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Die Vertreibung der Ungarndeutschen

Die Volkszählung von 1941

1941 hatten in einer Volkszählung in Ungarn 477.000 Personen Deutsch als Muttersprache angegeben. Von diesen hatten sich rund 300.000 auch zur deutschen Nationalität bekannt und damit zu ihrem Selbstverständnis, zur deutschen nationalen Minderheit zu gehören.

„In mehreren Verordnungen der provisorischen Nationalregierung wurde ab März 1945 mehrfach festgelegt, dass

1 ‚Der Besitz der Landesverräter, der führenden Pfeilkreuzler, der Nationalsozialisten und anderen Faschisten, der Mitglieder des Volksbundes, ferner der Kriegsverbrecher und Volksfeinde, konfisziert wird‘

2 zur Umsiedlung nach Deutschland derjenige ungarische Staatsbürger verpflichtet ist, der bei der letzten Volkszählung 1941 deutsche Volkszugehörigkeit oder Muttersprache angegeben hat, oder seinen magyarisierten Namen wieder in einem deutsch klingenden ändern ließ19, oder Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation (SS) war.

Artikel VIII des Potsdamer Abkommens20 gab den Ländern Ungarn, Tschechoslowakei und Polen die Möglichkeit, ihre dort vorhandenen deutschsprachigen Minderheiten nach Deutschland zu überführen. Die ungarische Nationalversammlung berief sich offiziell drauf und verabschiedete am 22. Dezember 1945 die entsprechende Verordnung, wonach im Januar 1946 die Um/Aussiedlung der Ungarndeutschen (per Zug in Viehwaggons) in die Amerikanische Besatzungszone (ABZ) Deutschlands begann. Ende 1946 betrug ihre Zahl etwa 190.000 Personen.“ 1947/48 wurden etwa 49.000 in die SBZ vertrieben. Zudem verlor die ungarndeutsche Bevölkerung etwa 33.000 Kriegstote swie Verschleppte in sowjetische Arbeitslager. Insgesamt betrugen die Verluste etwa 272.000 Menschen.

„In Ungarn lebt immer noch die Potsdam-Legende, dass die Um/Aussiedlung der Deutschen eine Verordnung der Siegermächte im Potsdamer Abkommen war. In Wirklichkeit war es die ungarische Regierung – und darin waren praktisch mit der Ausnahme der Sozialdemokraten und zum Teil der Kleinlandwirte-Partei – alle ungarische Parteien –, die die Besatzungsmacht der Russen um Genehmigung bat, die Vertreibung „der heimatverräterischen deutschen Faschisten“ zu ermöglichen.“21

Die Vertreibung der Ungarndeutschen fiel der Regierung argumentativ umso leichter, als der Volksbund von seiner Gründung bzw. Legalisierung durch die ungarische Regierung 1938 einen aktiven Naziflügel hatte, und die sogenannten „Volksdeutschen“ 1940 pauschal dem Kommando Himmlers unterstellt worden waren. Aufgrund der Unterlagen der Volkszählung wurden auch in den deutschen Dörfern um Budapest Listen derjenigen aufgestellt, die zur Vertreibung und Enteignung vorgesehen waren. Die Zugehörigkeit zum Volksbund wurde als ein zusätzliches Merkmal herangezogen. Das Kriterium „Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation“ betraf mehrere Tausend Familien, deren junge, männliche Angehörige überwiegend unter Druck zur Wehrmacht oder Waffen-SS eingezogen worden waren. Wer in ihre Formationen eintrat, verlor automatisch seine ungarische Staatsbürgerschaft.

Welche Gewissenskonflikte jungen Wehrpflichtigen entstanden, die zunächst zur Ungarischen Armee und dann zur Waffen-SS einberufen wurden, schildert anschaulich der Bericht eines Betroffenen.22 Die Tendenz der Vertreibung schien sich dahin zu entwickeln, die Einzelfallprüfung aufzugeben, von der Kollektivschuld der Volksbundmitglieder auszugehen und sie als „fünfte Kolonne des Hitlerfaschismus“ anzusehen.23 Josef Stalin hatte nach diesem Muster die Wolgadeutschen kollektiv der Spionage bezichtigt und sie hinter den Ural in asiatische Sowjetrepubliken vertrieben. Warum sollte, was Stalin Recht war, den in Ungarn Regierenden nicht billig sein?

Kollektive Bestrafung

Mit einer Verordnung der ungarischen Nationalversammlung vom 22.12.1945 haben die bereits im Mai/Juni 1945 begonnenen wilden Vertreibungen, Enteignungen und Einweisung von Neusiedlern (Telepesek) in ungardeutsche Dörfer eine „gesetzliche Grundlage“ erhalten. D. h., die chaotischen Zustände auf lokaler und Kreisebene, die Willkür, Korruption und Gewaltanwendung örtlicher Funktionäre konnten mit dieser Verordnung gerechtfertigt werden. In einem Beitrag zum „Deutschen Kalender 1991“ veröffentlichte Dr. Georg Utto, ein Richter mit deutschen Wurzeln, der höchste Positionen in der ungarischen Justiz innehatte, das Ergebnis seiner Untersuchung von 50 rechtlichen Verordnungen der „ungarischen Demokratischen Macht“ in den Jahren 1945–1950, die sich auf die ungarndeutsche Minderheit bezogen. Seine Analyse hat die Überschrift: Grausame Rechtsbestimmungen der kollektiven Bestrafung. „Hierzu gehören die Deportierung zur Zwangsarbeit nach Russland, die Internierung, die gerichtliche Verurteilung, die Entziehung grundsätzlicher Menschen- und Staatsbürgerrechte sowie die Vermögenskonfiszierung.“ Dass die Potsdamer Beschlüsse solche Bestimmungen vorschrieben und die ungarische Politik „lediglich zwangsweise eine Entscheidung der Großmächte vollstreckt“ hat, nennt er eine bewusste Täuschung. „Dies diente der Falschinformation des ungarischen Volkes und der Weltöffentlichkeit, da die ungarischen Machthaber schon geraume Zeit vor der Potsdamer Konferenz den Alliierten Kontrollrat um Zustimmung zur Aussiedlung der Deutschen gebeten hatten Zur Willkür der örtlichen Funktionäre merkt er an: „Diese Leute waren sich darüber im Klaren, dass man den Deutschen alles wegnehmen, mit ihnen alles machen konnte, denn deren einziges und ausschließliches Recht bestand im Dulden, im Schweigen, im stillen – aber nicht deutschen – Gebet. Die geringste Äußerung einer gegensätzlichen Meinung, der geringste Widerstand von deutscher Seite löste sehr häufig blutige Vergeltung aus.“ Alles in allem „… atmeten die Gesetze und Verordnungen, welche die Ungarndeutschen betrafen, leider den Geist Hitlers und Stalins.“24

Die Nazis haben den Weg der Vertreibung der Ungarndeutschen durch ihr Programm „Heim ins Reich“ vorgezeichnet und vorbereitet.

Wenn man die Vertreibung der Ungarndeutschen nüchtern betrachtet, setzten die ungarischen Nachkriegsregierungen die Politik des Reichsverwesers Miklos Horthy fort, der die deutsche Minderheit „Heim ins Reich“ transportieren wollte. Hitlers Paladin Himmler formulierte die Ziele dieser Politik einmal wie folgt:

„Was an gutem Blut überhaupt in der Welt vorhanden ist, an germanischem Blut, das haben wir zusammen zu holen. Wir werden die Volksdeutschen heimführen: Die Germanen werden sich, ob sie wollen oder nicht, ob sie es einsehen oder nicht, zu diesem Reich bekennen müssen, aus dem Zwang des geschichtlichen Gesetzes heraus, aus dem Zwang des Blutes heraus. Jedes gute Blut … das Sie irgendwo im Osten treffen, können Sie entweder gewinnen oder totschlagen …“25

Einer der Siedlungsschwerpunkte der Ungarndeutschen war seit Ende des 17. Jahrhunderts das Ofener Bergland westlich von Budapest. Am Rande dieses Gebirges liegt die Ortschaft Perbál (dt. Perwall), unser Heimatort. Ein Auszug aus dem Internet von 2006 erzählt etwas zur Geschichte des Dorfes. Danach sind die ältesten Zeugnisse einer Besiedlung beinahe 4000 Jahre alt.

„Das Dorf war nicht immer bewohnt. Bei jedem Wechsel der Besatzer (Römer, Hunnen, Franken, Türken usw.) wurde die Siedlung entvölkert. Oft gab es gar keine Einwohner mehr, sie wurde aber immer neu besiedelt. … Nach 1467 (gehörte sie dem) Sohn von König Mathias, János Corvin, und seit 1504 dem Paulanerorden. In der Zeit der Türkenherrschaft 1549 bis 1686 war das Dorf gänzlich ausgestorben. Nach der Vertreibung der Türken gehörte Perbál der Familie Zichy. Sie holten schwäbische Siedler ins Dorf, die die eingefallenen Häuser wieder aufbauten … Auch heute besteht die Mehrheit der Einwohner aus den Nachkommen der schwäbischen Siedler, aber auch eine beträchtliche Anzahl von slowakischen Einwohnern lebt im Dorf. … Seit 1744 gibt es eine Schule, seit 1882 ein Postamt und seit 1899 einen Kindergarten. 1927 wurde das Dorf an das Stromnetz angeschlossen. Eine größere Veränderung brachte das Jahr 1946, in dem etwa die Hälfte der Bevölkerung, die sich zur deutschen Nationalität bekannt hatte, ausgesiedelt wurde. In ihre Häuser zogen 271 Familien aus 68 verschiedenen Ortschaften, insgesamt 1073 Personen.“26

Am 14. März 1946 begann auch in Perbál die aufgrund der o.g. Verordnungen eingesetzte Aussiedlerkommission ihre Arbeit und stellte die erste Aussiedlerliste auf. Sie wurde im Perbáler Rathaus durch Aushang öffentlich bekannt gegeben. Die Transporte begannen bald nach dem Aushang der Liste. Die Familien Wiest und Kopp gehörten zum zweiten Transport. Mit ihm fuhr auch die Perbálerin Theresa Beer.

Theresa Beer berichtet

„Not und Elend waren im letzten Kriegswinter 1944/45 bei uns in Ungarn schon recht groß. Die Russen besetzten unseren Ort Perbál am Heiligen Abend 1944. Schon Tage vorher hörten wir das Dröhnen der Kanonen, und verzweifelt fragten wir nach dem Stand der Front. Dann kamen die Panzer massenweise, und überall war Militär. Alles fuhr Richtung Wiener Straße. Verzweifelt hatten zuvor viele Menschen ein Versteck für ihre Wertsachen, Nahrungsmittel und Kleidung gesucht. Aber niemand dachte an Flucht. Gerüchte von Überfällen und Verschleppungen hatten sich verbreitet. Um die Hauptstadt Budapest wurde erbittert gekämpft. Leute aus unserem Dorf wurden von den Russen gezwungen, eine Verteidigungslinie zu graben. Viele Soldaten starben in den Wäldern um Perbál. Man begrub sie in Massengräbern am Dorfrand. Über drei Monate verlief die Front in der Nähe unseres Dorfes. Viele unschuldige Menschen mußten in diesen Kämpfen ihr Leben lassen. Ende März 1945 glaubten wir dann, daß alles einigermaßen gut vorübergegangen sei. Doch dann, fast ein Jahr später, begann das dunkelste Kapitel der Gemeinde Perbál, die Ausrottung unseres deutschstämmigen Bauernvolkes wurde eingeleitet. Die Parole hieß plötzlich: ‚Raus mit den Schwaben!‘ Was sollte das denn heißen? Vor 300 Jahren waren unsere Vorfahren – Deutsche – und einige Slowaken nach Perbál gekommen. Sie hatten die verwüstete Gegend neu besiedelt. Seit dieser Zeit wurde auch alles in Kirchenbüchern in deutscher Sprache festgehalten. Jetzt sollten wir unsere Heimat aufgeben? – Niemals –! Natürlich hatten wir im Jahr 1941 bei der Volkszählung alle auf unser Deutschtum hingewiesen. So kam es, daß zur Beurteilung der Volkszugehörigkeit diese Angaben herangezogen wurden. Uns wurde Untreue zur ungarischen Nation unterstellt. Von 2400 Perbálern mußten nun 2000 Einwohner mit max. 50 kg Gepäck nach Deutschland umgesiedelt werden. Auf die Vertreibungsabsicht reagierten die Perbáler zunächst völlig ratlos. Aber sie waren der Willkür der Machthaber wehrlos ausgesetzt. Die Stimmung war deutschfeindlich. Für alle Folgen des Krieges wurden wir Schwaben verantwortlich gemacht. Am meisten gefährdet waren diejenigen, die Haus und Hof hatten oder sonstige Vermögenswerte besaßen. Am 20. März 1946 wurde dann am Rathaus die Liste veröffentlicht wer auszusiedeln hatte. Von Vertreibung wurde nicht gesprochen. Man konnte eine Befreiung von der Aussiedlung beantragen. Eine Kommission überprüfte dann die Anträge. Dies war jedoch meist ohne Erfolg.

Auch andere Dörfer mit deutschstämmigen Einwohnern, wie Budajenö, Telki und Piliscsaba wurden Ende März 1946 ausgesiedelt. Viele auswärtige Ungarn zogen damals schon durch die Straßen der deutschen Dörfer, um die freigewordenen Höfe und Häuser billig zu übernehmen. Jeder von ihnen wollte preiswert zu Haus und Hof kommen. Für uns Umsiedler wurde die Dorfausfahrt überwacht und gesperrt. Alles, was Wert hatte, sollte und mußte zurückgelassen werden. Am 5. April kam dann der Tag des Abschieds. In langen Kolonnen bewegten sich die schwer beladenen Pferdewagen über den Mühlweg langsam zur Verladestation Piliscsaba.

Der Abschied von unserer Heimat und den wenigen Menschen, die zurückgeblieben waren, war schwer. In Piliscsaba wurde zuerst unser Gepäck in Viehwaggons verladen. Immer 32 Personen paßten in einen Waggon. Die Pferde und Wagen blieben am Bahnhof zurück. Abends um 10 Uhr fuhr dann der Zug ab. Es war sehr eng in den Viehwaggons, und so wurde es eine beschwerliche Reise. Säuglinge und alte gebrechliche Leute mussten auf engstem Raum zusammenleben. Spannungen waren gar nicht zu vermeiden. Alle waren verzweifelt, und viele weinten. Wir müssen fort und wissen nicht wohin. Wird es besser in der neuen Heimat, oder wird es uns schlechter gehen?

An die Viehwagen hatten einige mit Kreide geschrieben:

‚Leb wohl Du schönes Ungarnland,

Du bist jetzt unser Untergang.

Unsern Ahnen hast Du gegeben

ein verwüstet Land zu pflegen!

Und für die Müh’ und Plag’,

gibst Du uns nun den Bettelstab …‘

So rollten wir viele Tage über Györ zur Grenze Agendorf und dann Richtung Wiener Neustadt.

Niemand wußte, wohin die Reise ging, wo wir einmal landen sollten. In Österreich lagen wir einmal mehrere Tage fest. Eine neue Lokomotive sollte herbei. Mittlerweile war uns vieles gleichgültig. Eine Frau starb im Zug. Wir mußten ihren Sarg auf dem Bahnsteig zurücklassen.

Ihre letzte Ruhestätte kennt niemand.

Unsere intakte Dorfgemeinschaft wurde gewaltsam getrennt. Der l. Transport ging schon am 2. April 1946 von Perbál ab. Er landete im Kreis Bruchsal. Der 2. Transport am 5.4.46 war der unsere. Mit über 1000 Landsleuten kamen wir in den Kreis Frankenberg. Wir wurden auf die Gemeinden Fronhausen, Ernsthausen, Wetter, Simtshausen, Roda, Industriehof, Berghofen, Bromskirchen, Laisa und Eifa verteilt. Der 3. Transport startete am 12. April und kam nach Württemberg. Wir waren sehr verunsichert, als wir dann bei strahlendem Sonnenschein, am 14. April 1946, in der Endstation Allendorf die Waggons verlassen durften.

Dicht und etwas verängstigt standen wir alle zusammen. Man verwies uns an einen deutschen Mann, und wir waren froh, als dieser zu uns sagte: „Ihr kommt alle mit mir nach Eifa.“ Frau Gerli sagte erleichtert zu ihrer Schwester Frau Kopp: „Jesus, kommt‘s schnell, das muß das ein reicher Mann sein!“ Es war der damalige Bürgermeister von Eifa, Herr Stöcker. Als wir dann in Eifa mit 65 Personen ankamen, wurden wir in verschiedene Familien eingewiesen. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wurden wir in die Dorfgemeinschaft aufgenommen, und das Zusammenleben in Eifa normalisierte sich …“27

Auf einen Aspekt der Vertreibung weist ein Gedicht hin, das dem Enkel des aus Perbál stammenden Lorenz Wieszt aus Burgwald/Ernsthausen anlässlich eines Schüleraustauschs beider Partnergemeinden von einer Deutschlehrerin aus Perbál gegeben wurde.

Die Hunde von Perbál

(von Gerd Honsik)

Als wir dereinst dem Dorf den Rücken kehrten,

da winkte keiner einen Abschiedsgruß.

Nur unsre Hunde folgten unsren Fährten,

und Fremde traten schon in unsre Gärten,

und wir mit Sack und Pack dahin, zu Fuß.

Und dann am Bahnhof scheuchte man die Scharen

von Perbáls Hunden rauh von uns hinweg,

die alle, alle mitgekommen waren.

Es zischt und faucht: Schon kam die Lok auf Touren.

Im Riesenchor der Hunde schwoll das Leid.

Es dringt der Schmerz der treuen Kreaturen

in fensterlose Finsternis: Wir fuhren!

Der Kessel pfiff, schon drehten sich die Speichen:

Die Riesenmeute folgt’ dem Elendszug

gerad’ so weit wie Hundepfoten reichen

bis auch der schnellsten Tiere Kräfte weichen,

den letzten Laut der Pusztawind vertrug.

Wir ließen still das Haus, wo wir geboren,

fast ohne Schmerz und fügten uns darein,

doch quält seitdem die Klage unsre

Ohren von Perbáls Hunden, die wir einst

verloren, und herrenlos gelassen und allein.

Von unserer Fahrt mit dem Güterzug „Heim ins Reich“ habe ich zwei deutliche Erinnerungen. Damals war ich vier Jahre und zwei Monate alt.

Als wir an einem herrlichen Sonnentag ein Stück an den Alpen vorbeifuhren, wurde von innen die Wagentür geöffnet und die Leute riefen: „Die Schneebergn!“ Es war überwältigend. Ich werde diesen Anblick nicht vergessen: unten die grüne, blühende Ebene, und oben die verschneiten weißen Gipfel.

Wir hielten auf dem Bahnsteig einer Stadt, vermutlich Wiener Neustadt. Jemand aus unserem Waggon hatte Knochen, mit denen zuvor eine Suppe gekocht worden war, auf den Bahnsteig geworfen. Staunend sah ich, wie umstehende Menschen sich darauf stürzten und sich um die Knochen schlugen. Unsere Leute verstanden das zunächst nicht. Als Bauern hatten sie bisher genug zu essen gehabt. Die auf dem Bahnhof waren aber Städter. Sie hungerten.

Die Närrische von Pressburg

Als ich 2005 mit meiner Frau Perbál besuchte, führte uns mein Cousin Ferenc (Franz) in eine Gasse am Rande des Dorfes. Er wollte uns die dort noch vorhandenen, schon ziemlich verfallenen Weinkeller zeigen. Wir waren kaum aus dem Auto ausgestiegen, da sprach uns ein Mann vor seinem Gartentor gegenüber an. Er forderte uns auf, in den Hof zu kommen und ein Glas Wein mit ihm zu trinken. Wir gingen mit auf seinen Hof und stellten uns vor. Nachdem er erfuhr, dass der Kopp Hans mein Großvater war, sprudelte es plötzlich nur so aus ihm heraus: Er habe das Pferd und den Wagen im April 1946 nicht gestohlen, sondern meinem Großvater abgekauft. Auch das Kalb habe er von ihm gekauft, und er habe unsere Familie auch mit dem (gerade erworbenen) Fuhrwerk nach Piliscsaba zur Bahn gebracht. Ich war einigermaßen überrascht über den Rechtfertigungszwang dieses Mannes, denn von diesen Einzelheiten hatte ich so konkret gar nichts gewusst. Er war ein Slowake, sprach aber unseren Perbáler Dialekt perfekt. Seine Frau hielt sich im Hintergrund des Hauses auf und traute sich erst nach fast einer halben Stunde auf den Hof. Ob sie Angst hatten, dass wir Pferd, Wagen und Kalb wieder von ihnen zurückhaben wollten? Das Geld, das er und vielleicht auch noch andere dem Opa damals bezahlt hatten, besitze ich heute noch: ein Bündel wertloser Pengö-Scheine. Pengö war die damalige ungarische Währung.

Der Zuweg zu seinem Haus war mit Weinreben zu einer Art Pergola überwuchert. Man sah es den Reben geradezu an, dass sie sich wohl fühlten. Weil es Frühsommer war, konnte ich nicht erkennen, ob es rote oder weiße Trauben waren. Was das denn für eine Sorte sei, fragte ich den Mann, die so üppig wuchere. Er wisse es nicht so genau. Er nenne sie aber die „Narischi ve Pressburg“, weil er die Stecklinge aus Pressburg (Bratislawa) bekommen habe. Es seien rote. Ich fragte ihn, ob ich von der „Närrischen aus Pressburg“ ein paar Stecklinge bekommen könne. Selbstverständlich, so viele ich wolle. Wir verabredeten dann, dass er im kommenden Winter die Stecklinge abschneide und durch meinen Cousin nach Deutschland schicken lasse. Ich habe sie nie bekommen. Vermutlich handelte es sich um amerikanische Wildreben, z. B. „Isabella“ oder „Delaware“. Von den Fotos, die ich bei unserem Treffen auf dem Hof gemacht hatte, schickte ich dem Mann einige Abzüge als Beilage zu einem kleinen Dankschreiben. Ich habe keine Antwort erhalten.

19 Dieses Recht wurde ihnen im Wiener Abkommen (Deutsch-ungarisches Protokoll vom 30. August 1940) ausdrücklich zugestanden. S. Wiener Abkommen in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa, Band II, o.o.O (Bonn) 1956, S. 73 E f.

20 Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. Potsdamer Protokoll, Erklärung der drei alliierten Großmächte, 2. August 1945

21 Fehérvári Josef, Geschichte der deutschen Volksgruppen in Südosteuropa, Manuskript, S. 12

22 vgl. z. B.: Erlebnisbericht des Seminaristen Franz Roth vom 22. Mai 1943 in Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Band V, o.o.O. (Bonn) 1961, Nr. 9, S. 78 f., „Einberufung von Volksdeutschen zur Waffen-SS aufgrund der deutsch-ungarischen Vereinbarung vom 22. Mai 1943“

23 vgl. Endre Arató, Der Volksbund der deutschen in Ungarn – eine fünfte Kolonne des Hitlerfaschismus, Rezension Johan Tills zu Norbert Spangenberger, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944 unter Horthy und Hitler, in www. ungarndeutsche.de /rezension_volksbund_till. html

24 Dr. Georg Utto, Deutscher Kalender1991, Jahrbuch für die Ungarndeutschen, „Grausame Rechtsbestimmungen der Kollektiven Bestrafung“, Sonderdruck

25 Rede Himmlers in seiner Feldkommandantur beim ukrainischen Shitomir (16. September 1942) in Die Waffen-SS, Text und Dokumentation: Wolfgang Schneider, Berlin 1998, S. 128 f.

26 Internet. Diesen Text hat mir mein Bruder zugesandt. Er informiert über ein wichtiges Motiv der Vertreibung.

Ausführlicher: s. Perbálbuch

27 Der Bericht von Therese Beer aus Eifa, wurde aufgezeichnet von Alfred Becker.

Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen

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