Читать книгу Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen - József Wieszt - Страница 8
ОглавлениеDie Oma, geb. Maria Payer
Aus ihrem Leben
Die Oma, „die Ahl“, wie ich sie kennengelernt habe, war eine Stille und Liebe. Ich habe keine Szene in Erinnerung, in der sie böse oder laut war. Mir schien sie immer der genaue Gegensatz zu ihrer Tochter, unserer Mutter, zu sein. Es fällt mir schwer, meine erste Erinnerung an sie ausfindig zu machen. Als Person war sie für mich nicht klar umrissen. Sie war für mich eher so etwas wie ein warmes Gefühl. Sie vermittelte eine Atmosphäre des „zu Hause Seins“. Ihr Gesicht war rund und faltig, freundliche Augen blickten daraus hervor. Klein war sie, rund, ständig verborgen unter ihrer schwarzen Tracht. Dazu gehörten auf dem Kopf ein Schopf, ein Umhängtuch, und – je nach Witterung – drei bis fünf Unterröcke und Röcke, die sie übereinander trug. Unterhosen gehörten offenbar nicht zu ihrer Bekleidung, zumindest nicht im Sommer. Als wir einmal die Straße nach Laisa gemeinsam entlanggingen, trat sie an den Rand, hob den Hintern unter dem Rock an, spreizte die Beine – und dann hörten wir es plätschern.
Unsere Mutter erzählte, dass sie nicht gut kochen konnte. Ich habe keine Erinnerungen an Omas Küche. Unsere Mutter dagegen kochte gut. Über ihre Mutter erzählte ihre Tochter, dass die Oma sie zur Arbeit getrieben habe. (Ich habe das oben erwähnt.) Schon als Zwölfjährige habe sie den Haushalt führen und die kleineren Kinder beaufsichtigen müssen, weil die Oma mit dem Opa nach Budapest auf den Markt fuhr und Bestellungen bei den reichen Leuten auf dem Rosenhügel einholte und austrug. Meistens handelte es sich um frische Eier, Milch, Sahne – „Ouverst“ (Schlagobers).
Wenn etwas nicht so gegangen war, wie ihre Mutter es erwartet hatte, habe sie Schläge bekommen. Dabei sei die Oma nicht wählerisch gewesen. Wenn sie nichts anderes zur Hand gehabt hätte, habe sie auch mit dem Kochtopf zugeschlagen. Dabei hat sie sicher auch Schläge abbekommen, die eigentlich ihrem Bruder, dem ältesten Sohn Hans gegolten haben, den die Oma aber nicht mehr verhauen konnte, weil er schon siebzehn war. Er scheute die Arbeit und trank auch gern Wein, in diesem Alter schon. Ihren Mann, den Opa, liebte und verehrte unsere Oma. Wenn er etwas sagte, war das ein Gesetz. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Oma ihm jemals widersprochen hätte. Da er gelegentlich jähzornig wurde, versuchte sie, ihn milder zu stimmen.
Auch auf unsere Mutter suchte sie zu besänftigen, wenn sie aus Überforderung schrie und uns Kinder schlug. „Rousl, sei san doch nou Kinder!“ („Rosl, sie sind doch noch Kinder!“) Auch unsere Tante Maria mischte sich ein, wenn unsere Mutter wieder einmal schimpft und lärmte, weil mein Bruder und ich es allzu toll getrieben hatten: „Halgas!“, sagte sie auf Ungarisch, etwa: „Sei doch ruhig!“
Schwarzhandel
Unsere Großmutter war in das System der Ernährung der Familie mittels Tauschhandel nach dem Krieg stark eingebunden. Vor allem bei der Beschaffung von Rohtabak aus Baden, wo ein Teil der Peráler Bevölkerung angesiedelt worden war, spielte sie eine wichtige Rolle. Bei einer dieser Tauschfahrten, während der alle unter ständiger Angst vor Polizei- und Militärrazzien lebten, ereignete sich ein bemerkenswerter Vorfall. In der überfüllten Bahnhofshalle des Frankfurter Hauptbahnhofs standen meine Mutter und unsere Oma mit ihrem Tabak im Gedränge, als plötzlich Uniformierte hereinstürzten und eine Razzia begann. Wer noch durch einen der Seiteneingänge entfliehen konnte, hatte Glück. Meine Großmutter schaffte es nicht. Sie nahm das Bündel, das sie nach alter Gewohnheit auf dem Kopf trug, herunter, warf es auf den Boden und setzte sich darauf, wobei sie ihre drei, vier weiten Röcke, die sie stets übereinander trug, wie eine schützende Glocke über dem Tabakbündel ausbreitete. Sie saß da und rührte sich nicht. Keiner der kontrollierenden Uniformierten kam offenbar auf die Idee, dem alten Mütterchen in ihrer merkwürdigen schwarzen Tracht unter die Röcke zu gucken. Die Oma blieb unbehelligt, und der Tabak war gerettet. Diese Geschichte wurde uns Kindern oft erzählt, wenn man in der Familie auf die „alten Zeiten“ zu sprechen kam.
Letzter Besuch
Ich erinnere mich genau an den letzten Besuch bei unserer Oma kurz vor ihrem Tod. Lorenz und ich waren schon Studenten und besuchten die Großeltern nicht mehr so oft. Als wir dieses Mal ankamen, lag die Oma im Bett und sah nicht gut aus. Tante Resi hatte uns zuvor erzählt, sie sei schwer krank und werde bald sterben. Vermutlich litt sie an den Folgen einer Gelbsucht. Fünf Jahre vor ihrem Tod war ihr das Blut ausgetauscht worden. Sie sah schon damals aus, als würde sie bald sterben, hat aber noch fünf Jahre gelebt. Vor ihrem Tod war sie noch einmal ins Krankenhaus gekommen. Es bestand aber kaum noch Hoffnung. Da hat sie der Opa auf eigenes Risiko mit nach Hause genommen. Sie sollte zu Hause sterben.
Wir hielten uns eine Weile am Bett der „Ahl“ auf und redeten oberflächlich daher. Vielleicht wollten wir damit unsere Unsicherheit und Besorgnis überspielen. Als wir uns dann verabschieden wollten, hielt sie mich beim Handgelenk fest und sagte mit flehentlichem Blick leise: „I wü neit sterm.“ („Ich will nicht sterben.“)
„Ach Oma, Ihr sterbt schon noch nicht. Ihr werdet wieder gesund!“ („Ach Ahl, Eis sterbts sche nau neit. Eis werds sche widde gsund!“) Dann sagten wir ihr noch einmal auf Wiedersehen und gingen. Es war das letzte Mal, dass ich mit ihr gesprochen habe. Sie starb einige Tage nach unserem letzten Besuch. An ihre Beerdigung erinnere ich mich kaum. Sie war wie alle „Läichten“ ziemlich groß. Einen Totenschein habe ich weder von ihr noch von unserem Großvater je gesehen Nach Auskunft unserer Tante Resi hat sie noch am Tag vor ihrem Tod eine kleine Hausarbeit gemacht. Später tat es mir leid, dass ich mir damals nicht mehr Zeit für sie genommen habe. Beerdigungen waren für die Perbáler in Deutschland beliebte Gelegenheiten, zusammenzukommen und Erinnerungen auszutauschen. Wer irgend konnte, ging da hin, auch wenn er/sie nicht zur Verwandtschaft gehörte.
Gemeinsames Grab in Laisa
Aber wie war die Oma als Mädchen, als junge Frau? Ich habe leider versäumt, sie oder ihre Töchter und Söhne ausführlicher zu befragen. Jetzt lebt von ihnen niemand mehr. Aus den wenigen Informationen, die ich über sie habe, und aus der Kenntnis der Lebensverhältnisse in Perbál am Beginn des 20. Jahrhunderts kann ich dazu vielleicht Folgendes sagen.
Oma als Kind, Mädchen und junge Frau
Die kleine Maria besuchte die Dorfschule und die „Sonntagsschule“. Ungarisch hat sie dort nicht gelernt, denn die Unterrichtssprache war damals noch Deutsch. In der Familie und im Dorf wurde unsere donauschwäbische Mundart gesprochen. Der Lehrer wird sich bemüht haben, den Bauernkindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Gesungen hat er sicher mit ihnen, und vielleicht hat er ihnen auch Geschichten aus Geschichte Ungarns und der Ungarndeutschen erzählt. Seine Erziehungsziele waren Gottesfurcht, Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, Anstand und Sitte, Achtung der Regeln des dörflichen Zusammenlebens und Gehorsam gegenüber dem Lehrer, den Eltern und Großeltern, der Obrigkeit und der Kirche. Die Einhaltung der Zehn Gebote wurde den Kindern eingebläut, besonders in der Sonntagsschule. Der Verstoß gegen sie war eine Sünde oder Todsünde, die mit Fegefeuer oder ewiger Verdammnis bestraft wurde. Jeder derartige Verstoß musste gebeichtet werden. Die Beichte war ein anfangs auch von mir gefürchtetes Instrument, zur Offenlegung geheimer und geheimster Regungen und Taten. „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten“, hieß die generelle Formel im Beichtstuhl, und es blieb „dem Beichtvater“ vorbehalten, da im Einzelnen nachzufragen. Eine peinliche Situation, der man sich nur entziehen konnte, wenn man im Beichtstuhl nicht die ganze Wahrheit sagt. Es dauerte eine Zeit, bis man deswegen kein schlechtes Gewissen mehr hatte
Mädchen sollten zu sittsamen Jungfrauen, ehrbaren Bräuten, guten Ehefrauen und Müttern sowie zu tüchtigen Hausfrauen erzogen werden. Sie sollten ihren Eltern und ihrem künftigen Mann gehorchen, sie nach Kräften unterstützten und ihnen vor allem keine Schande machen. Denn die wurde sicher offenbar und öffentlich. Wenn eine junge Frau vor der Ehe geschlechtlich mit einem Mann verkehrte, und das im Dorf bekannt wurde, galt sie als Hure. „Sie is a Huur“, hieß es verächtlich. Wenn sie vor der Ehe schwanger wurde, konnte sie diesen Makel nur durch die Hochzeit wieder beseitigen. „In Weiß“ durfte sie aber in einem solchen Fall nicht gehen. Jede/r im Dorf sollte sehen, was sich da schon vor der Trauung ereignet hatte. Unsere Großmutter heiratete in Weiß. Wie erwähnt, hat sie insgesamt zwölf Kinder zur Welt gebracht. Sechs starben schon als Babys oder Kleinkinder.