armen Tiere verzweifelt versucht hatten, aus dieser Schneefalle herauszukommen. Es war leider vergebens. Der Mann und seine Tiere waren das Opfer seines Leichtsinns geworden. Später erfuhren die Dorfleute nämlich, dass der Mann aus Perbál von seinen Bekannten in der Stadt gewarnt worden war, in der Dunkelheit und bei dem großen Schneetreiben noch nach Hause zurückzufahren. Er hatte aber nicht auf ihren Rat gehört. So hatte er sich und seine Pferde umgebracht. „So geht es denen, die nicht auf den Rat von vernünftigen Leuten hören“, sagte der Großvater zu uns staunenden Kindern gewandt. Wir saßen nämlich vor dem Ofen auf einem kleinen Holzschemel und hörten mit weit offenen Augen und aufgesperrten Mündern dieser Geschichte zu, voll Mitleid mit dem Mann und den armen Rössern.
Eine weitere Gefahr für Schlittengespanne waren in schneereichen Wintern die Wölfe. Dazu gab es auch eine Reihe von Geschichten. An eine erinnere ich mich. Auf dem Weg zurück nach Perbál wurde ein Schlittengespann, das im tiefen Schnee nur langsam vorankam, von einem Wolfsrudel angegriffen. Die Tiere versuchten, die Pferde am Hals zu packen und umzureißen. Die zwei Männer auf dem Schlitten schlugen mit ihren Peitschen auf sie ein, konnten sie damit aber nicht vertreiben. Zum Glück hatten sie Streichhölzer dabei. Einer der beiden riss Stroh aus einem Bündel heraus, das auf den Schlitten lag. Doch das Streichholz ging immer wieder aus. Nach mehreren Versuchen konnten sie endlich ein Büschel anzünden. Schnell zog er ein weites heraus, das er an dem ersten anzündete usw. Die brennenden Strohbüschel warf er auf die Wölfe, die er mit dem Feuer endlich vertreiben konnte. Ich bibberte vor Angst und malte mir vor unserem Feuer in der Stube riesige Wölfe mit weit aufgerissenen Rachen aus, die die armen Pferde fressen wollten und dann doch durch ein großes Feuer vertrieben werden konnten. Erleichtert atmete ich auf. Meine Oma, die meine Angst wohl bemerkt hatte, nahm mich in ihre Arme und beruhigte mich: „Hier in die Stube können die Wölfe ja nicht kommen.“
18 Verlegt bei Franz Greno Verlagsgesellschaft, Nördlingen 1985