Читать книгу Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen - József Wieszt - Страница 5
ОглавлениеDie Ahnen
Seit dem Sieg der Osmanen über das Heer Ludwig II. bei Mohács 1526 war Ungarn dreigeteilt und Mittelungarn von den Türken besetzt. Die Burg von Ofen (Buda) war das Verwaltungszentrum des türkischen Teils. Dieser Teil war weitgehend menschenleer, die Dörfer zerstört und verlassen, das Land verwüstet und verödet. So blieb es bis zur Rückeroberung Ofens durch ein christliches Koalitionsheer im September 1686 und der gänzlichen Vertreibung der Türken aus Mittelungarn in der zweiten Schlacht bei Mohács 1687.
Ein Resultat dieses Sieges war, dass der Habsburger Kaiser Leopold I. und seine Nachfolger als erbliche Könige von Ungarn durch die ungarische Aristokratie anerkannt wurden. Die kaisertreuen Magnaten erhielten ihre früheren Besitzungen vom Kaiser zurück, oder sie wurden mit anderen Gütern belehnt. Sehr schnell erkannten diese Herren, dass ihnen die seit vielen Jahrzehnten nicht bearbeiten, verödeten und versteppten Güter nur Vorteile brachten, wenn der Boden rekultiviert wurde. Sie brauchten Menschen, die das konnten: Bauern und Handwerker. In Ungarn gab es davon bei Weitem nicht genügend. Es mussten also Siedler, Kolonisten aus dem Ausland geholt werden, die diese große und schwere Aufgabe übernehmen würden. In der Umgebung von Buda hatten die Grafen von Zichy ausgedehnte Güter mit kaum besiedelten oder ganz verlassenen Dörfern. Sie begannen unverzüglich, Siedler aus den deutschen Ländern, aus dem Elsass und aus Lothringen ins Land zu rufen. Das geschah zunächst aufgrund privater Initiative. Später erst wurde eine regelrechte Einwanderungspolitik vonseiten der staatlichen Verwaltung des Kaiserreichs betrieben.
Auswanderung nach Ungarn
1691 bereits erreichte der von den gräflichen Emissären verbreitete Ruf die Gemeinde Hechenheim in Württemberg, unterhalb der Burg Hohenzollern gelegen. Der dort ansässige Georg Wiest entschloss sich, nach Ungarn auszuwandern. Er stellte zunächst einen Antrag auf einen Freibrief, d. h. auf Freilassung aus der Leibeigenschaft. Dafür musste er eine erkleckliche Summe auf den Tisch des Grundherrn legen. Er erhielt die Genehmigung zur Ausreise. Danach verkaufte er seinen restlichen Besitz und machte sich mit seiner Frau, vier Söhnen und drei Töchtern auf den langen und gefährlichen Weg nach Ungarn. Verwandte und Bekannte begleiteten ihn bis zum Dorfrand, Tränen flossen, Segenswünsche wurden erteilt, Warnungen und gute Ratschläge folgten, der eine oder andere steckte ihnen noch ein Heilkraut oder eine Tinktur zu. Dann sprach man mit dem Pfarrer noch ein gemeinsames Gebet, erhielt den Reisesegen, und dann entfernte sich die kleine Gruppe zusammen mit zwei anderen Familien in Richtung Ulm. Was würde sie ihnen bringen, die Reise ins Ungewisse?
Versprochen hatte ihnen der Werber glänzende Aussichten, verglichen mit den damaligen Lebensbedingungen in Hechenheim. Zuteilung von ausreichend Ackerboden, sechs Jahre Abgabenfreiheit, Bereitstellung von Vieh, landwirtschaftlichem Gerät und Material zum Hausbau. Er hatte auch ein Papier vorgewiesen, in dem das alles schriftlich festgehalten war, aber welcher Bauer konnte damals schon lesen? Auf dem Weg nach Ulm hatten sich ihnen noch weitere Auswanderer angeschlossen. In Ulm angekommen, mussten sie ihre Papiere überprüfen lassen und die Hälfte der Reisekosten an die Schiffseigner bezahlen. Eine Unterkunft galt es zu finden und dort so lange zu warten, bis ein Schiff abfuhr, auf dem sie mitfahren konnten, donauabwärts, zunächst bis Wien. Ulm war damals eine reiche Handelsstadt und stand in geschäftlichen Verbindungen mit einer Reihe anderer Städte. Eine der bekanntesten von ihnen war das durch größte Anstrengungen vor der Eroberung durch die Türken gerettete Wien. Die Schiffe der Ulmer, Zillen genannt, fuhren mit ihrer Fracht flussabwärts. Es waren flache Kähne, die entweder am Zielort verkauft wurden, um das Holz zu verwerten, oder sie wurden mit neuer Fracht beladen und flussaufwärts von Pferden gezogen. Man nannte das „treideln“.
Ulmer Schachteln
Für die Auswanderer wurden diese Zillen mit kastenähnlichen Aufbauten versehen, die den Menschen und ihren wenigen Gepäckstücken Schutz gegen Wetterunbilden boten. Wegen dieser Aufbauten wurden die Auswandererschiffe auch „Ulmer Schachteln“ genannt. Sie wurden von der Flut der Donau angetrieben und durch zwei sehr lange Ruder gesteuert, die auf dem Dach der „Schachtel“ postiert waren. Dabei galt es, Strömungen und Stromschnellen zu meistern und Untiefen zu vermeiden. Die Abfahrt von Ulm war ein öffentliches Ereignis. Viele Schaulustige versammelten sich, aber auch nachgereiste Verwandte und Bekannte kamen zu einem letzten Lebewohl. Eine Musikkapelle spielte auf und die Auswanderer gingen in Gruppen an Bord, etwa 30 bis 40 Personen pro Zille. Selbstverständlich wollten die Familien zusammenbleiben und auch Mitreisende, mit denen man während der Wartezeit Freundschaft geschlossen hatte, sowie bekannte Ausreisewillige aus Nachbardörfern, die man in Ulm getroffen hatte, sie alle versuchten, jeweils auf einem Schiff unterzukommen. Denn: In Gemeinschaft reist es sich leichter und in der Not kann man sich gegenseitig helfen. Das Wichtigste aber war, dass man in der neuen Heimat mit Bekannten zusammen ankommen und dort neu beginnen wollte. Als nach vielen Zurufen, Gedrängel und Geschiebe die verschiedenen Interessen befriedigt worden waren, oft auch durch ein Machtwort der Schiffsmannschaft, konnte die Reise beginnen. Die Fahrt bis Wien dauerte je nach Jahreszeit und Wetterlage ein bis zwei Wochen. In Wien kamen Kontrolleure der Kameralverwaltung, die die Auswanderung überwachten, an Bord der Schiffe und kontrollierten, ob nicht verbotener Weise verstecktes Geld oder sonstige Wertgegenstände mitgenommen und verheimlicht worden waren. Fand sich dergleichen bei jemandem, wurden die Sachen konfisziert und der „Übeltäter“ bestraft. Er konnte – nach vielem Bitten – froh sein, wenn er die begonnene Reise überhaupt fortsetzen durfte. Nachdem diese Angelegenheiten geregelt waren, musste die zweite Hälfte des Reisegeldes bezahlt werden. Bei diesem Aufenthalt wird vielen zum ersten Mal der Gedanke gekommen sein, dass die erwartete große Freiheit so groß vielleicht gar nicht werden würde. Nach einem Tag Aufenthalt, an dem die Auswanderer auch an Land gehen und Einkäufe machen konnten, ging die Reise weiter, wenn nicht Unvorhergesehenes dazwischenkam. – Es kam nichts dazwischen, kein Unglück, kein Überfall. Alle sind heil in Ungarn angekommen. Sie wurden in Werischwar/Pìlisvörösvár angesiedelt. Den Namen hatte der Platz von einer „Roten Plankenburg“, einer kleinen von den Türken errichteten Festung. Ein Dorf im üblichen Sinn war nicht mehr vorhanden. In einem Bericht an die Hofkammer in Wien von 1688 heißt es: „Werischwar ist ein von langen Jahren her ganz ruiniert und ödes Dorf, allwo die Türken einen Balanken gehabt.“ Ein Kenner der damaligen Situation bemerkte zu Werischwar Folgendes: „Wo die Menschenhand abgeht, dort gibt es auch keine Bodenkultur. Spuren davon wird man hier oder dort noch bemerkt haben. Im Allgemeinen dürfte das Gebiet keinen besseren Anblick geboten haben als die vielen anderen verwüsteten Gegenden des Landes.“1
Einer der Einwanderer war Georg Wiest. Er ist der Urahn aller in der Umgebung von Budapest lebenden Mitglieder der Wiest-Sippe Sie haben sich durch Binnenwanderung (Heirat, Arbeitssuche etc.) in den deutschen Dörfern des Ofener Berglandes angesiedelt. Die folgende Mitteilung dazu hat mir Frau Milbich-Müntzer zugesandt:
Unser Urahn Georg Wiest
Wiest (WÜST), Georg
Im März 1691 aus dem Hohenzollerschen Land entlassen (Morlock). „Wiest, Georg, Weilheim, Frau Kdr, 106 fl (Florentiner Gulden)33 x, (Kreuzer)) ‚außer Landes‘ (Gleichzeitig mehrere Entlassungen nach Ungarn). 24.3.1691“ (Hacker Auswanderungen aus Hohenzollern, 2158)
Als die Einwanderer nahe der Gemeinde Alt Ofen (Óbuda) ihre Zille verließen und erstmals ungarischen Boden betraten, wurden sie von Fuhrwerken ihrer künftigen Grundherren abgeholt und in ihre vorgesehenen Wohnorte gebracht. Von diesen waren kaum mehr als ihre alten Namen bekannt, gegebenenfalls waren noch ein paar Mauerreste vorhanden. Während der Türkenherrschaft (einhundertfünfzig Jahre) wurden sie entvölkert, verödeten und zerfielen. In den Heimatbüchern wird davon berichtet. Unsere Vorfahren wurden auf verwildertem Grund abgeladen. Die versprochenen Baumaterialien trafen nicht oder nur sehr zögerlich ein, Zugvieh und landwirtschaftliches Gerät ebenfalls. Die versteppten und versumpften Flächen mussten mühsam von Hand mit Hacke und Spaten wieder als Felder hergerichtet werden. Zugtiere und Pflüge waren noch nicht vorhanden. Unser Kopp-Opa wusste aus der familiären mündlichen Überlieferung von Perbál zu berichten, dass unsere Vorfahren im Sommer das Schilf in den versumpften Gebieten abmähten und verbrannten. Die heiße Sommersonne verdampfte das Wasser. Auf diese Weise wurden die Sümpfe entwässert. In den trockenen Gebieten rodeten sie, soweit vorhanden, Bäume und beseitigten dichtes Buschwerk. Das Holz der Bäume schlugen sie zu Balken und nutzten sie zum Bau einfacher „Häuser“ und Schuppen, um sich vor den Unbilden der Witterung (heiße Sommer, kalte, schneereiche Winter) und vor den wilden Tieren (Wölfe, Bären) zu schützen. An eine Ernte war unter diesen Umständen zunächst nicht zu denken. Selbst wenn sie von dem Grundherrn einige Lebensmittel (Getreide, Brot, Kartoffeln) erhielten, was nicht sicher war, litten sie, vor allem im Winter, an Hunger und Kälte. Viele erkrankten und starben – im Sommer am Sumpffieber, im Winter an Erkältungskrankheiten und Entkräftung. Die Kindersterblichkeit war unter diesen Bedingungen besonders hoch.
Georg Wieszt wurde also mit seiner Familie nach Werischwar gebracht. Er überlebte die schwere Zeit des Anfangs und findet sich in einer „Conscription“2 der Bevölkerung in Werischwar im Jahre 1696“ wieder: Georg Wüst mit zwei Söhnen und zwei Töchtern und – vermutlich ein erwachsener Sohn von ihm – ein Conrath Wüst mit zwei Söhnen. Wüst ist eine ursprüngliche Schreibweise von Wiest. Der Name stammt nach früheren Quellen aus dem Bodenseegebiet. Die ursprüngliche Bedeutung weist auf Tätigkeit der Menschen dieses Namens hin. Sie kultivierten unbebautes, wüstes Land. Damit waren sie in Ungarn sozusagen wieder an ihren Wurzeln angelangt.
Werischwar (Vörösvár)
Fogarasy-Fetter schreibt im „Werischwarer Heimatbuch“, dass im März 1691 vier Familien aus dem „Hohenzollerschen Land“ nach Werischwar kamen. „Mit ihnen kam aus Weilheim bei Hechingen Georg Wiest mit Frau und Kindern (namentlich bekannt Michael, Konrad, Franz), von dem die im Ofener Bergland weit verzweigte Familie Wiest ihren Ursprung nahm. Als seine Frau starb, heiratete er 1697 Barbara Wingert aus Finningen in Schwaben. Georg Wiest starb 1727 mit 60 Jahren in Werischwar.“ Nach Werischwarer Heiratsmatrikeln von 1697 war Georg Wiest von Beruf Wagner. Er gehörte damit einer Minderheit unter den Einwanderern an, die überwiegend Bauern und Winzer waren Der Name Wiest ist bis heute in Werischwar/Pilisvörösvar relativ häufig vertreten. Da viele Werischwarer nach dem Zweiten Weltkrieg im Bergbau arbeiteten, wurde der Ort von den Vertreibungen überwiegend verschont. Ähnliches widerfuhr auch weiteren Dörfern, die den neuen Machthabern aus anderen Gründen unentbehrlich schienen. Amüsantes aus der Geschichte der Wiests in Werischwar findet sich im Kapitel „Necknamen Spitznamen“: „Ein Zweig der Familie Wiest wurde wegen des Bauchumfangs der männlichen Familienmitglieder mit dem Necknamen die ‚Waumbadn‘ (Wamme: oberdeutsch ‚Bauch‘, wammig, ‚bauchig‘) von den dünnen Wiests unterschieden.“3
Die in Zsambék residierenden Grafen von Zichy (gesprochen Sitschi) waren zu dieser Zeit die Grundherren. Sie förderten die Einwanderung aus Deutschland. Ihr schönes Schloss in Zsambék existiert heute noch.
Perbál
Mein Geburtsort Perbál liegt nur wenige Kilometer westlich davon. Im Heimatbuch der Gemeinde Perbál, meinem Geburtsort, wenige Kilometer von Pilisvörösvár entfernt, findet sich eine Kopie der Visitationsakte von 1747. Sie gibt den Stand von 1745 wieder. Auf der Liste befinden sich ein Andreas Wiest (Frau Rosalia, Kind Katharina, Knecht Martin Stomher) und ein Mathias Wiest (Frau Barbara, Kinder Mathias, Michael, Martin, Leopold, Gregor, Georg, Elisabeth). In den Urbariallisten4 der Gemeinde Perbál von 1770 stehen ein Andreas Vieszt, und ein Mathias Vieszt.5 Das V wird im Ungarischen wie W gesprochen. Beide Männer dürften mit denen, die 25 Jahre zuvor eingetragen wurden, identisch sein oder waren deren Söhne.
Erstmals tauchen in den Listen von 1770 auch ein Gregorius Khop und ein Laurentius Khop auf. Damit ist zu dieser Zeit auch schon der Name Kopp in Perbál vertreten. Von der Kopp-Linie stammt unsere Mutter ab. Diese Kopps könnten unsere Vorfahren von der Mutterseite sein.
Ein Franciscus Köpp, und dann als Franz Kopp, taucht aber schon bei der Landeskonskription von 1720 in Jenö (Budajenö) dem Nachbardorf von Perbál auf. Der Name Kopp ist demnach bereits 50 Jahre früher in der Perbáler Gegend vertreten. Die Perbáler Khops von 1770 könnten durchaus auch Nachfahren des Jenöer Franz Kopp sein. Ein Christian Kopp steht auch in der Urbariallisten von 1770 im Nachbarort, der Gemeinde Jenö. Für diese Annahme spricht, dass zwischen den Dörfern Heiraten stattfanden, und, wie erwähnt, auf diese Weise eine Binnenwanderung stattfand.6
In dieser Liste findet sich ebenfalls ein Jakob Wüest. (Die Schreibweise Wüst, Wüest und Wiest, taucht anfangs parallel auf, später Wiest und Wieszt sowie Viszt und Vieszt. Das „Z“ kam erst durch die ungarische Schreibweise in unseren Namen.
Für mich ist damit erwiesen, dass die Familien unserer Vorfahren (Vater Wiest) seit 1691 in Pilisvörösvár bzw. (Mutter Kopp) seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Perbál oder seiner unmittelbaren Nachbarschaft lebten. Sie gehörten mit einzelnen Ausnahmen nicht zu den reichen Bauern. Objektiv betrachtet, sind sie nicht dauerhaft in diese Schicht aufgestiegen. Sie blieben entweder stets kleine Bauern und Händler oder verloren durch widrige Umstände oder Fehlentscheidungen ihr Vermögen wieder. Es war aber nicht so, dass unsere Eltern mit ihrem Schicksal haderten und sich als arme Leute ansahen. Sie waren stolz auf das, was sie sich erarbeitetet haben. Strebsame Leute waren sie, die ihre Selbstachtung nicht zuletzt von ihrem durch fleißige Arbeit erworbenen Besitz herleiteten. Jedoch hätte unsere Mutter gern mehr davon gehabt. Ständig haderte sie mit unserem Vater, weil er nicht mehr verdiente. Aus der familiären Überlieferung wusste unser Vater Folgendes zu berichten:
Familiäre Überlieferung
Unser Vater berichtete: „Von den ersten Einwanderern ist in Perbál/Zsambék nur einer übrig geblieben. Er heiratete eine Ungarin aus Zsambék. Neue Kolonisten kamen in diese Orte. Auch von ihnen starben viele. Erst von der dritten Einwanderungswelle überlebten die meisten.“ Folgender Spruch ist in den ungarndeutschen Familien heute noch bekannt. „Den Ersten der Tod. Den Zweiten die Not. Den Dritten das Brot.“ Es dauerte Generationen, bevor aus diesen ersten behelfsmäßigen Ansiedlungen die schmucken „Schwabendörfer“ in einem Ring um Budapest herum entstanden.
Unser Vater erzählte weiter: „Mein Großvater, war auch ein Franz Wiest. Er hat Wechsel unterschrieben, die er nicht einlösen konnte. So hat er seinen Grund, eine ‚Halbsession‘, verloren. Meine Großmutter war eine geborene Dietrich. Ihr Vater war ein Schmied. Sie war seine einzige Tochter und heiratete einen Josef Fress.
Der war wohlhabend. Er arbeitete bei den Husaren als Dolmetscher für die Ungarn. Die Landessprache hatte er bei einer ungarischen Familie in Raab (Györ) als Austauschkind gelernt, ein Jahr lang. Die Kinder der ungarischen Familie waren in dieser Zeit in Perbál und lernten deutsch. Das war damals ein übliches Verfahren, um die Kinder mit den beiden wichtigen Sprachen im Land vertraut zu machen. Nach seiner Soldatenzeit hatte sich mein Fress Opa von einem Grafen eine Landwirtschaft in Diner (Tinye) gepachtet, 300 Joch. Alle mussten auf den Feldern mithelfen. In der vorderen Stube war der Mais (Guckrutz) bis unter die Decke gestapelt. Gedroschen wurde bis Weihnachten, nicht der Mais, der wurde von dem Kolben geraspelt. Seine Ernte verkaufte der Fress Opa in Raab an Juden. Der Vater eures Kopp-Opas war an dem Geschäft beteiligt.
Dieser Uropa Kopp zeichnete 1916 eine Kriegsanleihe in Höhe von 30.000,- ‚Gulden‘. Meine Mutter, eure Wiest Oma, zeichnete 8000 Gulden, alles war auf der Sparkasse in Zsambék angelegt Nach dem Krieg wurden die Papiere wertlos. Zwei Äcker erbte auch mein Vater. Die Äcker lagen auf einem steinigen Hügel. Zwei weitere Äcker hatten sie sich von einer Besitzerin in Tinye (Diner) gepachtet. Darunter war auch ein langes Stück.7 Sie hatten auch zwei Weingärten.“ Vaters Fress-Opa hatte sechs Kinder: Maria war seine älteste Tochter, unsere Wiest-Oma, geb. am 7. Juni 1893 in Perbál, gestorben am 4. Januar 1973 in Roda, Kreis Frankenberg/Eder (amerikanische Zone). Sie heiratete unseren Großvater Lorenz.
Die Kinder des Frommen Joob (vermutlich hieß er auch Wiest Lorenz) waren Franz: der Vater unseres Onkels Franz Wiest. Er war bei der Gemeinde angestellt als Jäger, Waldaufseher und Feldhüter. Er trank gern. In hohem Alter starb er in Roda.
Lorenz: unser Wiest Opa, geb. am 2. September 1889 in Perbál. Er starb am 31. Januar 1948 im Krankenhaus in Frankenberg/Eder nach einer Operation an einer „Darmverschlingung“. Vater sagte, er sei am Dünndarm operiert worden. Den Darm habe man falsch zusammengenäht, daran sei er gestorben.
Unsere Wiest Großeltern hatten folgende Kinder:
Lorenz, unseren Vater, geb. am 21. Juli 1917, gestorben am 9.12.2001.
Josef, geb. 1920, gestorben am 28.10.1941 bei Leningrad, in Karelien.
Franz, geb. 1922, gestorben (vermisst seit 16.11.1941 in Karelien).
Sie lebten zunächst zur Miete („in Zins“), danach im Haus des Fress-Opas in der Jägerstraße 5 in Perbál. Unser Vater sagte zunächst, es sei in der „Gurgel“ gestanden, dann verneinte er das wieder.
Unserer Schwester Maria hat er bei ihrem gemeinsamen Besuch in Perbál eine alte „Wohnhöhle“ in der Gurgel gezeigt, in der seine Großeltern noch gewohnt haben sollen. Unter einer Wohnhöhle muss man sich einen oder mehrere in eine Lehmwand hineingegrabene Räume vorstellen. Es gibt solche Wohnhöhlen heute noch in Spanien. Einige wurden dort als Pensionen oder Hotels ausgebaut. Selbstverständlich haben Letztere Strom und Wasser. Die Wohnhöhlen in Perbál hatten das mit Sicherheit nicht. Diese Großeltern hatten zwei, drei Kühe, Schweine (Sau), Gänse und Hühner. Ein Pferd hatten sie nicht. Jemand pflügte für sie. Das mussten sie abarbeiten
Zwei Verwandte unseres Vaters, hatten je eine Dreschmaschine. Als Lohn für das Dreschen mussten die Bauern „an Kern“ bezahlen, vermutlich 1/10 der jeweils gedroschenen Menge, Hafer, Weizen, Gerste, Roggen (Draat). Der Roggen, das „Draat“ wurde angebaut wegen „Bandelmoche“. D.h., aus dem längeren Roggenstroh drehte man Strohseile (Bandel), mit denen die Garben der anderen Getreidesorten mit kürzerem Stroh zusammengebunden wurden, v.a. des Weizens.
Vaters Fress-Opa hatte eine Dreschmaschine, die von 3 Pferden angetrieben wurde (Göpel?). Die Kinder mussten die Pferde im Kreis herumtreiben. In der Mitte stand ein Pflock mit einem quer liegenden Rad daran. Von ihm lief ein Transformationsriemen zu einem weiteren Rad (aufrecht stehend), mit dem die Dreschmaschine angetrieben wurde. Soweit die Erzählung unseres Vaters.
Nach einer Abstammungstafel (Számaszási táblázat), ausgestellt in Budapest am 8. Januar 1943 (Kopie in meinem Besitz) sieht unsere Abstammung offiziell wie folgt aus: Linie des Großvaters (Wieszt):
1 Wieszt Ferenc, geb. 2.6.1861 in Perbál, heiratet am 19.September 1883 in Perbál.
2 Kaiser Teréz, geb. am 31.8.1862 in Perbál. Ihr Sohn
3 Wieszt Lörincz (unser Großvater) geboren am 2.September 1889 in Perbál.
Linie der Großmutter (Fress/Wieszt):
1 Fresz József, geb. am 3.1.1863 in Perbál heiratet am 10. November 1885 in Perbál
2 Dietrich Katalin, geb. am 5. August 1866 in Perbál. Ihre Tochter
3 Fresz Mária, (unsere Großmutter) geb. am 8. Juni 1893 in Perbál, heiratet am 17.2.1914
4 unseren Großvater Wieszt Lorenz (Lörincz)
Linie Wieszt/Kopp
Ihr Sohn
4. Wieszt Lörincz, (unser Vater), geb. am 21.7.1917 in Perbál, heiratet am 23.11.1940 in Perbál unsere Mutter
5. Kopp Rozina, geb. am 24. Mai 1918 in Perbál Ihre Eltern sind unsere Kopp-Großeltern.
Meine Geschwister und ich sind ihre Kinder.
Für das Folgende hat sich der Trauschein eingefunden.
Kopp-Linie
Kopp, György (Urgroßvater), Vater von unserem Kopp Opa.
Kopp, Rozalia, geb. Wieszt, (Urgroßmutter), Opas Mutter, nicht verwandt mit den obigen Wiests.
Payer, József, (Urgroßvater), Vater unserer Großmutter
Payer, Rozina, geb. Gerli (Urgroßmutter), Mutter unserer Großmutter
Kopp György, (genannt Hans) geb. am 11.11.1888 in Perbál gest. 20.11.1978 in Laisa (unser Großvater) und
2. Kopp Maria, geb. Payer, geb. am 4.8.1881 in Perbál, gestorben am 25.8.1967 in Laisa, unsere Großmutter
Unsere Großeltern heirateten am 6. Februar 1912 in Perbál,
Ihre Kinder waren
– Kopp, Georg, genannt Hans, geb. am 20. Juni 1913 (Hans-Vetter)
– Kopp Johann, Johanns Vater, verheiratet mit Anna Stockbauer aus Vértéstolna
– Kopp, Rozina, unsere Mutter, verheiratet mit Lorenz Wieszt aus Perbál, unserem Vater,
– Kopp, József, im Zweiten Weltkrieg umgekommen
– Kopp, Maria, verheiratet mit Franz Wieszt, einem Cousin unseres Vaters,
– Kopp, Therezia, (die Tante Resi, verheiratet mit József Paxian aus Perbál).
Sie hatten noch sechs weitere Kinder, die schon als Säuglinge bzw. Kleinkinder gestorben sind.
Zu unseren Eltern erzählte mir unsere Tante Maria: „Sie haben zuerst bei der ‚Wiest-Oma‘ gewohnt. Die waren arm. Bei der Hochzeit haben eure Eltern auf der Fensterbank gesessen. Ihr Kinder habt dort geschlafen. Am Morgen seid ihr zu uns herübergekommen (zur ‚Kopp-Oma‘) und habt dort gelebt. Abends seid ihr zum Schlafen wieder zur Wiest-Oma rübergegangen, weil es bei uns zu eng wurde.“
Die letzte noch in Perbál lebende Cousine unseres Vaters war die Ruppel Nanni (sie ist inzwischen verstorben). Ihre Mutter war eine geb. Maria Wiest, demnach die Schwester unseres Wiest Opas. Sie heiratete einen Ruppel, der zu seinem Schwager wurde. Wir haben die „Nanni-Basel“ mehrmals in Perbál besucht. Sie war eine angenehme Frau. Zu ihrer Tochter und den Enkelkindern halten wir freundschaftlichen Kontakt.
1 Nach Eugen Bonomi Zur Besiedlung der Gemeinde Pilisvörösvár, Südostdeutsche Forschungen München, Jg. 4 1939, S. 793-795, zit. in: Michael Fogarasy-Fetter: Geschichte und Volkskunde der Gemeinde Werischwar/Pilisvörösvár, 1994, S. 53.
2 Diesen Text hat mir Franziska Milbich-Müntzer, Heimatgeschichtlicher Arbeitskreis Budapest und Umgebung im AKd freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
3 Michael Fogarasy-Fetter, a.a.O S.62, 64, 66 und 465
4 Perbál,/Perwall Geschichte und Erinnerungen an unsere Heimatgemeinde in Ungarn, Hrsg. Förderkreis Heimatbuch Perbál 1988, Bearbeitung Josef Walter, 6945 Hirschberg/Gro, S. 31f f
5 Die Urbariallisten enthalten den Grundbesitz der Eingetragenen, die Grundsteuern sowie die Hand-Spanndienste und die Abgaben, die sie den Grundherren zu leisten hatten.
6 Rudolf Keszler, Ortsfamilienbuch Pilisvörösvár, Pilisszentiván 1693–1811, Sindelfingen 2007, S. 257. R.Kezler hat in seinem verdienstvollen Buch insbesondere die Herkunft und Verbreitung des Namens Wiest in Pilisvörösvár und Umgebung im Detail nachgewiesen. Vgl. a.a.O, S 625 ff.
7 Ein „langes Stück“ bedeutete, dass der Acker sich aus dem Tal über Hügel nach oben zog. Auf diese Weise waren alle Böden dieser Lage in dem Acker vertreten, die fruchtbareren im Tal, die magereren am Hang und die steinigen auf der Höhe. Mit dieser Regelung sollte verhindert werden, dass einige die fetten Böden bekamen und andere die mageren, weniger ertragreichen. Perbál verfügte auch über Gemeindeland und Wald. Sie wurden als Weideflächen für Kühe und Mastplätze (Eichelmast) für die Schweine zur Verfügung gestellt. Ein Halter (Hirte) führte die Tiere am Morgen dorthin und brachte sie am Abend wieder ins Dorf. Die Gemeinde bezahlte ihn dafür.