Читать книгу Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen - József Wieszt - Страница 14

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Bei Familie Arnold

Geleitschutz

Ein Polizist aus der benachbarten Kleinstadt Battenberg soll uns (mit gezogener Pistole?) in die angewiesenen beiden Räume gebracht haben. Um Probleme zu vermeiden, war er mit dabei. Unser Vater ist in meiner Erinnerung bei diesem Umzug nicht vorhanden. Schrank, Bett und Tisch hat er vermutlich schon vorher dorthin geschafft. Möglicherweise musste er an dem Tag arbeiten, denn 1951 im Sommer hatte er schon einen Hilfsarbeiterjob als Handlanger auf dem Bau gefunden.

Es war die gute Stube der Bauern, in die wir zogen. Eine anschließende Kammer wurde das Kinderschlafzimmer. Eine Küche gab es für uns nicht. Vermutlich hat unsere Mutter auf einem Ofen im Wohnzimmer gekocht.

Der Umzug erfolgte nach der Erinnerung unserer Schwester so: Der Polizist ging vorneweg.

Maria folgte ihm an der Hand unserer Mutter. Sie durfte die Sturmlaterne tragen. Dann folgten mein Bruder und ich. Wir zogen den Handwagen mit unseren wenigen Habseligkeiten, einem Feldbett („Amibett“), das wohl der Vater auch mitgebracht hatte, und einem Kinderbett für die Kleine.

Unser Empfang bei Giebels war mehr als frostig. Für dreieinhalb Jahre wohnten wir zu fünft in den beiden Räumen: zwei Erwachsene, zwei heranwachsende Jungen und unsere kleine Schwester Maria. Um in unser Zimmer zu gelangen, mussten wir durch den Hausflur, zwei Holzstufen hinauf und dann nach rechts in unsere Wohnung. Das Ehepaar Arnold hatte zwei erwachsene Kinder, die Geschwister Otto und Frieda. In den ersten Wochen trauten wir uns kaum hinaus, aus Angst, jemandem von den „Hausleuten“ zu begegnen. Es kam anfangs aber nicht oft dazu, denn wir horchten an der Tür, ob nicht gerade jemand von ihnen im Hausflur war, und gingen nur hinaus, wenn wir nichts hörten. Trafen wir dennoch einen an, erschraken wir Jungen jedes Mal heftig und gingen ihm schnell aus dem Weg. Zumindest bei mir war es so. Meine Mutter hatte uns verboten, mit den Hausleuten zu reden oder gar etwas von ihnen anzunehmen. Sie war sehr beleidigt darüber, dass man sie und ihre Familie nicht wollte.

Die kleine Maria bricht das Eis

Anfangs sprachen wir und die Giebels nicht miteinander. Die kleine Maria, drei Jahre alt, hielt sich aber nicht an das Verbot. Sie brach schließlich das Eis. Ständig rannte sie hinter Otto und Frieda her, den erwachsenen Kindern der neuen Hausleute. Unsere Mutter versuchte immer wieder, sie zurückzuhalten, aber sie ließ sich nicht daran hindern. Sie rannte auch hinter der „Giwwelstante“29, Frau Arnold, her, sogar bis Backhaus in der Mitte des Dorfes. Maria wollte immer Gläser mit Marmelade von der „Giwwelstante“ haben. Ihr wurde gesagt, wenn ein Mann in gläsernen Stiefeln komme, der eine gläserne Leiter trage, dann dürfe sie zur Marmelade. Otto hatte unsere kleine Schwester offenbar sehr gern. Scherzhaft nannte er Maria „schoarzes Oos“ oder „schwoazer Deiwel“ (schwarzes Aas oder schwarzer Teufel). Darüber hat sie sich immer geärgert. „Ech sei kän schworzer Deiwel!“ („Ich bin kein schwarzer Teufel!“)

Sie ging neugierig und unbefangen auf unsere Vermieter zu und hatte durch ihre kindlich-freundliche Art bald das Herz der Frauen gewonnen. Sie war ja im Dorf geboren und damit sozusagen schon eine Einheimische. Das Eis zwischen uns begann schon nach einigen Wochen, etwas aufzutauen. Der Anlass war folgender:

Maria war verschwunden. und meine Mutter machte sich große Sorgen. Sie ging sie suchen. Von Nachbarn erfuhr sie, dass die Kleine mit der „Giwwelstante“, Frau Arnold, mit zum Backhaus gegangen war. Meine Mutter kam dorthin und traf die beiden an. Sie wollte ihr Kind sofort mitnehmen. Das Kind wollte aber nicht. Sie wehrte sich und schrie wie am Spieß.

Da sprach Frau Arnold meine Mutter an: „Lassen Sie das Kind doch hier, ich bringe sie ja heil wieder nach Hause.“ Das waren wohl die ersten Worte, die sie an meine Mutter gerichtet hatte. Meine Mutter gab nach und die Kleine durfte bleiben. Sie hatte einen besonderen Grund, nicht mit der Mutter zu gehen. Im Backhaus backten die Frauen nicht nur ihre Brote, sondern auch leckere Zucker- und Streuselkuchen, im Herbst auch Apfel- und Pflaumenkuchen. Ein weiterer Vorfall, den meine Schwester ausgelöst hatte, wirkte sich ebenfalls fördernd auf die Kommunikation aus: Im Dorf feierten die Ungarndeutschen „Kiridog“, ihr Kirmesfest. Maria hatte ihr neues Kleid mit Rotkäppchenmuster an, das ihr unsere Wiest-Großmutter aus diesem Anlass geschenkt hatte. Die Kleine war als Erste fertig angezogen für dieses Ereignis und wartete schon auf dem Hof auf uns andere. Dort stand auch der vollgetankte Jauchewagen der Hausleute. Maria sah ihn sich genauer an, entdeckte hinten an dem Tank eine Kette und zog daran. In einem hohen Schwall ergoss sich die stinkende Brühe über sie. Auf ihr lautes Geschrei hin liefen die Frauen auf dem Hof zusammen. Meine Mutter rannte unser „Trögl“ holen, in dem wir Kinder immer badeten. Die Giebelstante und die Frieda zogen das unglückliche Kind aus. Wasser wurde herbeigeschafft und die Kleine vom Kopf bis Fuß eingeseift und abgeschrubbt, abgetrocknet und neu eingekleidet. Ob sie hinterher nicht doch noch ein wenig gestunken hat, ist nicht bekannt. Sie konnte jedenfalls mit zum Kirchweihfest gehen. Selbstverständlich hatten die Frauen bei dieser Rettungsaktion auch mit einander gesprochen. Ich gehe übrigens davon aus, dass unser Vater von Anfang an mit den Hausleuten gesprochen hat.

Arbeitssame Leute waren wir

Ein Grund für die Verbesserung der Situation war auch, dass die Arnolds bald feststellten, dass wir keineswegs „Zigeuner“ waren, sondern arbeitsame Leute, deren Eltern in Ungarn eine ähnliche kleine Landwirtschaft gehabt hatten, sogar eine größere als sie hier. Meine Eltern waren mit all den hier anfallenden Arbeiten vertraut, und sie halfen den Vermietern bald aus, v. a. während der Ernte, bei der jede Hand gebraucht wurde. Mein Bruder und ich halfen ebenfalls mit. Eine Arbeit, die wir etwa einmal im Monat für unsere Mutter übernehmen mussten, war „Wäsche bleichen“. Wenn Mutter große Wäsche hatte, legten wir bei schönem Wetter Bettlaken, Bettbezüge und die Tischwäsche in Giebels Garten auf den Rasen und begossen sie mit Wasser aus einer Gießkanne. Das wiederholten wir einige Male. Dann wurden die Wäschestücke umgedreht und die Rückseite bleichte nun in der Sonne.

Wir durften uns auf dem Hof der Bauersleute einen Kaninchenstall bauen, und so verfolgte uns Jungen diese Arbeit auch in der neuen Wohnung. Unser „Peiniger vom Straßenrand“ wohnte nun sogar in unserer unmittelbaren Nähe

Wenn die Heidelbeeren reiften …

Wenn die Heidelbeeren reiften, mussten wir mit unserer Mutter und weiteren Frauen und Kindern in den Wald, um sie zu pflücken. Es war eine mühsame Arbeit, diese kleinen blauen Kugeln einzeln abzupflücken. Wir legten sie zunächst in ein Milchkännchen oder auch in eine Konservenbüchse, die wir mit einer Kordel um den Bauch gebunden hatten. War ein Gefäß voll, so schütteten wir es in einen Eimer, der bei der Mutter stand. Beim Pflücken konkurrierten mein Bruder und ich miteinander. Wir zeigten uns gegenseitig, was wir schon gepflückt hatten. Bei mir war der Boden schon bedeckt. Er hatte die Büchse fast zu einem Viertel gefüllt oder umgekehrt. So ging das den ganzen Tag über. Es half uns aber, die lange Zeit zu überstehen.

Schlimm war es, wenn einer stolperte und hinfiel. Der ganze Ertrag seiner Arbeit lag dann auf dem Boden, und er versuchte, die Beeren wieder in sein Gefäß zurückzubringen. Schlimm waren auch die Rinderbremsen und sonstigen Stechfliegen, die uns ständig in unsere nackten Beine stachen. Eine immerwährende Versuchung war es, die Beeren zu essen, statt sie in den Sammelbecher zu tun. Wenn unsere großen Eimer dann endlich voll waren, begann der lange Weg aus dem Wald ins Dorf zur Sammelstelle. Dort wartete schon ein Aufkäufer, der uns pro Kilo eine Mark bezahlte. Das bezahlte er aber nur für „einwandfreie Ware“. Waren zu viele Blätter zwischen den Beeren, gab es weniger Geld.

Waldhimbeeren sammelten wir zu dem gleichen Zweck. Die bei den Heidelbeeren auftauchenden Probleme wurden dabei noch vergrößert, weil wir uns an den stacheligen Himbeersträuchern die nackten Beine zerkratzten. Diese Beeren mussten noch sorgfältiger gepflückt werden als die Heidelbeeren, weil sie sehr leicht „zermatschten“ und dadurch unansehnlich wurden. Wenn wir Beeren aßen, erlebten wir häufig eine unangenehme Überraschung. War zuvor eine Blattwanze darüber gelaufen, so stanken und schmeckten sie ekelhaft, und wir spuckten die schönen Beeren wieder aus. Das wenige zusätzliche Geld, das wir durch Beeren sammeln verdienen konnten, gab unsere Mutter für Kleider und Schuhe für uns aus, denn wir wuchsen ständig aus den alten Sachen heraus.

Heuernte

Im Juni mähten unsere Hausleute ihre Wiesen. Das geschah mit einem „Mähbalken“, in dem ein Messer ständig hin und her lief und das Gras abmähte. Er war an einer Maschine angebracht, die von Kühen gezogen wurde. Otto saß auf einem Sitz zwischen den Rädern und hob und senkte den Balken mit einem Hebel. Das Gras blieb zum Trocknen in der Sonne liegen, bis es trocken war. Bei heißem Wetter wurde es mittels Rechen täglich gewendet, damit auch die Rückseite zu Heu trocknen konnte. Wenn das Heu fertig war, wurde es in lange Reihen zusammengerecht, die dann von den Männern mit Heugabeln auf einen Leiterwagen geladen wurden. Auf dem Wagen sorgte die Tochter Frieda dafür, dass es richtig verteilt wurde. Auch mein Bruder und ich halfen beim Wenden und auf dem Wagen. War ein Wagen voll, so wurde das Heu mit einem langen Rundholz, dem „Heubalken“, der längs über dem Wagen lag und hinten und vorne mit Seilen oder Ketten gespannt wurde, befestigt. Dann wurde das Heu in die Scheune auf dem Hof gefahren. Die Wege, die dabei gefahren werden mussten, waren mehrere Kilometer lang. Eine solche Fahrt dauerte jeweils über eine Stunde. Wir Kinder durften dabei oben auf dem Wagen mitfahren. Wir lagen auf dem Rücken in der Sonne, inmitten des duftenden Heus und atmeten die würzigen Sommergerüche tief ein. Für mich zählen diese Fahrten zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen an Berghofen. In der Scheune wurde das Heu vom Wagen direkt auf den Heuboden verladen. Das Auf- und Abladen war eine schwere Arbeit. Danach ging’s wieder zurück auf die Wiese, und die Arbeit begann von Neuem. Am Nachmittag fand eine kurze Erholungspause auf der Wiese statt. Zur Stärkung hatte die „Giwwelstante“ Kuchen und Pfefferminztee mitgebracht. Auch an diese Pausen erinnere ich mich gern zurück.

Otto, der Wagenlenker

Der Wagenlenker bei all den Fahrten auf die Felder und Wiesen war Otto, der Sohn der Hausleute. In der rechten Hand hielt er die Peitsche, die er nur sehr sparsam einsetzte, sozusagen nur zur Erinnerung, damit die Kühe beim Ziehen nicht einschliefen. Leicht ließ er das Seilende über den Rücken der Tiere streifen. Die Ahnung, dass er auch schmerzhaft zuschlagen könnte, beschleunigte für eine Weile ihren Schritt, bis sie wieder langsamer wurden. Dann wiederholt sich alles wieder. Otto dirigiert die Tiere meistens mit Sprache: „Oaar“ hieß links, „hott“ hieß rechts, „brrr“ anhalten, „hüüüh“, hieß „Los, los!“ War er zufrieden, klang seine Stimme versöhnlich, wenn er den Namen der Tiere aussprach: Sie hießen „Bless“, „Liese“ oder „Braune“. Gingen sie nicht so, wie sie sollten, schrie er „Schinnoos“, „Brauner Deivel“, „Deer weer ich hälfe“, dann schlug er nach ihnen. Er war jähzornig. Diese Wutanfälle waren sozusagen das ergänzende Verhalten zu seiner sonst überwiegenden Ruhe.

Giebels haben sich nie einen Traktor angeschafft, auch keinen Selbstbinder. Das Geld dazu fehlte immer. Auch an einen „Gummiwagen“ kann ich mich nicht erinnern, so wurden Wagen mit Gummi bereiften Rädern genannt. Giebels Wagen hatten Holzspeichenräder mit einem Stahlband drum herum. Die Lauffläche war im Sommer silbrig glänzend vom Gebrauch mit Kratzspuren überfahrener Steinchen. Der Seitenrand kontrastierte dazu rostig-schmutzig. In Berhofen gab es keine Ochsen, es gab nur junge Bullen, die bald geschlachtet oder verkauft wurden, und den Deckbullen, der für Nachwuchs sorgte. Die Kühe waren rechts und links der Wagendeichsel festgemacht. Sie zogen mit einem „Kummet“, das vor die Stirn der Tiere mit Riemen geschnallt wurde und an dem die Zugketten befestigt waren. Die Ketten liefen über eiserne Führungsringe, die an breiten ledernen Leibriemen an den Außenseiten der Tiere befestigt waren. Sie waren an jeweils einer „Runge“ befestigt, die ihrerseits mittels Ring und Öse an der „Waage“ festgemacht war. Sie wurde über einen starken Bolzen geschoben, der in eine Halterung am Ende der Deichsel eingelassen war. Er stellte die feste Verbindung zum Wagen dar. An ihm hingen die komplette Zugvorrichtung und damit das ganze Gewicht des Wagens.

Gelenkt wurden die Tiere mittels langer Lederriemen, der „Korschel“, die jeweils an der äußeren Seite des Kummets der Zugtiere befestigt waren. In den Händen des „Kutschers“ liefen die Riemen zusammen. Ein kurzer Ruck am rechten Riemen und die Tiere fuhren rechts heran oder bogen rechts ab. Ein Zug nach links und das Gleiche geschah in der umgekehrten Richtung. Wurden beide Riemen gezogen, fast immer verbunden mit einem lauten „brrrrrh“, blieben die Tiere stehen. War die Straße abfallend, mussten sie die Beine spreizen und sich gegen das Gewicht des nachschiebenden Wagens stemmen, um anzuhalten. Ging‘s zu steil abwärts, zog Otto die Bremsen des Wagens an und entlastete damit die Tiere. Die Bremse war ein mit Gummi beschlagener Holzkeil, der mittels einer Gewindestange auf die Lauffläche der Räder gepresst wurde. Dann entstand ein kratzendes, zuweilen quietschendes Schleifgeräusch. Je schwerer der Wagen beladen war, desto lauter und störender wurde es. Drehte er die Bremse wieder auf, rollte der Wagen leiser weiter.

Angespannt wurden in der Regel nur ältere, bewährte Kühe, die keine Kälber mehr bekamen. Sie zogen die Wagenfracht. Solange eine Kuh noch säugte, wurde sie im allgemeinen als Zugtier nicht benutzt. Nur in Ausnahmefällen, für leichtere Ladungen und wenn die Stammtiere einen schwereren zweiten Wagen zu ziehen hatten, wurde auch eine säugende Kuh mit angeschirrt. War das Kälbchen noch so jung, das es nicht allein im Stall zurückbleiben sollte, lief es während der Fahrt neben seiner Mutter her, munter und ausgelassen, ohne sein späteres Schicksal schon auch nur ahnen. Als die ersten Autos nach dem Krieg wieder auf den Landstraßen fuhren, wurde das Kälbchen hinten am Wagen mit einem Strick angebunden.

Auf der Asphaltstraße war das Fahrgeräusch kaum wahrnehmbar, ein leises Rollen nur, das vom regelmäßigen, leisen Aufklatschen der Hufe begleitet wurde. Diese Ruhe wurde von Ottos immer wiederkehrenden Befehlen an die Tiere unterbrochen: „Schnäller!“, „Schloof nit eeh!“, „Werds baole!“ („Schneller!“, „Schlaf nicht ein!“, „Wird’s bald!“). Auf den Feldwegen war es anders. Da rüttelten die Schlaglöcher den Wagen durcheinander, er rumpelte, rappelte und knarrte, dumpf und hell. Waren die Wege aufgeweicht, schmatzten die eisenbeschlagenen Reifen in dem weichen Lehm, schlürften und saugten sich durch den Matsch. Bei der Getreideernte im Juli waren die Feldwege trocken, dann lief der Wagen leichter.

Getreideernte

Das Getreide wurde geerntet, zunächst Hafer und Gerste und danach der Roggen. Weizen wurde in Berghofen kaum angebaut. Das Klima und der Boden waren nicht entsprechend. Während der langen Schulferien im Sommer halfen wir Kinder auch bei der Getreideernte mit. Das war eine unangenehme Tätigkeit. Otto schnitt mit seinem Mähbalken das Getreide ab, und die übrigen Helfer, Frauen und Kinder, mussten es aufnehmen und zu Garben zusammenbinden. Das geschah mittels gedrehten Strohs, das als Band diente. War eine Garbe fertig, wurde sie beiseitegelegt und die nächste kam dran. Ganz zum Schluss wurden die Garben zu „Hicheln“, in unserem Dialekt hießen sie „Manderl“, zusammengestellt. Eine Garbe wurde wie ein Dach auf jeden Hichel gesteckt. Es sollte das Wasser abhalten, falls unerwünschter Regen kam. Die Hichel blieben zum Nachtrocknen auf dem Feld und die Garben wurden später aufgeladen und in die Scheune gebracht, wo sie bis zum Dreschen lagerten. Dabei mussten die Bauern darauf achten, dass die Ähren nicht zu trocken waren, damit die Körner nicht vor dem Dreschen herausfielen.

Die Kartoffeln müssen raus

Ende Oktober begannen die Kartoffel- und Rübenernten, die sich bis weit in den November hineinzogen. Die Kartoffeln wurden mit dem „Roder“ aus dem Boden geackert und mittels eines sich drehenden Gabelrades mit langen gebogenen Zinken auf dem Acker verteilt. So lagen sie gut sichtbar auf einem Streifen von etwa einem Meter ausgebreitet. Frauen und Kinder lasen die Kartoffeln auf und legten sie in Körbe. Uns schmerzte dabei sehr schnell der Rücken. Waren die Körbe voll, wurden sie in bereitgelegte Säcke geschüttet. Die vollen Säcke standen in langen Reihen auf dem Acker, wurden mit Seilen zugebunden und mit dem Wagen abtransportiert.

Wenn der Wagen mit Kartoffeln oder Rüben voll beladen war, kamen die Zugtiere nur mühsam voran. Dann mussten die Mitfahrer abspringen und schieben helfen, auch wir Kinder. Gelegentlich blieb der Wagen auch ganz stecken. Dann wurden Männer und Frauen von den benachbarten Feldern zum Schieben dazu gerufen. Wenn auch das nicht half, spannten die Bauern weitere Zugtiere vor den Wagen. Waren keine in der Nähe, wurde ein Teil der Ladung unter Fluchen und Verwünschungen abgeladen. Dabei war es zumeist nasskalt, es nieselte oder regnete, die Klamotten waren verdreckt und durchweicht, die Schuhe hielten längst schon keine Wasser mehr ab. Die Füße „matschten“ in den Schuhen, und wenn wir sie am Abend endlich ausziehen konnten, waren unsere Füße eiskalt, weiß, runzelig und steif.

Der Rücken schmerzte, ächzend nur konnten wir uns aufrichten. Den ganzen Tag über, beim Kartoffellesen oder Rübenladen hatten wir Kinder schon über Kreuzschmerzen geklagt, nur um jedes Mal den Spruch der Erwachsenen zu hören: „Ehr hött doch noch goar käh Kräehz!“ oder wenn es unsere Leute waren: „Eeis hodds jo nauh goar ka Grääz!“ („Ihr habt ja noch gar kein Kreuz!“) „Unsere Leute“ waren unsere Familien und die Verwandtschaft – bei uns hieß es „di Freindschoft“ – oder generell die Vertriebenen aus Perbál und den benachbarten deutschen Dörfern in Ungarn.

Bei all dieser Plackerei hatte die Kartoffelernte auch ihre schönen Seiten. Da waren zum einen die Mahlzeiten, die wir auf dem Feld einnahmen. Dazu wurde Kartoffelkraut ausgebreitet und Säcke draufgelegt. Auf ihnen lagerten wir uns. Als die „Giwwelstante“ uns dann ein Stück Brot und Wurst zuteilte, das wir mit Genuss verzehrten, war das wie eine Erlösung. Manchmal gab es auch eine Suppe, die sie auf geheimnisvolle Weise warmgehalten hatte. Zum Trinken bekamen wir heißen Kräutertee aus der Thermosflasche, der mitunter mit Honig gesüßt war.

Sehr schön war es auch, wenn nach der Ernte das Kartoffelkraut zu Haufen zusammengerecht und angezündet wurde. Noch heute sehe ich die brennenden Kartoffelfeuer vor mir und rieche diesen einmaligen, herben Duft. Waren die Feuer herabgebrannt, rösteten wir in der Glut unter der Asche Kartoffeln, die wir noch auf dem Feld gefunden hatten. Sie schmeckten wunderbar, auch wenn Asche und verbrannte Erde daran hafteten. Nicht selten haben wir uns die Lippen und den Gaumen verbrannt, weil wir es gar nicht abwarten konnten, die heißen, duftenden Leckerbissen zu verschlingen.

Dämpfkolonne

Eine große Kartoffelaktion fand im Dezember statt, wenn die Knollen unter heißem Dampf gegart und für die Silage vorbereitet wurden. Dazu kam die „Dämpfkolonne“. Zu ihr gehörten ein großer beheizbarer Dampfkessel mit einem Schornstein und bis zu sechs verschließbare große Kessel, die mit Kartoffeln gefüllt wurden. Waren alle Kessel vollgefüllt, wurde ein verschließbarer Deckel daraufgeschraubt. Ein dicker Schlauch verband die einzelnen Kessel mit dem Dampfkessel. Sie wurden dann unter heißen Dampf gesetzt, um die Kartoffeln zu garen. Um einen Überdruck zu vermeiden, waren Ventile an den Kesseln, aus denen gelegentlich zischend heißer Dampf entwich.

Nach etwa einer halben Stunde waren die Kartoffeln gar, und der Dampf wurde unter lautem Zischen vorsichtig aus den Kesseln abgelassen. Danach wurden die Deckel abgenommen und die Kessel wurden ins Silo gebracht. Der Transport dieser etwa zehn Zentner schweren Kessel erfolgte auf einem speziell dafür konstruierten Gefährt, das nur aus großen Eisenrädern und stabilen eisernen Halterungen bestand, die unter dicke Bolzen an der Seite der Kessel angesetzt wurden. Eine lange Führungsdeichsel, die von zwei Männern bedient wurde, hatte eine so große Hebelwirkung, dass die Kessel angehoben, ins Silo gefahren und dort ausgekippt werden konnten. Manches Mal funktionierte das aber nicht so reibungslos und der Kessel knallte auf den Boden, wobei die obere Kartoffelschicht herausgeworfen wurde. Manchmal kippte aber auch der gesamte Kessel beim Anheben um, und ein Berg heißer Kartoffeln lag auf der Straße. Sie wurden mit Schaufeln auf Schubkarren geladen und ins Silo gekippt.

Das war der Augenblick für uns Kinder. Wir fischten uns eine Kartoffel, schälten sie und aßen sie auf, leider – wieder – oft zu gierig, sodass wir uns Mund, Schlund und Magen verbrannten. Bald hatten wir aber begriffen, dass wir erst heftig blasen mussten, um eine erträgliche Temperatur zu erreichen. Aus Schaden wird man eben klug. Die Kolonne stand häufig zwischen zwei Bauernhöfen auf der Straße und beide Bauern dämpften an einem Tag. Das bedeutete für uns eine lange Zeit mit heißen Kartoffeln, die uns bei Frost auch zum Wärmen der Hände dienten. Die Kartoffeln im Silo wurden mit einer Plane abgedeckt, darauf folgte bald eine dicke Schicht Erde. Unter dieser Abdeckung fingen die Kartoffeln an zu gären und wurden dadurch haltbar. Im Winter stachen die Bauern mit einem Spaten diese Silokartoffeln ab und verwendeten sie als Schweinefutter.

Im Dorf gab’s nur eine Dreschmaschine

Im Dorf gab es eine Dreschmaschine, die vermutlich der Raiffeisen-Genossenschaft gehörte. Die Bauern mieteten diese Maschine. Sie wurde nach einem vorher festgelegten Plan auf die Bauernhöfe gebracht und dort aufgestellt. Die Dreschmaschine wurde mit Starkstrom betrieben. Die Kraftübertragung erfolgte mittels Transmissionsriemen. Sie wurde von oben mit den Getreidegarben beschickt und warf auf der Vorderseite schwere Strohbündel aus, während hinten in angeklemmten Jutesäcken die Getreidekörner aufgefangen wurden. War ein Sack voll, wurde der Auslauf mit einem Schieber geschlossen und ein neuer Sack angeklemmt. Es hingen immer drei oder vier Säcke gleichzeitig an der Maschine.

Ein voller Sack wurde auf einen Aufzug gestellt und damit so hochgezogen, dass die Träger ihn leichter schultern konnten. Für die Sackträger war das eine schwere Arbeit. Sie nahmen den offenen Sack auf den Rücken, trugen ihn drei Treppen hoch bis zum Getreideboden unter dem Dach des Wohnhauses, kippten ihn dort aus und gingen wieder zur Maschine, um den nächsten zu holen. Diese Arbeit leisteten sie stundenlang. Als ich erstmals Säcke auf den Speicher trug, war ich fünfzehn Jahre alt. Wir wohnten zu dieser Zeit nicht mehr bei Giebels, halfen aber dennoch bei der Ernte mit. Dafür erhielten wir einen halben oder ganzen Sack Getreide,

Das Dreschen war für die Familien im Dorf eine freudige Angelegenheit, wurde dabei doch ein Teil des Ertrages ihrer Jahresarbeit offenbar. Damit man die Maschine nicht zu lange mieten musste, halfen auch Verwandte und Nachbarn beim Dreschen mit. Die Frauen kochten zu Mittag einen kräftigen Eintopf und die Männer bekamen einen Schnaps – manchmal auch zwei. Wenn abends die Maschine weggebracht und Hof und Scheune aufgeräumt waren, gab es noch ein gutes Abendessen, ein Bier und einen Schnaps. Man blieb noch eine Weile beisammen und erzählte sich vom Verlauf des Tages. Dabei wurde auch gelacht.

Gab es neben dem Getreide noch andere Körnerfrüchte zu dreschen, wie Hirse und Linsen, so wurden getrockneten Pflanzen mit ihren Früchten auf dem Boden der Scheune ausgelegt und mit Dreschflegeln gedroschen. Die Flegel bestanden aus einem Stiel, an dessen oberen Ende mit einem Lederband ein flaches Holz von etwa 60 cm Länge angebracht war, dem Schlegel. Mit ihm schlugen drei Männer auf die trockenen Pflanzen auf dem Boden ein uns lösten so die Körner aus ihrer Umhüllung. Für mich war es faszinierend anzusehen, wie die Männer diese Arbeit in stets gleichbleibendem Takt erledigten.

Otto, der Imker

Noch interessanter aber war die Imkerei, die Otto betrieb. Er hatte ca. zwölf Bienenstöcke, die in einem Schuppen im Garten aufgestellt waren. Otto erklärte uns, dass die verschiedenen Farben den Bienen die Orientierung gaben, immer zu ihrem Volk zurückzufinden. Er zeigte uns auch, wie sich die Bienen mit Tänzen gegenseitig informierten, wenn sie mit kleinen Klümpchen Pollen an den Hinterbeinen von der Nahrungssuche zurückkehrten. Wir konnten zusehen, wie der Imker im Frühjahr vorgefertigte Rähmchen mit Waben in die Kästen hängte, die er im Herbst voll mit Honig wieder herausnahm. Otto entfernte zunächst die kleinen Wachsdeckel von den Waben. Danach spannte er die Rahmen in eine Zentrifuge. Zunächst vorsichtig und dann immer schneller schleudert er die Rahmen, sodass der Honig aus den Waben herauslief und sich in einem Gefäß sammelte. Danach wurde dieses flüssige Gold in Gläser mit Deckeln umgefüllt und verschlossen. Die Rahmen mit den Waben wurden danach wieder in die Bienenkästen eingehängt. Im Winter erhielten die Bienen Zuckerwasser als Nahrung.

Wir staunten sehr, dass Otto diese Arbeiten ganz ohne Schutz durchführte, wussten wir doch, wie weh Bienenstiche taten. Er erklärte uns aber, dass die Bienen nicht stechen, solange man sie nicht reizt. Bei manchen Gelegenheiten zog er sich doch einen großen Hut mit Netz über und rauchte eine große qualmende Pfeife aus Blech. Das geschah meistens, wenn eine neue Königin herangewachsen war und ein Volk sich teilte. Die kleinere Hälfte der Bienen eines Stockes folgte der ausfliegenden jungen Königin, die sich auf einem Ast niederließ, wo sie von den sie umschwärmenden Drohnen befruchtet wurde. Um diese neue Königin sammelten sich die mit ihr ausgeschwärmten Arbeitsbienen.

So entstand ein neues Bienenvolk. Der Imker wusste schon bald, wann ein Volk geschwärmt war. Er zog sich dann die erwähnte Schutzkleidung an, hielt einen Behälter unter das neue Volk, das wie ein großer summender Klumpen von dem Ast herunterhing, und schüttelte es dort hinein. Danach wurde es in einen vorbereiteten neuen Bienenkasten getan, der seinen Platz neben oder auf dem schon vorhandenen fand.

Wie die Arnolds lebten

Die Familie Arnolds hatte es mit ihrer kleinbäuerlichen Existenz nicht leicht. Sparsamkeit gehörte zu ihren obersten Grundsätzen und auch die Einstellung, dass jedes Familienmitglied etwas zum Unterhalt beitragen musste. Dies war umso wichtiger, als Herr Arnold, „Giwwels Unkel“, im Krieg einen Kehlkopfdurchschuss erhalten hatte und nicht mehr voll arbeitsfähig war. Man hatte ihm zwar eine neue Speiseröhre eingesetzt, aber er hatte große Schwierigkeiten beim Schlucken. Die Geräusche, die er dabei machte, waren für uns anfangs sehr befremdlich. Später gewöhnten wir uns daran. Weil er ein gutmeinender Mensch war und uns Kinder gern hatte, fühlten wir uns auch zu ihm hingezogen.

Die Lebensweise der Familie war sehr nüchtern und karg. Ihr protestantischer Glaube trug, wie ich vermute, zusätzlich dazu bei, dass größere Lebensfreude nicht aufkam. Frau Arnold führte ihren Haushalt mit größter Sparsamkeit. Jede Verschwendung war ihr ein Graus. Das Essen war einfach. Fleisch gab es meistens nur am Sonntag. Im Frühjahr und im Herbst schlachteten sie ein Schwein. Das Fleisch wurde zum großen Teil zu Dauerwurst verarbeitet, eingemacht oder geräuchert. Mit diesen Vorräten wurde ihr Fleischbedarf im Wesentlichen gedeckt. Daneben schlachteten sie auch einige ältere Hühner und junge Hähne. Die Legehennen sorgten für Eier.

Ich erinnere mich gut, dass die Hausfrau zu ihren Gemüse- und Kartoffelsuppen manches Mal ein Stückchen Dauerwurst „röre Worscht“ (rote Wurst) als Fleischbeilage gab. Die Hausherrin backte alle 14 Tage bis drei Wochen zehn bis fünfzehn Laibe Roggenbrot. Sie wurden im gemeindeeigenen Backhaus gebacken und auf Brettern in der Speisekammer gelagert. Auf einem flachen Raum über dem Backofen trockneten die Bauern im Herbst auf Blechen Apfel- und Birnenschnitzel und Zwetschen. Sie waren für uns Kinder, die leicht in diesen flachen Raum gelangen konnten, eine ständige Versuchung. Frau Arnold machte auch eigenen Handkäse aus Quark, den sie aus der Milch ihrer Kühe gewann. Er wurde in der Speisekammer ebenfalls auf Brettern gelagert, bis er „durch“ war. Das dauerte etwa drei Wochen. Oft kam dieser Käse aber schon früher auf den Tisch. Er war dann in der Mitte noch weiß und krümelig. So mochte ich ihn nicht, wenn er aber „reif“ war, aß ich ihn gern.

Alles Gemüse, das Obst und die Kartoffeln stammten aus eigener Produktion, auch die Eier. Das Mehl bekam man aus dem Roggen, der in der Mühle in Rennertehausen gemahlen wurde. Die groben Teile, den Schrot, benutzte man als Schweinefutter. Für den Kuchen erhielten sie vom Müller im Tausch Weizenmehl. Aus dem Laden holte sich die Bauern damals nur die Sachen, die sie nicht selbst erzeugen konnten, wie Salz, Zucker, Zimt, Rosinen, Pfeffer, Öl, Schnittkäse etc. Auf dieser Weise lebten die meisten Kleinbauern in dem Ort. Frische Wurst oder Käse wurden nicht gekauft Auch in unserer Familie war das zum großen Teil so. Geld war bei ihnen wie bei uns immer knapp.

Frau Arnold hatte ein Spinnrad und spann damit Schafwolle zu Garn. Sie strickte daraus selbst wollene Leibchen, Strümpfe und Handschuhe. Die Tochter Frieda beteiligte sich daran. Im Winter trafen sich die heiratsfähigen Mädchen und junge Frauen zur „Spinnstube“. Ich berichte davon in anderen Zusammenhang. Otto betrieb neben seiner Imkerei auch noch einen Fahrradhandel. Er verkaufte Räder der Marke „Panther“ und brachte auf diese Weise ein wenig Geld ins Haus. Bei der üblichen Produktionsweise der Kleinbauern, überwiegend Selbstversorgungswirtschaft, war der Geldmangel ein ständiger Begleiter des Lebens.

Die „Giwwelstante“ erzählte uns Kindern Geschichten, die mit Magie, „bösem Blick“ und Gespenstern zu tun hatten. Sie versetzte uns Kinder in Unruhe. An die Möglichkeit, dass bestimmte Menschen die Fähigkeit hatten, anderen aus der Entfernung Schaden zuzufügen, glaubte sie fest. So habe ein böser Bauer (Hexer) eine Speiche eines seiner Wagenräder mit einer Axt durchgehauen, und im selben Moment habe sich ein Mann, dem er schaden wollte, das Bein gebrochen. Eine böse Frau habe durch einen Zauberspruch eine ihrer Kühe verhext, die danach keine Milch mehr gab – oder nur noch verdorbene Milch. Da sie gerade ein Kälbchen hatte, musste dieses mit der Flasche aufgezogen werden. Eine schwangere Frau habe eine Nachbarin durch den „bösen Blick“ so erschreckt, dass diese ihr Kind verloren habe. Eine andere, die gern ein Kind wollte, sei durch einen bösen Blick unfruchtbar geworden. Durch den Blick einer bösen Frau können Krankheiten ausgelöst werden etc … Diese Geschichten erschreckten uns Kinder zwar, aber nicht allzu sehr, da sie sich nicht auf uns bezogen.

Die weiße Frau und der Wirrwahn

Anders war das aber mit der „Weißen Frau“, die sich beim Mondschein um Mitternacht im Hohlweg nicht weit von Giebels Haus herumtreibe und alle, die vorbeikamen, in Angst und Schrecken versetze. Wir empfanden ein heftiges Gruseln, als wir uns in der nächsten Vollmondnacht dem Hohlweg näherten, der tagsüber unser beliebter Spielplatz war. Angestrengt spähten wir den Weg hinauf. Je länger wir das taten, desto deutlicher sahen wir die Weiße Frau, die wie ein Schemen durch die Luft schwebte, verschwand und wieder auftauchte, solange, wie wir nicht aufhörten, dorthin zu starren. Schließlich drehten wir uns um und sahen in die andere Richtung. Der Spuk war vorbei. Er tauchte auch nicht wieder auf, als wir noch einmal in den Hohlweg zurückblickten. Also gingen wir nach Hause. Eine gewisse Angst vor diesem Gespenst verfolgte uns aber in den hellen Nächten noch lange.

Die Roggenmuhme, die faule und liederliche junge Leute, die sich in den Kornfeldern liebten, tötet, gehörte ebenfalls zum Instrumentarium des Schreckens der guten „Tante“. Am größten war die Angst, die uns die Geschichtenerzählerin mit ihrem Bericht vom „Mann unter der Kellertreppe“ einflößte. In einem Haus im Nachbardorf habe sich ein Mann unter einer Kellertreppe versteckt, eine junge Frau, die in dem Keller ging, überfallen und ihr „Schaden angetan“. Danach habe er ihr die Kehle durchgeschnitten und sei verschwunden. Man müsse davon ausgehen, dass sich der Mörder immer noch in der Gegend herumtreibe und sich andere Opfer suche. Damit hatte mir die gute Frau eine große Angst vor dunklen Kellertreppen eingejagt. Vermutlich hat sie uns das erzählt, damit wir nicht ohne Erlaubnis in ihrem Keller herumtrieben, wo ein Teil ihrer Vorräte lagerte. Noch Jahre danach hatte ich ein klammes Gefühl, wenn ich in unseren Keller gehen musste, um etwas zu holen. Mein lieber Bruder wusste um diese Angst und hat mich später fast zu Tode erschreckt. Heute kann ich mir gut vorstellen, dass die „Giwwelstante“ mit dem Mann unter der Kellertreppe verhindern wollte, dass wir uns unbefugt in ihrem Keller herumtrieben und dort eventuell etwas klauten.

Eine weitere Schreckensgestalt unserer Kinderjahre war der „Wirrwahn“. Er habe in unserer Gegend schon einige Morde begangen und halte sich immer noch dort versteckt. Er verberge sich in Höhlen, Feldscheunen aber auch in Schäferkarren. Ein solcher stand immer in der Nähe unseres Dorfes und diente dem Schäfer als Unterkunft. Wir Kinder trieben uns häufig am Waldrand herum und beobachteten misstrauisch den Schäferkarren. Der „Wirrwahn“ ließ sich nicht blicken. Wenn aber am Horizont, nur undeutlich sichtbar, ein Mann vorbeiging, dann war uns klar, das musste der Mörder sein. Wir rannten nach Hause und erzählten, was wir gesehen hatten. Aber die Erwachsenen schienen sich für unsere Kriminalgeschichten nicht zu interessieren. Nur einer machte eine Ausnahme, Otto. Er hatte für Kriminalgeschichten sehr viel übrig. Regelmäßig las er „Tom Brox“- und „Jerry Cotton“-Hefte. In langen Reihen lagerten sie in seinem Zimmer. Vielleicht ist er wegen dieser Leidenschaft Junggeselle geblieben, wer weiß? Wenn wir bei ihm waren, erzählte er uns von den Abenteuern seiner Helden und freute sich, wenn sie wieder einen Bösewicht erledigt hatten. Es war ihm, als hätte er selbst deren Taten vollbracht und ihre Abenteuer erlebt.

29 Alle erwachsenen Frauen wurden von Kindern als Tante angesprochen, die Männer als Onkel (Unkel).

Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen

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